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„Du hättest mich vorwarnen müssen!" beschwere ich mich bei Vel, während wir durch die Straßen von Londaris schlendern. Meinen Koffer habe ich in meiner neuen Wohnung deponiert und lediglich eine Garnitur Wechselkleidung und meine Kosmetiktasche in eine meiner etwas größeren Handtaschen gestopft, die ich nun mit mir trage. Diese erste Nacht werden wir noch gemeinsam im Hotel verbringen, aber bereits morgen reist meine Schwester wieder ab und ich ziehe in meine neue Wohnung. Bis es so weit ist, wollen wir unsere Zeit zusammen noch möglichst genießen und sie hat versprochen, mir die interessantesten Orte der Stadt zu zeigen. Angefangen haben wir mit der ihrer Meinung nach besten Eisdiele der Stadt und während sie mir eine kleine Führung durch den Park und die Einkaufsmeile gibt, genieße ich eine interessante Kreation aus Himbeereis mit Regenblumentau. Sie schmeckt himmlisch.

„Dann hättest du nur einen riesigen Aufstand gemacht", sagt Vel lachend. „Komm schon, Anja. Genieß es doch einfach!"

„Du sagst selbst immer, dass Bescheidenheit wichtig ist", empöre ich mich, während wir in eine schmale Gasse einbiegen, deren Boden mit groben Kopfsteinen gepflastert ist. Verschiedene Pubs und Restaurants befinden sich hier und hinter den geöffneten Fenstern höre ich lautes Stimmengewirr und ausgelassenes Gelächter.

„Ist sie auch", entgegnet Vel, „und du darfst auch weiterhin bescheiden sein, aber glaub mir, du wirst diese Wohnung noch zu schätzen wissen. Ich musste mir selbst ein Mehrbettzimmer mit fünf anderen teilen und das ist manchmal wirklich hart. Ich habe dir einen Gefallen getan."

„Es fühlt sich nicht so an" murmle ich.

Vel bleibt stehen und sieht mich eindringlich an. „Die Akademie ist toll, okay? Du wirst dort die Zeit deines Lebens haben, aber Privatsphäre, so wie du sie von zuhause kennst, gibt es in den normalen Zimmern nicht. Dort bist du nie allein, nichts bleibt verborgen und vor allem hast du niemals deine Ruhe. Was ist, wenn du deine Mitbewohnerinnen nicht leiden kannst?"

„Ich kann jeden leiden", widerspreche ich. Das ist nicht die ganze Wahrheit, aber auch nicht ganz gelogen. Natürlich komme ich mit manchen Leuten besser aus als mit anderen, aber in meinem ganzen Leben ist es noch nicht vorgekommen, dass ich jemanden wirklich gehasst habe. Und Privatsphäre ist nun wirklich das letzte, wonach ich mich sehne. Um ehrlich zu sein, hatte ich in den letzten Jahren viel zu viel davon. Vel war ständig auf Reisen, oft hat sie mich mitgenommen, als ich älter wurde und auch mal einige Tage allein bleiben konnte, blieb jedoch meist zuhause. Doch Menschen in unserem Alter waren in Delerani selten und ohnehin waren wir zu oft unterwegs, als dass ich enge Freundschaften hätte knüpfen können. Was ich mir wirklich wünsche, das ist Gesellschaft.

„Und was ist, wenn sie dich nicht mögen?", setzt meine Schwester nach.

Kurz erschrecke ich. „Warum sollten sie mich nicht mögen?"

Vel zuckt die Achseln. Eine Spur Besorgnis hat sich in ihren Blick geschlichen und sie runzelt die Stirn. „Weißt du, manche Leute haben Vorbehalte gegen uns Mondmagier ... und ganz besonders seit ... na, du weißt schon."

Mir wird ein bisschen schwindelig. Natürlich habe ich mitbekommen, was in den letzten Wochen los war, habe in den Nachrichten davon gelesen. Von der Gruppe Selenen, die ihre Kräfte für das Böse eingesetzt hat, von all den anderen, die dabei gestorben sind. Und von den Stimmen, die danach laut wurden, dass Mondmagie verboten werden sollte, aber ...

„Das sind doch nur ein paar Spinner", murmle ich. „Nicht das, was die Allgemeinheit denkt. Vielleicht wäre es sogar ganz nett, wenn mich nicht immer alle so behandeln würden, als wäre ich eine Prinzessin, nur weil ich aus einer Familie mächtiger Mondmagier stamme."

Vel legt eine Hand auf meine Schulter. „Ich will nur, dass es dir gut geht, okay? Deine Zeit bei Mr Winterbourne wird ganz großartig werden. Du wirst nie wieder von dort wegwollen, wirst die tollsten Sachen erleben und ganz wunderbare Freunde finden. Ich bin mir absolut sicher. Aber nur für den Fall, dass ... Ich weiß auch nicht, dass es vielleicht doch nicht so gut funktionieren sollte. Dann hast du einen Rückzugsort, nur für dich."

„Ein etwas kleinerer Rückzugsort hätte es auch getan", sage ich und zwinge ein Lächeln auf meine Lippen. „Ich weiß das zu schätzen, Vel, wirklich. Aber ich möchte das nicht. Und hast du überhaupt mal dran gedacht, was das für einen Eindruck machen wird? Wenn es wirklich so ist, wie du sagst, und manche Leute mich aufgrund meiner Herkunft nicht mögen werden, wie wird das denn erst sein, wenn die anderen sehen, dass ich bevorzugt behandelt werde? Glaubst du nicht, dass das zu Neid und Missgunst führt?"

Vel seufzt. „Wenn es dir so wichtig ist, rede ich noch einmal mit Mr Winterbourne. Es kann aber sein, dass es eine Weile dauert, bis du ein anderes Zimmer beziehen kannst, nach dem, was ich gehört habe, sind die meisten Betten schon belegt."

„Das wäre nett", sage ich. Erleichterung durchströmt mich. „Und es macht mir nichts aus, zu warten."

„Du bist echt ganz schön stur, weißt du das?" Vel schüttelt den Kopf, während wir weiterschlendern und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt, wo diese Sache geklärt ist, fühle ich mich schon ein bisschen wohler in meiner Haut.

„Das habe ich von meiner großen Schwester", entgegne ich, und sie boxt mich in die Seite.

What happened at Winterbourne AcademyWhere stories live. Discover now