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Der Nachmittag war viel zu schnell vorbei.

Ich habe mir einige Kleider angesehen und fand sie ausnahmslos wundervoll, habe mich dann aber aller Warnungen zum Trotz dafür entschieden, das zu tragen, was ich mitgebracht habe. Nur Schuhe habe ich mir ausgesucht, schlichte schwarze Pumps. Die restliche Zeit habe ich damit verbracht, Elysia und Lu zu beraten. Elysia hat ihr himmelblaues Kleid schlussendlich behalten, während Lu sich für ein imposantes Outfit bestehend aus einer weinroten Pluderhose aus glänzendem Stoff und einem bauchfreien Spitzenoberteil in derselben Farbe entschieden hat. Die beiden sehen absolut umwerfend aus.

„Euer Gepäck könnt ihr in der Garderobe lassen", sagt Isadora und zeigt in eine Ecke, in der bereits die Taschen der anderen Gruppe platziert sind. Wir werfen unsere Sachen dazu. Mein Kleid hat auf Hüfthöhe glücklicherweise unauffällige Taschen eingenäht. In eine davon packe ich mein Asthmaspray. Elysia wühlt noch einmal in ihrem Rucksack, dann lacht sie auf und zieht etwas Gelbes daraus hervor. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es ein Stern aus Plüsch ist.

„Was ist das denn?", frage ich.

„Meine Mutter hat mir meinen Schmusestern mit eingepackt", stöhnt sie auf. „O Gott, das ist so peinlich!"

„Was ist denn ein Schmusestern?", hakt Lu grinsend nach.

„Sie sagt immer, dass er mir Glück bringt", sagt Elysia und lacht ein wenig verlegen. „Ich hab ihr schon tausendmal gesagt, dass ich kein kleines Kind mehr bin und meine Plüschtiere nicht mehr brauche, aber ... Na ja." Sie zuckt die Achseln. Eine leichte Röte zieht sich über ihre Wangen und lässt sie irgendwie noch jünger aussehen.

Nun muss ich auch lachen. „Ich finde es süß."

„Sie wollte nicht, dass ich hierherkomme", erklärt Elysia, während sie den Stern wieder einpackt und ihren Rucksack verschließt. „Aber ich hab es mir so sehr gewünscht, dass sie schließlich nachgegeben hat. Wie war es bei euch?"

„Meine Mutter hat sich für mich gefreut", sagt Lu. „Sie war total begeistert. Sie wollte selber immer zum Ball, aber es hat nie geklappt. Jetzt ist sie über vierzig, in ihrem Alter gibt es meistens keine Einladung mehr."

„Und bei dir, Cinna?"

„Meine Mutter weiß es noch gar nicht", gestehe ich. Ich verzichte darauf, zu erklären, dass Adira eigentlich meine Stiefmutter ist. Das spielt keine Rolle und ich habe keine Lust auf das Mitleid, das mir jedes Mal entgegenschlägt, wenn ich erwähne, dass meine richtige Mutter tot ist.

„Okay, wow", lacht Lu.

„Seid ihr so weit?", reißt uns Isadoras Stimme aus der Unterhaltung. „Dann können wir nun los."

„Bekommen wir eigentlich kein Zimmer?", hakt Elysia nach. „Ich meine, irgendwo müssen wir doch schlafen. Dianne hat gesagt, wir können im Palast in einem Zimmer übernachten."

„Ihr werdet eure Zimmer nach dem Ball beziehen", sagt Isadora und öffnet die Tür. Mir fällt auf, dass sie Elysia nicht in die Augen sieht. Ihr Blick ist starr geradeaus gerichtet. „Folgt mir jetzt."

Niemand hakt mehr nach, aber ein wenig eigenartig erscheint es mir schon. Wieso sollten wir unsere Taschen hier deponieren, wenn wir später sowieso ein Zimmer beziehen? Wieso die Taschen nicht gleich ins Zimmer bringen?

Isadora bedenkt mich mit einem eigenartigen Blick, als ich beim Verlassen der Garderobe an ihr vorbeigehe. Eine seltsame Mischung aus Missbilligung und Mitleid liegt darin, während sie Emerics Kleid betrachtet, doch es ist mir egal. Es stimmt schon, es ist sehr viel schlichter als alle anderen. Es besteht aus einem einfachen, rauen schwarzen Stoff, hat einen simplen A-Linien-Schnitt, keine weiteren Verzierungen und reicht bis zum Boden, zeigt also auch nicht besonders viel von meiner glitzernden Haut.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass es eine gute Wahl ist. Es lenkt nicht vom Wesentlichen ab: meinem Gesicht. Zudem glaube ich, dass ich damit gerade durch seine Schlichtheit aus der Menge herausstechen werde, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich es unbedingt tragen möchte.

Wir gehen ein Stück durch den Palast, bis wir schließlich vor einer imposanten Flügeltür stehenbleiben. Lucien und die anderen fünfundzwanzig warten bereits dort. Obwohl wir über fünfzig Menschen sind, herrscht mit einem Mal eine unheimliche Stille. Auch aus dem Ballsaal dringt kein Mucks.

„Der Ball beginnt in Kürze", begrüßt uns Lucien, der bereits mit einer Hand am Knauf an der Tür steht, und als ich mich umsehe, registriere ich, dass inzwischen alle so nervös wirken, wie ich mich fühle. Lu neben mir wippt auf ihren Füßen, die in glänzenden schwarzen Ballerinas stecken, vor und zurück. Elysia hat angefangen, an ihren Nägeln zu kauen, die vorhin in der Maske mit einem glänzenden blauen Lack bestrichen worden sind; Teile davon sind bereits wieder abgeplatzt.

„Lass das", wispere ich und ziehe ihre Hand aus dem Mund. Ertappt presst sie die Lippen aufeinander.

„Es ist fünf vor sechs. Wir werden nun gleich die Türen öffnen", informiert uns der Tutor. „Die anderen Gäste sind bereits da, sie warten jedoch an den Seiten, um euch willkommen zu heißen. Der Ball wird eröffnet, sobald ihr da seid."

Warum, will ich rufen. Warum wird so ein Aufhebens um uns fünfzig zufällig ausgewählte Frauen aus Tremoris gemacht? Warum überhaupt nur Frauen? Was soll das Ganze?

Aber all diese Fragen haben bereits andere Teilnehmerinnen am Nachmittag gestellt, und alles, was wir bekommen haben, waren vage Antworten, die in Wahrheit keine waren. Also schlucke ich all meine Fragen hinunter, ignoriere das laute Wummern meines Herzens und nehme stattdessen einen Hub von meinem Asthmaspray.

Isadora ist nach vorne getreten und beginnt, einen Countdown runterzuzählen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und auffordernden Bewegungen animiert sie uns dazu, mitzumachen, und nach einer Weile zählen wir alle im Chor:

Zehn.

Neun.

Acht.

Sieben.

Sechs.

Fünf.

Vier.

Drei.

Zwei.

Eins.

„Seid ihr bereit?", ruft Isadora, und auch wenn ich absolut nicht bereit bin, weil ich ja gar nicht weiß, wofür genau ich bereit sein soll, stimme ich in die Jubelrufe der anderen mit ein. Nur eine Frau steht mit finsterem Gesichtsausdruck und vor der Brust verschränkten Armen in der Menge und verzieht keine Miene: Kaida.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt