Kapitel 9

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Der nächste Morgen kommt entspannt. Ich wache auf und spüre das süße Nichts zwischen Schlaf und Wachsein. Ich schaue nach links zu Roxy - und erblicke eine zerzauste Bettdecke, jedoch keine Roxy. Das macht mich endgültig wach und ich stehe sofort auf. Es ist ungewöhnlich, dass Roxy um diese Uhrzeit schon wach und auf Beinen ist. Oder habe ich etwa so lange geschlafen? Ein Blick auf mein Handy verrät, dass das nicht der Fall ist. Ich bin sogar sehr früh aufgewacht - es ist 8 Uhr morgens.

Ich greife meinen Morgenmantel und mache mich auf den Weg nach unten. Im gehen auf der Treppe ziehe ich den pinken Morgenmantel an. Als ich um die Ecke laufe bietet sich mir ein komisches Bild. Henri sitzt am Esstisch. Seine Ellenbogen auf den Tisch gestürzt und den Kopf in die Hände geworfen. Sein Blick nach unten gerichtet. Hinter ihm steht Olivia. Eine Hand an die Stirn gelegt, als täte ihr der Kopf unfassbar weh. Die andere fürsorglich und doch hilflos auf Henris Schulter gelegt. Neben Henri sitzt Roxy. Maxwell sitzt eng neben ihr und hält ihre Hand. Ich ahne Böses. Roxy blickt zu mir auf. Aber sie sagt nichts. Mir fällt auf, dass Rose und Lizza nicht da sind. In mir steigt Panik auf.

"Wo ist Rose?", frage ich wie aus der Pistole geschossen.

Doch dann taucht sie auch schon neben mir auf. Gefolgt von Lizza. Ich werde aus der Situation nicht schlau. Der Tisch blickt mich an. Aber es folgen wieder keine Worte. Henri schaut mich am längsten an. Ich drehe mich zu Rose.

"Was ist los?", frage ich sie.

Rose schluckt. Ich drehe mich wieder zum Tisch. Henri schaut mich an ehe er sich wieder auf die Hände stürzt. Ich schüttele meinen Kopf.

"Um wen geht es.", frage ich.

"Henris Dad.", sagt Rose endlich. "Er liegt im Koma"

Mir schnellt der Kiefer nach unten. Mit offenem Mund starre ich in die Runde. 

"Ein Autounfall.", fügt Rose hinzu.

"Wann fliegt ihr?", frage ich Olivia.

"Wir haben gerade am Flughafen angerufen. Sie suchen uns den schnellsten Flug raus.", antwortet Olivia.

Henri steht plötzlich auf.Ich laufe ihm hinterher. Er läuft die Treppe hoch. Ich laufe ebenfalls die Treppe hoch. Er läuft in Maxwell und sein Zimmer. Er schließt die Tür hinter sich nicht. Ich laufe mit ihm rein. Er setzt sich auf die Bettkante. Ich setze mich neben ihn. Erst sitzen wir eine Weile nur so da. Bis er meinen Namen mit so viel Schmerz ausspricht, dass ich meine Arme um ihn schlinge. So halte ich ihn eine ganze Weile an mich gedrückt. Sein Kopf auf meine Schulter gebettet. Ich bin mir nicht sicher, ob er meint oder einfach nur da sitzt. Aber meine Gedanken drehen sich nur um eins: Ich möchte nicht mehrere tausend Kilometer von Henri entfernt sein.

"Ich möchte mit dir nach London kommen.", flüstere ich.

Henri schaut zu mir hoch. In seinen Augen erkenne ich einen Blick wieder. Dann nickt er.

Die Stunden darauf geht alles ganz schnell. Wir packen alle unsere Koffer. Rose war natürlich von Anfang an der Meinung, dass es für sie sofort nach London gehen soll. Das Roxy und ich mit wollen überraschte sie, aber sie willigte sofort ein uns mit fliegen zu lassen. Auch Maxwell und seine Mutter entschlossen sich dafür mit uns zu kommen anstatt auf Ibiza zu bleiben oder zurück nach L.A. zu fliegen. Im Flugzeug sitze ich zwischen Henri und Roxy. Henri sitzt am Fenster, durch das er die ganze Zeit durch starrt. Ich weiß, dass es keine Worte gibt, die in so einer Situation wirklich helfen. Deswegen bin ich froh, als er meine Hand nimmt. Er drückt sie so fest, dass ich meine nur ganz zart in seiner liegen lasse. Stunden lang hält er sie so, während er dabei aus dem Fenster starrt. Ich frage mich, was er wohl denken muss. Ich erinner mich daran, wie Roxy war, als ihr Vater Rose und sie verlassen hat. Sie saß Stunden lang auf ihrem Bett. Hat an die Wand gestarrt. Nicht mit mir geredet. Noch nicht einmal geweint hat sie. Bei den wirklich schmerzlichen Dingen können wir oft nicht weinen. Viel mehr tritt eine Leere ein, die umso schmerzlicher ist. Nicht jeder rastet wie Holly Golightly aus. Wobei ich mir vorstellen kann, dass das nicht die schlechteste Art ist mit Schmerz umzugehen. Ich schaue Henri lange an. Dann höre ich Musik. Lesen kann ich nicht, da Henri meine rechte Hand schließlich hält. Und ich bin froh darüber. Ich bin froh, dass ich für ihn da sein kann. Ich weiß, dass einfach nur da sein oft das wichtigste ist. Den anderen wissen lassen, das man da ist - und bleibt. Das ist nichts, was man mit Worten ausdrücken kann. Olivia wirkt ähnlich wie Henri. Distanziert und kühl. Sie hält keine Hand. Dafür drückt sie ein Kissen in ihren Händen. 

Als das Flugzeug landet dreht Henri sich zu mir. Er schaut auf unsere Hände und zu mir hoch. Er wirkt, als wüsste er nicht so ganz, ob jetzt dreißig Minuten oder fünf Stunden vorbei sind. Der Druck um meine Hand wird allmählich schwächer und so drücke ich seine Hand kurz. Er lächelt. 

In London angekommen machen Olivia, Rose und Henri sich direkt auf den Weg ins Krankenhaus. Die anderen und ich sollen schon vor zu den de Vidals nach Hause. Lizza bestellt etwas bei einem Italiener zu essen, den wir dank Google finden. Während wir auf die drei warten herrscht eine Stille. Die Art von Stille, die eintritt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Ich schätze, dass keiner von uns weiß, was er jetzt sagen soll. Wir sitzen gerade am Esstisch, die Bestellungen vor uns gestapelt, als es an der Tür klingelt. Roxy öffnet die Tür und lässt die drei rein. Lizza fängt an den Tisch zu decken. Ich schaue einfach nur nach Henri. Er kommt direkt zu mir. 

"Seine Lage ist stabil.", sagt er, während er sich neben mich setzt. Lizza setzt uns beiden einen Teller auf den Tisch. Wir öffnen alle Bestellungen und jeder nimmt sich worauf er Lust hat. Dabei scheine ich ausnahmsweise nicht die einzige ohne Appetit zu sein. Wir stochern alle eher in unserem Essen rum. Nach einer Weile sagt Henri, dass er hoch will. Ich entschuldige mich ebenfalls. Es ist mir egal, was die anderen denken. Ich möchte jede Sekunde für Henri da sein. Die Treppe hoch nach links landen wir in seinem Zimmer. Es ist größer als meins. Komplett schwarz-weiß und grau gehalten. Aber es sind überraschend viele Bilder in seinem Zimmer. Auf einem erkenne ich Lauren wieder. Auf dem Bild steht eine blonder Junge zwischen Henri und Lauren. Ein anderes Bild zeigt Henri mit seinem Vater und Olivia. Wieder ein anderes Henri alleine mit dem blonden Jungen von dem Bild mit Lauren. Henri steht mitten im Raum. Er schaut mich an. Dann ganz langsam läuft er auf mich zu. Bis er vor mir steht und ich nur noch einige Zentimeter von ihm weg stehe. Dann falle ich ihm in die Arme. Er schlingt seine ARme um mich und senkt seinen Kopf auf meine Schulter. 

Ich weiß nicht, wie lange wir so da stehen. Nach einer Weile klopft es an der Tür. Einige Sekunden später öffnet sie sich und Roxy und Maxwell stehen da. Henri und ich lösen uns leicht aus der Umarmung, so dass wir beide an die Tür schauen können. 

"Wir haben eure Filmsammlung durch geschaut und die Besten raus gesucht. Was haltet ihr von einem Filmabend?", sagt Roxy.

"Das ist eine tolle Idee.", antwortet Henri.

Wir holen uns von unten Tee und machen es uns zu viert auf Henris Couch gemütlich. Der erste Film wird eingelegt und ich nehme gerade einen Schluck von meinem Karamell-Tee, als Henri mich von links ansieht. Ich schaue zu ihm und lehne mich ein Stück zu ihm, weil er aussieht, als wollte er etwas sagen.

"Kannst du mit einer Hand Tee trinken?", fragt er. 

Sofort löse ich eine Hand von meiner Tasse und lege sie auf die Henris.


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