~ 9 ~

121 16 0
                                    

Der Echostrider befindet sich mitten in der Innenstadt von Tremoris. Es ist ein gigantischer Zylinder aus bruchsicherem Glas, der in die Höhe führt und sich weit über den Dächern der Stadt irgendwo in der Schwärze verliert. Auch wenn die Decke unseres Tunnelsystems so weit entfernt ist, dass wir sie von unten mit bloßem Auge nicht sehen können, weiß ich doch, was dort oben ist: Nichts als Dunkelheit, grauer Stein, Massen an Stalaktiten, die von der Höhlenwand tropfen.

Der Echostrider ist die einzige Verbindung zwischen Tremoris und der Gläsernen Stadt, eine senkrechte Röhre im Gestein, durch die man bis in die Innenstadt von Celestria fahren kann. Nicht dass der Aufzug viel genutzt wird. Als Normalsterblicher kommt man nicht hinein. Es gibt nur eine offizielle Fahrt im Jahr, nur für die Auserwählten – nur zum Mitternachtsball.

Rein theoretisch sollte es auch eine Fahrt zurück geben, doch es ist ein offenes Geheimnis, dass nie jemand zurückkehrt, auch wenn niemand es ausspricht. Angeblich finden es die Leute einfach zu schön dort oben in der Sonne, um freiwillig wieder in ihr Erdloch zu steigen.

Ich will gar nicht abstreiten, dass Celestria wunderschön ist. Ich habe Bilder der Gläsernen Stadt gesehen und es sieht tatsächlich traumhaft aus. Der Himmel ist unbeschreiblich. Das natürliche Licht muss atemberaubend sein. Alles sieht so hell und offen aus, in Wirklichkeit bestimmt noch mehr als auf den Bildern, es muss ganz anders sein als die dunkle, drückende Enge hier unten. Und dennoch erscheint es mir unlogisch, dass jedes Jahr fünfzig Menschen einfach alle ihre Lieben, ihre Freunde, Familien, Eltern, Kinder und letztlich ihr ganzes Leben in Tremoris zurücklassen, um ohne ein Wort einfach zu verschwinden.

Als wir jetzt am Aufzug ankommen, müssen wir uns durch einen riesigen Auflauf Menschen drängen. Sie alle haben sich hier versammelt, um die Abfahrt der Auserwählten zu sehen und zu feiern. Irgendjemand hat eine Musikbox mitgebracht und lauter Techno hämmert über den Platz. Die Menschen lachen, tanzen, rufen irgendwelche Namen, skandieren vorgefertigte Sprüche – Legends rise, reach the skies –, feiern ausgelassen. Irgendwer erkennt mich und ruft meinen Namen, ich höre weitere Stimmen: „Das ist doch die Aschekönigin!"

Doch ich fühle mich noch immer wie betäubt und folge Mr Underwood und Mr Stone schweigend, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern durch die Menschenmassen. Erst als wir uns durchgekämpft haben und am Echostrider angekommen sind, hebe ich den Blick, um die anderen Teilnehmerinnen zu betrachten, die sich bereits hier versammelt haben. Ich bin offensichtlich die letzte. Ein wenig enttäuscht stelle ich schnell fest, dass ich niemanden von den anderen kenne. Aber bei fünfzig Leuten von mehreren Millionen Einwohnern ist das kein Wunder. Neugierig lasse ich meinen Blick über die Gewinnerinnen gleiten. Ein paar wenige Frauen sind in Alltagskleidung da, die meisten von ihnen sind hübsch zurechtgemacht. Manche tragen bereits ein Abendkleid, so wie es Galadrielle getan hätte. In ihren Gesichtern spiegeln sich Aufregung und Vorfreude. Nur eine Frau, ich schätze sie auf Ende zwanzig, hat ein eher grimmiges Gesicht aufgelegt. Mir fällt auf, dass sie ähnlich angezogen ist wie ich – nicht hübsch, sondern praktisch –, und beschließe, später ihre Nähe zu suchen. Könnte sein, dass sie das Ganze ebenso skeptisch sieht wie ich.

In diesem Moment sieht sie in meine Richtung und ihr Blick trifft auf meinen. Ich lächle ihr zaghaft zu und sie lächelt kaum merklich zurück. Eine Sekunde später jedoch verfinstert sich ihre Mine wieder und sie wendet den Blick ab.

Wir gesellen uns zu der Gruppe und ich grüße mit einem Nicken in die Runde. Dann beobachte ich Mr Stone und Mr Underwood dabei, wie sie zu der hochgewachsenen schlanken Frau gehen, die am Eingang des Echostriders steht. Sie trägt ein elegantes silbernes Kostüm, ihr dunkles Haar ist zu einem strengen Dutt geknotet. Die beiden Männer reden mit ihr und nicken dabei einmal kurz in meine Richtung. Die Frau wirft mir einen raschen Blick zu, dann nickt sie ebenfalls und wendet sich wieder dem Gespräch zu.

Kurz darauf heben Mr Stone und Mr Underwood ihre Hand zum Abschied und bevor ich die Geste erwidern kann, sind sie bereits in der Menge verschwunden.

„Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten", hallt mit einem Mal eine tiefe, klare Stimme über den Platz. Erschrocken zucke ich zusammen. Ich brauche einen Augenblick, um zu realisieren, dass es die silbern gekleidete Frau ist, die gesprochen hat. Nun erkenne ich auch das kleine Mikrophon, das an ihrem Kragen klemmt. Die Menge ist schlagartig verstummt.

„Da wir nun vollzählig sind, können wir gleich starten", spricht die Frau weiter. „Ich möchte auch nicht viele Worte verlieren, nur ein paar Dinge zum Ablauf. Zunächst, mein Name ist Dianne Silvers. Ich gehöre dem Organisationsteam des Mitternachtsballs an, und das schon sehr lange. In diesem Jahr feiere ich mein dreißigjähriges Jubiläum."

Applaus brandet auf, doch Dianne schafft es mit einer einzigen Handbewegung, die Menge zum Verstummen zu bringen.

„Doch heute geht es nicht um mich", fährt sie fort, als wieder Ruhe eingekehrt ist, „sondern um euch. Um die Bewohnerinnen und Bewohner von Tremoris, vor allem aber um die fünfzig wundervollen Gewinnerinnen, die wir heute hier begrüßen dürfen und die jeden Augenblick mit mir in die Gläserne Stadt aufsteigen werden, um dort die Zeit ihres Lebens zu verbringen. Himmelsgänger, dieser Applaus ist für euch!"

Nun gibt es kein Halten mehr. Die Menge jubelt und tobt, so viel Applaus habe ich nicht einmal bei meinem besten Auftritt bekommen. Blumen und Konfettischnipsel werden geworfen, sogar ein paar Kleidungsstücke fliegen durch die Gegend.

Ich kann den Beifall jedoch nicht genießen.

Mein Hirn hängt an einem Wort, das ich noch nie gehört habe, das in meinen Ohren aber überhaupt nicht gut klingt, sondern vielmehr bedrohlich:

Himmelsgänger.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt