Kapitel 10 - In den Gassen von London

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- Sherlock -

Es war ein düsterer Tag. Die Wolken hingen schwer und mächtig über London, die Straßen lagen verlassen im schwachen Licht des Nachthimmels. Ich bog in eine einsame Gasse ein, in der Vermutung, dass ich verfolgt wurde. Zunächst nahm ich es nur oberflächlich wahr, doch mit jedem Schritt den ich tat, drängte sich das Flüstern hinter mir, mehr und mehr in den Vordergrund. Ohne mir auch nur das geringste Anmerken zu lassen ging ich weiter, blickte hier und da, verstohlen aus dem Augenwinkel nach hinten. Diese Gasse war so eng, dass nur ein Mensch hindurch passte. Ich drückte den schwarzen Mantel enger um meinen Körper. Meine Augen richteten sich auf das Ende der Gasse, wo ich vorhatte meinen Verfolger zu stellen, als ich eine am Boden kauernde Gestalt entdeckte. Im Bruchteil einer Sekunde bestimmte ich die Distanz zwischen uns und wog ab, wie ich fortfahren sollte. Mit bestimmten Tritten ging ich also geradewegs auf sie zu, meinen Häscher noch immer im Nacken. Als ich nur noch einige Schritte von der Person entfernt war, machte ich halt und musterte sie veräußerlicht. Sie trug, wie ich, einen weiten schwarzen Mantel. Mehr Auffälligkeiten konnte ich von meinem derzeitigen Standpunkt aus nicht erkennen. „Können Sie mich hören, Mister?“, fragte ich ohne jeglichen Ausdruck in meiner Stimme. Ein Mann, offenkundig. Das äußere Erscheinungsbild war groß und hager, die Beine lang und die Schultern breit, von stattlicher Statur, geschätzte 2, 10 Meter. Regungslos lag er vor mir, nur seine schwache, unregelmäßige Atmung ließ mich auf Lebhaftigkeit schließen. Gerade als ich ein weiteres Mal ansetzten wollte, ihn anzusprechen, bemerkte ich Schritte hinter mir. Blitzartig drehte ich mich um und erkannte ein mir gut bekanntes Gesicht. „Himmelherrgott, John, bist du mir etwa die ganze Zeit über gefolgt?“, fuhr ich ihn an. Sein schuldbewusster Blick reichte mir als Antwort. „Nun gut.“, bemerkte ich knapp und widmete mich wieder der Gestalt. Mittlerweile setzte seine Atmung immer öfter aus. Vorsichtig kniete ich mich zu ihm runter und sah ihn mir etwas genauer an. „Wir müssen den Notarzt rufen!“, warf John ein, was ich mit einem genervten Blick erwiderte. Glaubte er wirklich an das Überleben dieses Mannes?

„Also, was siehst du hier, John?“, fragte ich ruhig, während ich mich langsam wieder aufrichtete. „Nein, Sherlock, nicht jetzt. Wir müssen ihm helfen!“, antwortete er hastig. „Ich bitte dich. Sieh ihn dir doch mal an.“ Zur Antwort bekam ich nur ein genervtes Seufzen. „John“, drängte ich. Zögerlich begann er den Körper zu untersuchen. Nach einiger Zeit begann ich nachzuhaken: „Zu welchen Schlüssen bist du gekommen?“ Mein Blick ruhte weiterhin auf dem Mann, während meine Ohren sich nun voll und ganz auf John konzentrierten. „Ein Mann, etwa in deinem Alter, groß, muskulös. Eine Stichwunde in der Magengegend, wahrscheinlich schon ein wenig her.“, erklärte er. „Irgendwelche Auffälligkeiten?“, fragte ich eindringlich. „Hm, er hat Kratzer an Armen und Händen in relativ kleinen Abständen. Könnten von einer Katze stammen. Aber was bringt uns das weiter?“, gab er genervt zurück. „Sonst noch etwas?“, fuhr ich augenblicklich fort. „Nein, ich ka-“, er stockte einen Moment, „Er trägt den selben Mantel wie du.“, bemerkte er entsetzt. „Tatsächlich ist dies eine exakte Kopie meines liebsten Mantels. Wie du weißt, habe ich eine Menge Mäntel. Aber das ist nicht das wichtigste Detail.“, entgegnete ich ruhig. „Sherlock..“, murmelte John. „Du hast Alles richtig erkannt, bloß hast du viel zu viel übersehen. Seine Hände, John. Die vorhandenen Kratzer können unmöglich von einer Katze stammen, sind sie zu willkürlich verstreut. Es müssten mindestens 4 Kratzer nebeneinanderliegen, zu je einer Pfote. Nein, diese Kratzer stammen von Rosendornen. Siehst du seine Fingernägel? Er hat versucht die Erde herauszuwaschen aber das ist ihm nicht ganz gelungen. Und seine Haare, riech an seinen Haaren. Schiebt man sich während der Gartenarbeit die schwitzenden Haare aus der Stirn, nehmen diese einen erdigen Geruch an.“ „Gut, dann war er also Gärtner, und?“, unterbrach er mich. „Warum sollte jemand einen Gärtner töten, ihn in eine Gasse legen und ihm meine äußerlichen Eigenschaften aufbürden?“, erwiderte ich. „Weil er aussieht wie du.“, antwortete John. Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, wurden seine Pupillen weit und er sah mich besorgt an. „Es ist dir zwar aufgefallen, aber du hast es nicht wirklich wahr genommen. Es ist eine Warnung. Aber weshalb sollte sich jemand solche Mühe geben, mich zu warnen?“, erklärte ich. „Das ist doch Schwachsinn, Sherlock! Woher sollte dieser Jemand denn wissen, dass du genau in diese Gasse gehst? Viele Menschen sehen so aus wie du.“, versuchte er verzweifelt zu begründen. Allein einen ungläubigen Blick gab ich ihm zur Antwort und rief Lestrade an.

Mein Bruder, Sherlock. || BBC Sherlock FanFictionWhere stories live. Discover now