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Zimmer ist nicht das richtige Wort für das, was sich mir hier bietet. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Was vor mir liegt ist fast genauso groß wie das Haus, in dem ich mit Vel zusammen in Delerani gelebt habe.

„Wow!", stößt meine Schwester aus. „Es ist unglaublich!"

Das stimmt allerdings. Nur, dass ich es lieber nicht glauben würde.

„Es sieht aus wie in einem Schloss!", stoße ich hervor. Vorsichtig gehe ich hinein und sehe mich um. Wir befinden uns auf derselben Seite wie unten im Büro und auch hier geben unzählige der schmalen hohen Fenster den Blick nach draußen frei. Nur dass es von hier oben ungleich beeindruckender ist, denn vor mir erstreckt sich eine atemberaubende Sicht über die Dächer von Londaris.

Ich reiße den Blick los und lasse ihn stattdessen durch den Raum schweifen. Ein Bett suche ich vergebens, doch dann fallen mir drei weitere Türen ins Auge. Ich habe nicht nur ein Zimmer bekommen, sondern eine komplette Wohnung! Und das hier scheint nur das Wohnzimmer zu sein.

An der Wand, die den Fenstern gegenüberliegt, befindet sich ein Kamin, in dem jedoch kein Feuer brennt; das ist kein Wunder. Es ist zwar bereits Anfang September, doch der Herbst lässt noch auf sich warten. Draußen flirrt die Hitze.

An einer der Wände stehen eine Art Vitrine, die mit ein paar hübschen Skulpturen aus weißem Porzellan und einem mit Blumenranken verzierten Teeservice gefüllt ist, daneben ein schmales Sideboard. Ein bunter Blumenstrauß in einer Kristallvase wurde darauf arrangiert. In der Mitte des Zimmers ist ein runder Tisch, sechs Stühle stehen darum herum. Es gibt außerdem ein Radio, einen kleinen Schreibtisch, mehrere Pflanzen, ein prall gefülltes Bücherregal und einen Schaukelstuhl davor, auf dem sich ein paar hellbraune Decken stapeln.

Der Boden – hier ebenfalls aus nussbraunem Parket – wird von mehreren flauschigen Teppichen in Blau- und Grüntönen geziert. Allgemein sind Blau, Grün und Braun die dominierenden Farben in diesem Raum. Ein Großteil der Wände ist weiß gestrichen, dazwischen hängen Fotografien von Londaris, hauptsächlich vom Fluss Themin und von irgendeinem sommerlichen Park. Ein weiterer Blickfang ist ein breiter Streifen einer blau-grünen Tapete mit goldenen Blumenranken zwischen zwei Türen an der vierten Wand, was das Gefühl, sich in einem Schloss zu befinden, noch verstärkt.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Schlafzimmer", sagt Mr Winterbourne. Seine Stimme überschlägt sich förmlich vor Eifer. Zögerlich gehe ich hinter ihm her, nicht ohne jedoch noch einmal einen Blick auf Vel zu werfen. Die wirkt überglücklich und inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass ich diese Wohnung und das ganze Drumherum ihr zu verdanken habe. Ich werde definitiv noch einmal mit ihr reden müssen. Fast bin ich ein wenig enttäuscht; zum einen, weil sie mich nicht auf das hier vorbereitet hat, zum anderen frage ich mich aber auch unwillkürlich, ob sie mich denn wirklich so schlecht kennt? Sie hätte doch wissen müssen, dass sowas nicht in meinem Interesse ist. Ich werde hier ohnehin auffallen wie ein bunter Hund, muss dann noch ein solches Zimmer sein?

Die Tür zum Schlafzimmer schwingt auf und ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke.

Der Raum ist riesig und hell, und, wie das Wohnzimmer, in Braun, Blau und Grün gehalten. Dünne weiße Vorhänge flattern vor den geöffneten Fenstern im Sommerwind, von draußen dringen Vogelgezwitscher und entfernte Stimmen an mein Ohr, der Duft nach Kaffee und Croissants dringt zu uns herauf. Ich erinnere mich, dass wir zwei Straßen weiter an einer kleinen Bäckerei vorbeigekommen sind.

Das ist es jedoch nicht, was mich so aus der Bahn geworfen hat, sondern das riesige Bett, das in der Mitte des Zimmers – man kann es nicht anders nennen – thront. Es ist kein normales Bett, nicht einmal ein Doppelbett. In diesem Monstrum hätten mindestens sechs Leute Platz und unwillkürlich muss ich an Vels Spruch über Sex und ausschweifende Partys denken. Was zur Hölle glaubt sie, dass ich hier tun werde ...?!

