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„Und, hast du dein Los schon abgegeben?", fragt Emeric. Wir sitzen nebeneinander auf der breiten Mauer, die die Stalaktenstadt vom Wurzelviertel trennt, und sehen auf die flachen Häuser hinab. Hier in der Nähe ist die Apotheke, in der ich nach meinem Auftritt Adiras Medizin besorgt habe, dann habe ich beschlossen, Emeric aus seinem Atelier zu zerren und ihn zum Mittagessen einzuladen. Heute war ein guter Vormittag, ich habe mehr verdient als die gesamte letzte Woche.

„Was für ein Los?", frage ich mampfend.

Er verdreht die Augen, während er die Schattenpilze auf seinem Teller vom restlichen Gemüse trennt. Ich kann nicht den Blick davon abwenden. Dass Emeric immer das Essen auf seinem Teller nach Größe, Art und Farbe sortiert, macht mich manchmal fast wahnsinnig.

„Im Ernst, was für ein Los?", hake ich nach, als er nicht antwortet.

„Na, für den Ball! Jetzt tu doch nicht so, als hättest du es nicht mitbekommen, Cinna! Die ganze Stadt spricht von nichts anderem."

„Hab ich echt nicht!", widerspreche ich. „Ist es wirklich schon wieder so weit? Die Zeit rast, es ist der Wahnsinn."

„Ich kann auch nicht glauben, dass schon wieder ein Jahr vergangen sein soll", stimmt er mir zu. „Aber ja, seit heute läuft die Bewerbungsfrist."

„Deswegen waren die Leute heute gut drauf und so spendabel", murmle ich. „Hab mich schon gewundert."

„Hey, deine Show ist auch einfach verdammt gut!"

„Du meinst wohl deine Show", sage ich grinsend. „Immerhin habe ich es dir und deinen bescheuerten Ideen zu verdanken, dass das Geschäft jetzt so gut läuft."

„Das stimmt. Ich bin ein ausgezeichneter Manager. Und du bezahlst mich nicht einmal dafür."

„Äh, hallo?" Demonstrativ hebe ich die Schale mit dem Gemüse in die Höhe. Emeric lacht.

„Na gut, das lass ich zählen. Du weißt hoffentlich, dass das nur Spaß war. Deinen Erfolg hast du dir selbst zu verdanken, du Hexe."

Ich strecke ihm die Zunge heraus und beschließe, nicht weiter auf die Stichelei einzugehen. Emeric ist einer der wenigen Menschen, die wissen, dass es keine billigen Taschenspielertricks sind, mit denen ich arbeite. Dass ich das Feuer tatsächlich kontrollieren kann, auch wenn ich keine Ahnung habe, wieso. Und obwohl er das weiß, hat er beschlossen, mit mir befreundet zu sein – etwas, das ich vermutlich niemals verstehen werde. Ich bin mit Sicherheit eine gute Freundin, doch ich kann es niemandem verübeln, wenn er meine Gabe gruselig findet.

„Und? Wen wollen sie diesmal haben?", wechsle ich das Thema.

„Nur Frauen", erzählt er und seufzt. „Junge Frauen. Zwischen sechzehn und dreißig." Er schüttelt den Kopf. „Möchte echt mal wissen, was dort oben abgeht. Letztes Mal waren es auch nur Frauen. Dass Männer hochdurften, ist schon ewig her. Manchmal glaube ich, ich krieg nie wieder eine Chance."

Ich runzle die Stirn. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Du hättest dich doch nicht wirklich beworben!" Ich halte inne und starre ihn an. Die Gabel mit einem Stück Süßkartoffel schwebt zwischen uns.

Er sieht mich an, eine Spur Trotz liegt in seinem Blick. „Nicht? Warum denn nicht?"

„Weil die ganze Sache echt seltsam ist!", stoße ich lachend hervor. „Das weißt du doch, wir haben uns früher jedes Jahr darüber lustig gemacht!"

„Ja, aber ..."

„Was, aber? Das ist Humbug, Emeric! Irgendwas stimmt da nicht, und das weißt du ganz genau. Keine Ahnung, was auf diesem Ball vor sich geht, aber wahrscheinlich werden die Leute aus Tremoris gefressen oder sowas." Es soll ein Witz sein, aber mein Grinsen verrutscht ein wenig. Vor fünf Jahren wurde mein Vater zum Mitternachtsball geladen und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Als ich endlich sechzehn wurde, habe ich mich selbst beworben, weil ich so verzweifelt war, ihn so sehr vermisst habe und so dringend eine Antwort auf sein Verschwinden haben wollte, dass ich etwaige Gefahren sogar in Kauf genommen hätte. Aber ich hatte kein Glück und danach habe ich es nicht mehr versucht. Und auch dieses Mal werde ich es nicht versuchen. Ich habe mich damit abgefunden, dass mein Vater mich sang- und klanglos sitzengelassen hat. Mich und den kompletten Rest seiner Familie.

„Das ist doch Blödsinn", lacht Emeric. Er schiebt sich den letzten Rest seines Gemüses in den Mund und stellt den leeren Teller neben sich auf der Mauer ab. „Weißt du, was ich glaube? Die wollen einfach nicht mehr zurück."

Ein schmerzhafter Stich zuckt bei seinen Worten durch meine Brust. Emeric weiß nichts von meinem Vater. Wir haben uns erst vor drei Jahren kennengelernt und ich habe ihm nie davon erzählt, seinen Spruch kann ich ihm also nicht übelnehmen. Natürlich ist mir klar, dass er recht haben könnte. Niemand, der jemals auf den Mitternachtsball gegangen ist, ist zurückgekehrt. Und ich komme mir vor wie der mieseste Mensch auf Erden, dass ein kleiner Teil in mir hofft, dass es nicht die Wahrheit ist, was Emeric sagt. Denn es würde heißen, dass mein Vater uns ganz bewusst verlassen hat. Die Alternative wäre, dass ihm dort oben etwas zugestoßen ist. Ich weiß nicht, was ich schlimmer fände, und das sorgt für einen dicken Kloß in meinem Hals. Ich sollte mir wünschen, dass es ihm gut geht.

Doch irgendwie kann ich das nicht, weil das gleichzeitig bedeuten würde, dass er mich vergessen hat.

„Ach ja?", sage ich schwach, weil mir nichts Besseres einfällt.

„Ja!", sagt Emeric entschieden. „Ich würde jedenfalls nicht lange überlegen, wenn ich die Wahl hätte, hier in diesem Loch zu leben oder oberhalb, in der Gläsernen Stadt, in der man den Himmel und die Sonne sehen kann."

„Wie nett", sage ich sarkastisch.

Er lacht und zieht mich in seine Arme. „Keine Sorge, dich würde ich natürlich mitnehmen, Aschekönigin."

Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen und lege den Kopf auf seine Schulter, doch der Kloß in meinem Hals ist immer noch da.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now