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Wenige Minuten später erreiche ich die Tür zu Penkos Zimmer. Ich bekomme einen riesigen Schreck, als sich dort eine Gestalt aus den Schatten löst und unterdrücke einen Schrei.

„Psst, ich bins doch nur!", wispert Emmy und greift nach meiner Hand. „Komm!"

Sie öffnet leise die Tür und zieht mich mit sich in den Raum. Das Deckenlicht ist gelöscht, doch der Mond scheint durch die hohen schmalen Fenster und wirft sein silbriges Leuchten über die Einrichtung. Soweit ich im Halbdunkel erkennen kann, ist das Zimmer sehr viel schlichter eingerichtet als meins, was mich nicht wundern sollte, mir aber dennoch einen Kloß im Hals beschert. Nicht aus schlechtem Gewissen – sondern aus Neid.

Fünf schmale Betten stehen hier, doch sie sind leer, die Decken zerknüllt und zurückgeschlagen. Neben jedem Bett ist ein kleines Nachtkästchen, außerdem gibt es noch zwei große, klobige Schränke, eine Kommode und eine wuchtige altmodische Standuhr. Das wars. Keine Bilder, keine Dekoration, kein Schnickschnack. Nur das nötigste, aber dafür menschliche Gesellschaft. Und die ist unbezahlbar.

Aber wo ist sie jetzt? Mir war klar, dass das Zimmer für dreihundert zu klein sein würde, aber hier hätten nicht einmal zwanzig Platz – und in diesem Moment bin ich mit Emmy allein. Ich runzle die Stirn.

„Ich verstehe nicht ganz ...", sage ich, doch sie grinst nur und schleift mich erneut mit sich – in Richtung der großen Uhr.

„Du wirst es gleich verstehen", verspricht sie, löst ein Häkchen an der Seite und eine Tür unter dem Ziffernblatt schwingt auf. Dahinter kommt eine Art Loch zum Vorschein, etwa einen Meter hoch, einen halben Meter breit, doch ich kann nicht erkennen, was sich darin befindet; es ist zu dunkel.

„Los, rein da", flüstert Emmy und drängt mich in die Luke. Kurz wallt Panik in mir auf. Was hat sie vor, will sie mich hier einsperren? Mein Herz rast und ich versuche, zurückzukrabbeln, doch sie kommt schon hinter mir her und schiebt mich tiefer in das Loch hinein.

„Los, weiter", schnauft sie, „meine Güte, ist das anstrengend, Penko braucht dringend mal eine neue Uhr! Eine, die für etwas größere und breitere Leute gemacht ist."

Ich kapiere überhaupt nichts, krabble aber mit wild klopfendem Herzen weiter und stelle fest, dass das Loch sehr viel länger ist, als es sein sollte. Ich scheine mich in einer Art Tunnel zu befinden, doch nachdem Emmy die Tür hinter sich verschlossen hat, ist nur noch Schwärze um mich herum.

Einen Augenblick später ist es jedoch bereits vorbei. Kurz habe ich das schreckliche Gefühl, mein Gesicht in eisigkaltes Wasser zu tauchen, doch der Moment dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten Moment werde ich von grellem Licht geblendet und kneife die Augen zusammen, dann dringt ohrenbetäubender Lärm an mein Ohr und ich stolpere nach vorne, weil Emmy von hinten gegen mich taumelt.

Starke Arme fangen mich auf und als ich die Augen endlich öffne und ins Licht blinzle, stelle ich überrascht zwei Dinge fest.

Erstens: Penko hat mich aufgefangen. Das blonde Haar steht ihm wie am Nachmittag in alle Richtungen, ein verschmitztes Grinsen liegt auf seinem sommersprossigen Gesicht.

Und zweitens: Hier ist die Hölle los. Ich bin in einem Raum gelandet, der ungefähr so groß ist wie der Speisesaal und auch ähnlich aufgebaut, aber doch ganz anders aussieht. Nicht so bieder, nicht so förmlich – und vor allen Dingen nicht normal. Dreihundert Studenten feiern, was das Zeug hält. Mehrere Tische wurden in Reihen aufgestellt, an einer Wand steht ein breiter Buffet-Tisch, der sich unter verschiedenen Speisen biegt. Im Gegensatz zum Speisesaal ist die Stimmung hier allerdings ausgelassen. Die Studenten tanzen zur Musik, die durch den Raum dröhnt, unterhalten sich, essen im Sitzen oder im Stehen. Ein paar sitzen auch auf den runden Sofas, die wie kleine Inseln in der Halle verteilt stehen, und knutschen hemmungslos. Etwas beschämt wende ich den Blick ab, nur um zu sehen, wie Penkos Grinsen noch ein wenig breiter wird. Erst jetzt registriere ich, dass ich mich noch immer an seinen Armen festklammere.

Ich lasse ihn los, als hätte ich mich an ihm verbrannt.

„Ähm, danke", stammle ich. „Fürs Auffangen."

„Jederzeit."

Unsere Blicke treffen sich und für einen kurzen Augenblick bin ich wahnsinnig verlegen. Dann erscheint endlich Emmy neben mir und löst den seltsamen Moment auf.

„Ich wünschte, du wärst nicht auf Uhren geprägt, sondern auf Schränke", jammert sie. „Diese winzige Luke macht mich jedes Mal fertig."

„Tut mir leid", sagt Penko und endlich kapiere ich.

„Du hast das hier gemacht?" Ich reiße die Augen auf und starre ihn fassungslos an. „Ich meine ... Wow!"

Penko grinst. „Das würdest du nicht sagen, wenn du wüsstest, wie lange ich gebraucht habe, um das herauszufinden", sagt er. „Jahrelang war mir nicht klar, wofür ich diese Art Magie nutzen könnte. Meistens habe ich damit nur meine Brüder veräppelt, indem ich die Uhren verstellt habe, bis ich bei meinem Onkel mal eine dieser Standuhren gesehen und festgestellt habe, dass da noch mehr geht."

„Also ... kannst du jede Standuhr in einen geheimen Raum verwandeln?"

„Sofern sie eine Tür hat, ja."

„Das ist Wahnsinn!" Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und nehme jetzt noch mehr Details in mir auf: Die bunten Girlanden, die die Wände verzieren, die riesige Glaskugel, die an der Decke schwebt und bunte Leuchtpunkte im ganzen Raum verteilt, der Regenbogen, der sich quer durch die Halle spannt, tropische Bäume, die einfach so aus dem Parkett wachsen, der rauschende Wasserfall an der hinteren Wand. Ich bin wie hypnotisiert.

Penko kratzt sich ein wenig verlegen am Hinterkopf. „Na ja, also ... ich hoffe, es gefällt dir. Zugegeben, es ist immer ein bisschen komisch, neue Leute hier reinzulassen. Es ist, als würde ich euch alle in meinen Kopf sehen lassen."

„Ich liebe es", sage ich. „Es ist einfach der Wahnsinn! Können wir nicht einfach immer hierbleiben?"

Penko lacht. „Das geht leider nicht. Länger als ein paar Stunden reicht meine Magie nicht, du weißt ja ..."

Ja, ich weiß. Er muss sie am Sonnenlicht füllen, so wie ich meine Magie füllen muss. Trotzdem, die Vorstellung, an einem solchen Ort leben zu können, ist traumhaft.

„Und von außen hört man überhaupt nichts", hauche ich. „Unglaublich!"

„Du musst Saranja sein", ertönt eine Stimme neben mir und ich drehe mich um. Ein anderer Junge ist neben Penko aufgetaucht, einen halben Kopf größer und muskulös gebaut. Das braune Haar ist bis auf wenige Millimeter kurz geschoren und der breite Kiefer und die breite Stirn verleihen ihm zusammen mit seiner Statur etwas Einschüchterndes, aber seine Augen sind klug und warm. „Ich bin Orion."

Er reicht mir seine Hand und ich ergreife sie lächelnd.

„Orion ist im dritten Jahr", erklärt Penko. „Und er gibt Nachhilfe in Zyldarin, Yvrisch, falls du jemals darüber nachdenken solltest, die diesen Stress anzutun."

„Gut zu wissen."

Die nächste halbe Stunde schüttle ich mehr Hände als bei jeder Auslandsreise mit Vel.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 19, 2023 ⏰

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