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Die Tür schwingt auf und wir folgen unseren Tutoren in den Ballsaal.

Mir fallen direkt zwei Dinge auf. Erstens: Er scheint riesig. Zweitens: Er ist kaum beleuchtet, weshalb meine erste Erkenntnis auch falsch sein kann – ich kann die Wände nicht sehen.

Einige Spots direkt über uns strahlen uns grell an, vor uns in einiger Entfernung ist eine Bühne auszumachen, doch alles liegt im Dunkeln. Es ist totenstill und kein anderer Mensch in Sicht.

„Was zum –?", setze ich an, doch fast im selben Augenblick werde ich von feierlichen Fanfaren abgewürgt, die durch den Saal hallen. Das Lied, das sie spielen, klingt kämpferisch, fast episch.

Mit hoch erhobenem Kinn marschieren Isadora und Lucien voran, wir anderen hinterher, wobei ich nun immer mehr verunsicherte Blicke in unseren Reihen erkennen kann. Kaida läuft einige Meter vor mir. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, aber ihre Bewegungen wirken steif. Der Lichtkegel von oben folgt uns, lässt uns golden erstrahlen, während der komplette Saal um uns herum noch immer im Dunkeln liegt. Nur uns trifft das Licht, die Ehrengäste dieses Spektakels – die Himmelsgängerinnen.

Mit einem Mal bleiben wir stehen, mitten im Saal. Isadora gibt uns ein Zeichen, still zu sein und so stehen wir einfach nur da, drücken uns ein wenig ängstlich aneinander und hören der Hymne zu, die die Fanfaren spielen. Als die Musik schließlich verstummt, ist es Lucien, der das Wort ergreift.

„Die diesjährigen Himmelsgängerinnen sind vollzählig eingetroffen", sagt er feierlich. „Der 167. Mitternachtsball gilt hiermit als eröffnet!"

Wie auf Kommando gehen im Saal alle Lichter an und dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig, sodass ich gar nicht weiß, worauf ich meine Aufmerksamkeit richten soll. Die Spots, in deren Kegel wir uns befunden haben, erlöschen, oder vielleicht kann ich sie auch nur nicht mehr erkennen, weil es mit einem Mal so wahnsinnig hell ist, dass ich die Augen ein wenig zusammenkneifen muss. Laute Tanzmusik hallt durch den Saal und von allen Seiten strömen Menschen auf die Fläche, hunderte. Sie alle sind fein gekleidet und sie alle tragen bunte Masken über den Augen, die die Hälfte ihres Gesichts verbergen. Es dauert einen kurzen Augenblick, bis ich registriere, dass es alles Männer sind. Wir Besucherinnen aus Tremoris sind mit Isadora die einzigen Frauen in diesem Raum!

Obwohl es so viele sind, ist damit nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung von Celestria anwesend und unwillkürlich frage ich mich, warum das so ist und wonach ausgewählt wird, wer auf den Ball gehen darf und wer nicht. Bisher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, aber nun erscheint es mir nur logisch, dass auch die Menschen hier oben per Los ausgesucht werden – nur dass es eben mehr Lose gibt als für uns. Und dass sich hier oben in diesem Jahr offensichtlich nur Männer bewerben durften, während es bei uns nur Frauen waren. Diese Tradition erscheint mir mit jeder Minute eigenartiger.

Manche aus unserer Gruppe lösen sich, werden zum Tanz aufgefordert und wirbeln nur Sekunden später über das Parkett, unbefangen und strahlend. Manche machen sich von allein auf den Weg, den Saal zu erkunden. Andere brauchen ein bisschen länger, drücken sich ein wenig unsicher aneinander, vor allem die jüngeren, tuscheln hinter vorgehaltenen Händen, lachen nervös. Ich sehe mich im Getummel nach Kaida um, doch kann sie nirgends entdecken. Lu und Elysia haben sich an den Händen genommen und gemeinsam zu tanzen begonnen, was mir trotz meiner Anspannung ein Schmunzeln aufs Gesicht zaubert.

Während unsere Gruppe sich nach und nach auflöst und sich mit den maskentragenden Ballbesuchern aus der Gläsernen Stadt vermischt, schiebe ich mich durch die Menschenmenge, verlasse die Tanzfläche und blicke mich staunend im Saal um. Erst jetzt kann ich seine volle Größe bewundern, seine Imposanz, seine Schönheit.

Das dunkle Parkett zu meinen Füßen spiegelt das Licht der unzähligen Kronleuchter wider, die von der gewölbten Decke hängen. Die Wände sind mit kostbaren Stoffen drapiert, die in schillernden Farben schimmern. Einen Augenblick später kann ich beobachten, wie die Stoffe von einer unsichtbaren Hand zur Seite geschoben werden und den Blick auf weitere Bühnen, weitere Lichter, noch mehr Tanzende freigeben. Ich schnappe nach Luft, doch nach dem zweiten Hinsehen erkenne ich, dass es Spiegel sind, die hinter den Vorhängen verborgen waren. Nun erweitern sie den Raum scheinbar ins Unendliche und erzeugen die Illusion, als wären hier tausende und Millionen von Tanzenden.

Langsam gehe ich auf die verspiegelten Wände zu und nun erkenne ich noch etwas: Manche der Spiegel sind Türen, kaum sichtbar und nur zu erkennen, wenn man direkt davor steht. Jede davon hat einen kleinen Knauf aus Messing, auf dem eine Zahl steht. Ich lege meine Hand auf den Knauf mit der Nummer 12 und ziehe und drücke probehalber, doch die Tür ist verschlossen. Mein eigenes Gesicht blickt mir im Spiegel entgegen, die Stirn gerunzelt, der Blick ratlos.

Ich wende mich ab und gehe zurück. Immer mehr Menschen tanzen nun. Um die Tanzfläche herum stehen reich verzierte Tische und Stühle, auf denen funkelnde Gläser, Teller und Etageren mit verschiedenen Köstlichkeiten bereitstehen. Manche Ballbesucher haben sich dort niedergelassen, doch Kaida kann ich immer noch nicht entdecken. Stattdessen steigt mir jetzt der Duft des Essens in die Nase, feine Saucen, erlesene Kräuter, gebratenes Fleisch.

Ich beschließe, mich erst einmal zu stärken und nehme an einem der Tische Platz. Das Glas vor mir füllt sich wie von Geisterhand mit einer dunkelroten Flüssigkeit, als ich es berühre, und ich kann nur staunend dabei zusehen. Ich wusste, dass man Celestria auch Die Magische nennt, trotzdem ist es erstaunlich. Diese Art Magie gibt es in Tremoris nicht. Tatsächlich bin ich der einzige Mensch, den ich kenne, der auch nur ansatzweise sowas wie magische Fähigkeiten besitzt, aber das hier geht natürlich weit über meine Spielereien mit Feuer hinaus.

Als ich an dem Glas rieche, stelle ich fest, dass es voller Rotwein ist. Ich nippe vorsichtig daran; er ist süß, doch nicht besonders stark, was gut ist. Ich möchte einen klaren Kopf behalten.

Während ich mir von der Etagere einige Köstlichkeiten auf den Teller lade – vor allem bunte Gemüsesorten, von denen wir in Tremoris nur träumen können –, sehe ich mich weiterhin im Saal um. Erst jetzt registriere ich, dass überall im Saal Securitys verteilt sind. Sie fügen sich unauffällig in die Menge ein, mit ihren dunklen Anzügen und reglosen Gesichtern wirken sie fast unsichtbar. Zwei von ihnen flankieren die Tür, durch die wir hereingekommen sind. Mehrere stehen vorne an der Bühne, andere an den Seitenwänden. Es müssen insgesamt mehr als zehn sein.

Wozu? Für unseren Schutz? Doch wovor?

Inzwischen haben sich alle Himmelsgängerinnen verteilt, keine steht mehr unschlüssig in der Mitte. Die Stimmung im Saal ist beschwingt und ausgelassen, die Musik fröhlich und laut, und doch werde ich das Gefühl nicht los, als wäre es nur die Ruhe vor dem Sturm, als würde eine unsichtbare Bedrohung über allem schweben, und das liegt nicht nur an der Präsenz der Wachmänner. Vielmehr fühlt es sich wie eine Art Instinkt an, als würde irgendein Teil in mir spüren, dass da etwas in der Luft liegt, etwas, das ich weder sehen, noch benennen kann. Alles in mir ist angespannt, bereit zu Kampf oder Flucht. Bei einem erneuten Blick in Richtung Decke registriere ich, dass im ganzen Saal Kameras angebracht sind. Ich erinnere mich dunkel daran, dass Dianne erwähnt hat, die Veranstaltung würde in Celestria im Fernsehen übertragen. Außerdem gibt es mehrere Lautsprecher, aus denen die Musik tönt, und noch etwas anderes: seltsame Röhren in den Wänden, in regelmäßigen Abständen im Saal verteilt. Ich habe keine Ahnung, was das ist.

Mein Blick wandert zur Bühne, dem einzigen Ort, der noch im Halbdunkel liegt. Was dort oben wohl vor sich gehen mag? Gibt es noch weitere Ankündigungen, Erklärungen, eine Show? Die besondere Zeremonie fällt mir wieder ein, das Gerede über den Prinzen.

Plötzlich schiebt sich etwas in mein Gesichtsfeld. Ein feiner dunkelblauer Anzug, maßgeschneidert. Große Hände, eine funkelnde Uhr am Handgelenk, in einer stummen Bitte ausgestreckt.

Ich sehe nach oben und blicke in warme braune Augen hinter einer schlichten schwarzen Maske, erkenne ein leichtes Lächeln darunter, das an schön geschwungenen Lippen zupft, längeres braunes Haar, zu einem Zopf gebunden.

„Darf ich um einen Tanz bitten?"

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt