Tagebuch und apokalyptische Pseudowelt - Kapitel 4.4

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Tagebuch und apokalyptische Pseudowelt - 4.4

»Beruhige dich, Opa«, sage ich beschwichtigend und lehne meinen Kopf an die Wand. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass ich ihn in solch einer Verfassung erlebe. Opa wird im Mai einundsiebzig Jahre alt und auch wenn ich es mir nur ungern eingestehe, weiß ich, dass er allmählich durchdreht. Alles begann wie bereits erwähnt vor etwas mehr als einem Jahr, kurz nach Omas Tod. Davor haben sich die Symptome nur gelegentlich bemerkbar gemacht. Solange Oma da gewesen war, hatte sie stets ein wachsames Auge auf ihn geworfen. Doch während des letzten Jahres hat sein Erinnerungsvermögen einen herben Riss bekommen und schwindet von Tag zu Tag. Seit Kurzem wirkt er besonders gereizt und irgendwie ruhelos. Anfangs zeigten die Sitzungen bei Frau Lorenz kleine Erfolge. (Mathilda Lorenz ist Großvaters Psychiaterin und eine höchst gewöhnungsbedürftige Person. Ihre Augen sind fade. Ihre ganze Ausstrahlung wirkt fade. Durch und durch.) Aber nun? Auch deshalb beschäftigt das Thema Altersheim meine Eltern von Tag zu Tag mehr. Manchmal bereden sie das Problem offen, aber nur allzu oft schleicht es sich zwischen die Zeilen, tropft dann mit ihren Andeutungen in die Stille und schaukelt sich an den Wänden zu einem stummen Streitgespräch empor. Sie haben Angst, dass Opa sich selbst in ernsthafte Schwierigkeiten manövrieren könnte. Ich halte vehement dagegen, weil ich genau weiß, wie gerne Opa in seinem alten Haus bleiben möchte und wie fit er körperlich ist. Zudem befürchte ich, dass ihn solche Zukunftsaussichten noch weiter in diese apokalyptische Pseudowelt treiben, dass er noch mehr vor der Realität flüchten würde.

Ich schließe die Augen und höre zu, wie er mich anfährt:

»Und was mache ich, wenn sie in mein Haus einbrechen? Schon mal daran gedacht? Hä? Was dann? Sag schon! Soll ich sie mit einem Besenstiel in die Flucht schlagen?«

»Dir passiert schon nichts, versprochen.« Abermals versuche ich, ihn zu besänftigen. »Was hältst du davon, wenn ich nach der Schule bei dir vorbeikomme? Dann können wir quatschen und Karten spielen. Oder soll ich dir einen Film -«

»Nein, Zara, nein!«, unterbricht mich Opa. »Mach das nicht! Halt dich ja fern von mir!«

Ich höre seine Stimme, doch da ist noch mehr. Ein leises Vibrieren, das sich in seinen Worten versteckt. Ich weiß, was es ist. Furcht. Blanke Furcht. Und plötzlich läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Ich reiße meinen Blick vom Klassenzimmer los und schaue aus dem Fenster. Die alte Fichte mit ihren gewaltigen Zweigen weht unruhig hin und her. Als zerre eine unsichtbare Macht an ihr.

»Was, wenn es eine Falle ist?«, wispert Opa so eindringlich, dass ich gewillt bin ihm für einen Augenblick zu glauben. »Ich, der billige Köder, um dich zu kriegen? Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn sie dich holen. Und alle werdet ihr vergessen, genau wie damals ...«

Redet er wieder von Omas Tod? Keiner hat das vergessen. Ich begreife nicht, was er sich da ständig für einen Unfug zusammenreimt. Es tut weh zu realisieren, dass Opa nicht mehr der Alte ist. So weit ich mich zurückerinnern kann, war mein Großvater der bezauberndste und zugleich geheimnisvollste Mensch überhaupt. Ich wollte immer so sein wie er. Er ist in der Nachkriegszeit aufgewachsen, hat lange Jahre in Frankreich gelebt, wo er meine Oma kennenlernte. Er wusste alles über Geschichte, wusste sowieso immer auf alles eine Antwort, erzählte die schönsten und buntesten Gutenachtgeschichten, war schon immer ein Erfindergeist und besaß die Gabe, den langweiligsten Bildern in meinem Kopf Leben einzuhauchen. Wann immer ich bei meinen Großeltern zu Besuch war, bestürmte ich ihn damit, etwas für mich zu bauen, denn dabei verzauberte er mich mit Reiseanekdoten aus seinem Leben, so als wären es magische Abenteuer.

»Wir vermissen Oma auch, aber sie war schwer krank«, beginne ich, doch er faucht dazwischen.

»Nein, da ist eine Verschwörung im Gange. Gehirnwäsche! Kapierst du das immer noch nicht?!«

Irgendwas stimmt hier nicht. So aggressiv hab ich Opa bisher selten erlebt.

»Opa, es ist alles okay«, sage ich und es entgeht mir nicht, dass meine Stimme zittert. Ich klinge alles andere als beruhigend. »Vielleicht ist es doch besser, wenn ich kurz vorbeikomme.«

»Nein. Nein. Nein! Bleib weg! Weg von meinem Haus!«

Opas Stimme bebt und ich gebe keine Antwort. Keineswegs weil ich eingeschüchtert bin, nein: weil ich mich längst entschieden habe.

»Noch etwas, Zara: Vertraue niemandem! Hörst du? Keiner Menschenseele!«

Ich lehne wieder den Kopf an die Wand und stöhne auf.

»Zara, hast du gehört?«, fragt er ungeduldig nach, als ich nicht gleich reagiere. »Versprich es mir.«

»Okay, okay. Ich versprech's.«

»Ich werde schon mit ihnen fertig, Kind.« Erst jetzt realisiere ich, dass Opa wie ein Irrer mit hektischen Schritten durchs Haus rennt. Ich höre, wie er immerzu etwas murmelt, Möbel verrückt, Türen aufreißt und wieder zuschlägt. Er verliert offenbar wirklich den Verstand. »Wenn ich nur dieses verdammte Tagebuch finden könnte. Aber Moment mal, vielleicht ist es ja bei euch Zuhause?«

»Opa, hör mir zu«, sage ich, weil ich ihm klarmachen muss, dass er bleiben soll, wo er ist, aber er scheint mich gar nicht mehr wahrzunehmen. »Opa?!«, rufe ich ziemlich energisch.

Mit einem Mal poltert es so laut am anderen Ende der Leitung, dass ich das Handy ein Stück vom Ohr weghalten muss. Gleichzeitig macht mein Magen Anstalten, sich einmal um sich selbst zu drehen.

»Scheiße!« Mehr sage ich nicht, klemme das Handy zwischen Ohr und Schulter und schnappe mit einer hektischen Handbewegung meine Umhängetasche.

Ich muss zu Opa. Und zwar sofort.

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Uiuiuiiii ... da habe ich euch wirklich laaange (viel zu lange!!) auf den nächsten Teil warten lassen - entschudligt bitte! Ging bei mir leider einiges drunter und drüber, aber nun bekommt ihr endlich den 4. teil des 4. kapitels. Ich hoffe, er gefällt euch und ich freue mich schon jetzt auf eure Reaktionen und Kommentare ❤️❤️❤️

PS: Diese Illustration von Zaras Opa ist wirklich die einzige, mit der ich absolut und gar nicht zufrieden bin *bäh* Aber ich zeige sie euch trotzdem :))

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 31, 2015 ⏰

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