1: Hunger, Analphabeten und Rechtlosigkeit

26 1 2
                                    

Die Straßen von St. Petersburg liegen noch im Dunkeln, als sich ein Schatten aus der Schwärze löst. Ein Mann zerlumpten Klamotten und ohne Schuhe schleicht durch die Straßen und sieht sich um. Seine Augen suchen nach etwas essbaren, während sie gleichzeitig darauf aufpassen, dass niemand ihn sieht. Warum er sich so bedeckt halten muss? Er ist ein Dieb. Und die werden generell nirgendwo in Russland gerne gesehen. Dabei klaut er nur mal ein Brötchen oder ein Stück Käse. Von irgendwas muss er ja auch leben. Und er beklaut auch nie die armen Bauern. Wenn er stielt, dann stielt er von dem sorglosen und hochnäsigen Adel. Einmal wurde er erwischt, weshalb nun das Militär hinter ihm her ist. Plötzlich greift eine Hand aus dem Schatten nach seinem Arm und zieht ihn mit sich. Gerade noch rechtzeitig, denn da wo der Mann bis vor 5 Sekunden gestanden hat, laufen nun 3 Männer vom Militär entlang. „Bist du vollkommen irre? Um diese Zeit im Licht zu laufen ist für uns unser Todesurteil!", knurrt eine tiefe Stimme, die zu der Hand aus dem Schatten gehört. „Ich wollte schauen, wo dieser Laden von gestern ist.", antwortet der Mann und prallt plötzlich in die Person vor sich, da diese stehen geblieben ist. „Lass dich einfach nicht mehr fast erwischen! Wenn wir schon in der totalen Armut leben, wo man sich auf niemanden verlassen kann, will ich wenigstens meinen einzigen Verbündeten nicht verlieren!", knurrt die tiefe Stimme wieder und ist im nächsten Moment verschwunden. Das macht der Mann an den sich entfernenden Schritten fest. Ein leises Seufzen entkommt seiner Kehle, als ihn ein knarzendes Geräusch hochfahren lässt. Die Tür, des Hauses gegenüber geht auf und eine junge Frau tritt heraus. Ihr Kleid ist zwar nicht so zerlumpt, wie das Gewand des Mannes, allerdings auch nicht mehr das neuste. „Hey du!", ruft sie halblaut, als ihr Blick auf den Mann fällt. „Warte! Ich brauch deine Unterschrift!", hält sie ihn vom Flüchten auf. „Meine was?", fragt er verwirrt. Die Frau holt ein Blatt Papier hervor und kommt auf den Mann zu. „Deine Unterschrift. Ich habe vor eine Demonstration gegen die Ungerechtigkeit zu planen und nebenbei auch eine Petition zu starten.", erklärt die Frau ihr Vorhaben. „Ich kann, aber nicht schreiben.", meint der Mann nur und will schon gehen, als sie ihn wieder aufhält. „Ist doch nicht schlimm! Ich auch nicht! Mach einfach irgendwelche Zeichen die für dich stehen könnten.", meint sie und hält dem Mann das Blatt hin. Dieser seufzt nimmt auch die Feder zum Schreiben an und setzt einfach drei Kreuze auf das Papier. „Danke. Und heute Nachmittag auf dem Marktplatz beginnt die Demonstration. Wir hören einfach auf zu arbeiten und zeigen somit unseren Widerstand. Du kannst ja auch kommen.", lächelt die Frau noch, ehe sie verschwindet und den jungen Mann zurücklässt.

Am Nachmittag, im Hausschatten versteckt, steht der Mann und beobachtet die friedlichen Aufstände der Arbeiter und Arbeiterinnen. Plötzlich kommt das Militär. Der Hauptmann tritt vor und beginnt zu sprechen: „Alle zurück an die Arbeit! Aber sofort! Wir sind im Krieg!" Die Frau, welche in den frühen Morgenstunden den Mann angesprochen hat, tritt ebenfalls vor und antwortet: „Wir fordern Gerechtigkeit! Solange wir diese nicht haben, arbeiten wir nicht!" „Ihr habt keine Rechte! Ihr seid nur Bauern! Also ran an die Arbeit!", meint der Hauptmann nur kalt und lässt seinen Blick über die Menge gleiten. Vereinzelt stehen Kinder in der Menge, doch was kümmert es ihn. „Und zwar sofort!", knurrt er nochmal und zückt seine Waffe. Das nimmt der Mann im Schatten als Aufforderung zu verschwinden.

Russland nach dem 1. WertkriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt