Kapitel 1 - Begegnung im Schockraum

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„Sind Sie tatsächlich schon... Heilerin? Sie sehen nicht älter aus als zwanzig!»

Es war nicht das erste Mal, dass sich Jessica Reed einen Kommentar zu ihrem Alter hatte anhören müssen. Für einen Moment verspannte sich ihre Körperhaltung, doch dann löste sie ihre verschränkten Arme wieder. Sie wollte dem Vater ihres Notfallpatienten nicht einen weiteren Grund liefern, an ihr zu zweifeln. Ausserdem befand sich der Mann mit kurz geschnittenem Haar und einer hastig übergeworfenen Sommerjacke in einer speziellen Situation.

«Mr. O'Neill, in der magischen Welt ist es vollkommen normal, im Alter von dreiundzwanzig Jahren das Studium abzuschliessen. Ich bin jetzt fünfundzwanzig und damit vollausgebildet. Ihr Sohn ist also in guten Händen!»

Jess blickte auf den leicht abwesenden Sechzehnjährigen auf der Behandlungsliege, neben der Mr. O'Neill und sie standen. Sie hatte nicht gezählt, wie viele Patienten sie heute in ihrem obligatorischen Dienst in der Notaufnahme des St. Mungo Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen behandelt hatte, aber es war definitiv der erste Jugendliche mit einem Feuerwhiskey-Intox.

Sie konnte es dem Vater nicht verübeln, dass er in dieser Situation an ihr zweifelte, denn es war für ihn schon merkwürdig genug, seinen Sohn in einem Hospital für magische Krankheiten und Verletzungen abzuholen. Wie es sich herausstellte, war er ein Muggel. Jess konnte sich ungefähr vorstellen, was für ein Gesicht er gemacht haben musste, als er die teils bizarren Leiden im Wartezimmer gesehen hatte.

Mr. O'Neill hatte sich unterdessen auf einem Stuhl neben der Behandlungsliege gesetzt und Jess ging zu einer Ablage neben einem Schrank, um das Protokoll zu begutachten. Während Jess ihre Notizen zu ihrem Patienten kurz ergänzte, hörte sie, wie Mr. O'Neill leise Beschimpfungen über Feuerwhiskey von sich hin murmelte. Sie liess sich davon nicht ablenken und ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie in drei Viertelstunden Schichtende hatte und noch die Berichte über ihre Patienten abschliessen sollte. Sie dreht sich wieder zu ihrem Patienten und dessen Vater um.

«Also Mr. O'Neill, ich muss jetzt weiter, aber falls etwas ist, können Sie jederzeit eine Medihexe auf dem Gang rufen. Sorgen Sie dafür, dass ihr Sohn sich nicht auf den Rücken dreht. Er wird jetzt noch ungefähr zwei Stunden zur Ausnüchterung hierbleiben, dann können Sie beide nach Hause gehen. Falls er jetzt noch erbricht, kann er in den Eimer direkt neben der Liege. Ich bleibe noch bis um neunzehn Uhr erreichbar, danach übernimmt die Nachtschicht. Auf Wiedersehen!»

Damit nahm Jess ihr Protokoll und verliess mit wehendem limonengrünem Umhang das Behandlungszimmer. Auf dem Gang angekommen wurde ihre bewusst, wie sehr es im Zimmer nach Alkohol und vermutlich auch Cannabis gerochen hatte. Sie holte einmal tief Luft, denn es fühlte sich für sie so an, als wäre sie an die frische Luft getreten.

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Ihre Schultern verkrampften sich schon nach kurzer Zeit, nachdem sie sich an ihren Bürotisch in der Notaufnahme gesetzt hatte und damit begonnen hatte, Berichte über ihre Patienten zu Ende zu schreiben. Jeder vollausgebildete Heiler im Hospital hatte neben der Stationsarbeit gewissen Pflichtdienste in der interdisziplinären Notaufnahme, in denen erfahrungsgemäss viel los war. Somit musste Jess die Berichte aller Patienten vom Nachmittag fertig schreiben und in einen Sammelordner einordnen, denn sie hatte seit dem Mittag keine Zeit mehr dafür gehabt.

Am Ende jeder Schicht wurde der Ordner abgeholt und in das Archiv gebracht, damit die Krankenakte des entsprechenden Patienten ergänzt wurde. Dabei durfte man den Sammelordner nicht mit dem Ordner der aktuellen Patienten, die noch hier waren, verwechseln. Jess stellte sich die Bürokratie in einem Muggelkrankenhaus viel einfacher vor, da sie dort Computer hatten.

Jess würde nicht sagen, dass sie die Schichten in der Notaufnahme nicht mochte, denn dort bekam sie ein breites Feld an medizinischen Problemen zu sehen, aber an gewissen Tagen blieb kaum Zeit, etwas zu essen. Auf Station wurde sie nur in die Notaufnahme gerufen, wenn ein akuter Notfall zu ihrer Abteilung vorlag und ein ganzes Team benötigte. Normalerweise arbeitete sie auf der Fluchschäden-Abteilung im vierten Stock.

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⏰ Last updated: Dec 30, 2020 ⏰

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Zwischen Zauberstab und KnochenWhere stories live. Discover now