„Das ist ..." Ich möchte etwas sagen, doch mir fehlen die Worte.

„Für einen erholsamen Schlaf, wie er Prinzessinnen gebührt", vervollständigt Mr Winterbourne meinen Satz lächelnd.

„Nein", stoße ich hervor. „Nein, hören Sie auf damit!"

Mit einem Mal ändert sich seine Haltung. Er versteift sich und presst die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.

„Wie bitte?"

„Ich meine ...", stammle ich, „... ich meine, ich möchte nicht anders behandelt werden als die anderen Studenten. Bitte. Und ich bin auch keine Prinzessin, bitte nennen Sie mich nicht so. Ich brauche doch nicht so ein riesiges Bett. Und auch nicht so eine riesige Wohnung, ich will nur ..."

„Sie sind genauso bescheiden wie ihre Schwester und genauso bescheiden, wie es ihre Eltern waren", sagt Mr Winterbourne. Inzwischen hat er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle, doch die Enttäuschung ist ihm deutlich anzusehen. „Und das ehrt Sie. Es tut mir leid, dass die Räumlichkeiten nicht Ihren Vorstellungen entsprechen."

Hitze schießt mir in die Wangen. „Die Räumlichkeiten sind wundervoll, ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber ..."

„Dann ist es ja gut", unterbricht er mich. „Sie werden sich sicher daran gewöhnen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Bad. Und den Kleiderschrank. All Ihre Kleider aus Delerani sind bereits angekommen und unsere Dienstboten haben sie aufgehängt. Ihren Koffer können Sie gleich hierlassen, wenn sie möchten."

Ich folge dem Institutsleiter und meiner Schwester in die weiteren zwei Räume, bewundere das riesige Bad, die aufwändig verzierten Fliesen, die Badewanne, die eigentlich eher sowas wie ein Pool ist. Werfe einen Blick in den begehbaren Kleiderschrank, stelle fest, dass zu meinen eigenen Sachen noch ein ganzer Haufen neuer Kleider dazugekommen ist, und fühle mich dabei wie betäubt.

„Wir haben uns erlaubt, Ihre Garderobe noch ein wenig aufzustocken", sagt Mr Winterbourne jetzt und schielt dabei zu meiner Schwester. „Ich hoffe, unsere Auswahl trifft Ihren Geschmack."

Mit den Fingern fahre ich über die feinen Stoffe. Tüll und Seide, Samt und Satin in den verschiedensten Farben. Ich sehe Perlen und Kristalle und versuche, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.

„Sie sind wunderschön", würge ich hervor und es ist die Wahrheit.

Natürlich möchte ich nicht undankbar sein, was Mr Winterbourne für mich tut, ist unglaublich nett. Warum fühle ich mich dann so unwohl dabei?

Als wir mit meinem Zimmer fertig sind, gehen wir noch ein Stockwerk tiefer die Empore entlang, an all den verschlossenen Türen vorbei, wo all die anderen Studenten untergebracht sind, und mit einem Mal fühle ich mich unfassbar einsam. Morgen wird Vel wieder abreisen und ich werde hier allein sein. Allein in einer Wohnung, die viel zu groß für mich ist, während alle anderen ein Stockwerk unter mir zusammen sein dürfen. Ich bin noch nicht einmal richtig angekommen und bereits jetzt eine Außenseiterin.

Wir passieren die Türen, die zu den Klassenzimmern führen, und ich höre das rege Treiben dahinter.

„Gerade sind alle in den ersten Vorlesungen", informiert mich Mr Winterbourne. „Den ersten Tag haben Sie ja nun leider verpasst, aber das macht nichts. Morgen werden Sie Ihre neuen Kommilitonen kennenlernen."

Ich darf einen Blick in einen leeren Klassenraum werfen, Mr Winterbourne zeigt mir außerdem noch den Speisesaal und die Bibliothek, danach ist unsere Führung beendet.

„Was befindet sich im dritten Stock?", frage ich. „Und im Keller?"

„Ganz oben unter dem Dach sind die Dienstbotenunterkünfte", sagt Mr Winterbourne. „Damit haben Sie nichts am Hut, ähnlich verhält es sich mit dem Keller. Dort sind die Küche, die Waschküche, die Vorratskammern. Nichts, was eine junge Dame von Adel interessieren würde."

„In Ordnung."

Zurück im Büro setzen wir uns erneut in die Sessel und gehen gemeinsam die Anmeldeunterlagen durch. Amelia kocht uns noch eine Kanne Tee und eine Stunde später stehe ich mit meiner Schwester wieder auf der Straße vor dem Institut – nun ganz offiziell als neue Studentin der Winterbourne Academy of Honorables.

What happened at Winterbourne AcademyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt