~ 11 ~

113 17 3
                                    

Als der Aufzug endlich in einem dunklen Raum stoppt, fängt Dianne an, Brillen mit abgedunkelten Gläsern an uns zu verteilen. „Setzt die auf, ihr werdet sie brauchen", erklärt sie uns. „Wir werden die Ankunftshalle nun gleich verlassen und in die Kristallbahn steigen, die durch die Stadt führt. Es ist Sommer und die Sonne steht hoch am Himmel. Da eure Augen nicht an das Tageslicht gewöhnt sind, sind die Brillen unerlässlich. Bitte tut euch selbst den Gefallen und tragt sie wirklich, andernfalls werdet ihr große Probleme mit dem Sehen bekommen." Während wir die Brillen aufsetzen und der ohnehin schon dunkle Raum noch dunkler wird, reicht sie ein kleines Fläschchen herum. „Darin ist Sonnencreme", informiert sie uns. „Schmiert euch damit Gesicht und Hände ein. Auch den Nacken. Am besten jede Stelle an eurer Haut, die frei ist."

„Warum?", fragt eine Frau aus der Runde. Mein Blick fliegt zu ihr. Sie sieht jung aus, vielleicht Galadrielles Alter – gerade mal sechzehn. Sie hat sich hübsch zurechtgemacht. Das schwarze Haar fließt ihr wie Seide bis zur Hüfte, sie trägt ein leuchtend rotes Abendkleid. Mein Magen zieht sich zusammen, als ich sie betrachte. So jung. Sie sollte zuhause bei ihrer Familie sein.

„Weil", erklärt Dianne geduldig, „ihr euch sonst an der Sonne verbrennt."

Ein paar Frauen lachen auf, als hätte Dianne einen Witz gemacht, doch die blickt ernst in die Runde und das Lachen verstummt wieder.

„An der Sonne kann man sich nicht verbrennen", ruft jemand, „die ist doch im Himmel!"

„Glaubt mir, man kann", sagt Dianne nur. „Und die Creme verhindert es. Natürlich bleibt es euch überlassen, ich kann euch nur sagen, dass ein Sonnenbrand verdammt schmerzhaft sein kann."

Sonnenbrand.

Das Wort ist mir gänzlich fremd und ich begreife es nicht. Es stimmt, die Sonne ist am Himmel. Wie sollte man sich an ihr verbrennen?

Gemurmel erfüllt den Raum und unsichere Blicke werden hin und her geworfen, die meisten Frauen cremen sich jedoch wie empfohlen ein. Als die Flasche zu mir kommt, reiche ich sie weiter an Kaida. Ich kann ihren Blick hinter den dunklen Brillengläsern nicht erkennen, doch sie scheint einen kurzen Augenblick darüber nachzudenken. Dann gibt sie die Flasche ebenfalls weiter, ohne sich einzucremen.

„Ich traue diesen Leuten nicht", raunt sie. Und ich weiß genau, was sie meint.

Als alle fertig sind und die Flasche wieder bei Dianne gelandet ist, verstaut sie sie in ihrer Tasche und klatscht in die Hände. Ein breites Lächeln ist auf ihr Gesicht getreten.

„So, meine lieben Himmelsgängerinnen. Ich freue mich außerordentlich, euch in Celestria begrüßen zu dürfen. Die ganze Stadt erwartet bereits gespannt und vorfreudig eure Ankunft. Wir werden nun durch diese Tür gehen und den Boden der Gläsernen Stadt betreten. Hinter diesem Raum gelangen wir direkt zur Station der Kristallbahn. Sie ist heute leer, an diesem besonderen Tag gehört sie ganz euch. Sucht euch einen hübschen Platz am Fenster und genießt die Fahrt. Seid ihr bereit?"

Laute Jubelrufe erfüllen den Raum. Unwillkürlich verschränke ich die Arme vor der Brust. Ich werfe einen Blick zu Kaida; auch sie jubelt nicht. Ihre Lippen sind fest aufeinandergepresst. Sie bemerkt meinen Blick und nickt mir einmal kurz zu. Dann öffnen sich die Aufzugtüren mit einem Zischen und ein Schwall warmer Luft strömt herein. Überrascht keuche ich auf. Ich hatte es mir hier oben kühler vorgestellt. In Tremoris erzählt man sich immer über die frische Luft an der Oberfläche, aber jetzt gerade erscheint sie mir sehr viel drückender als unter der Erde.

Die Frauen – Himmelsgängerinnen – strömen nach draußen. Und dann öffnet Dianne die zweite Tür.



Ich bin nicht darauf vorbereitet. Obwohl ich die empfohlene Brille trage, trifft mich die Helligkeit wie ein Schlag. Ich kneife die Augen zusammen und taumle einen Schritt zurück. Es ist jedoch nicht nur das Licht, es ist vor allem die Luft – hier draußen ist sie noch wärmer, noch drückender, noch feuchter.

Mein Herz beginnt zu rasen und unwillkürlich taste ich nach meinem Asthmaspray in meiner Tasche. Ich kann nichts sehen, werde angerempelt und stolpere, bis mich jemand am Arm packt und auffängt.

„Alles okay?", raunt Kaida neben mir.

Ich blinzle. „Ja", presse ich hervor, „es ist nur die Luft, ich kann nicht ..."

Kaida versteht sofort. „Hast du etwas dabei?"

„Ja, hab es!" Ich ziehe das Spray aus der Tasche und nehme zwei tiefe Züge. Fast augenblicklich entspannt sich meine Lunge ein wenig.

Ich öffne die Augen vorsichtig einen Spalt breit und blicke in Kaidas stirnrunzelndes Gesicht. Auf einmal ist es mir furchtbar peinlich. „Ich habe das schon immer", erkläre ich. „Sorry. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es hier oben so sein würde, ich dachte immer, es wäre ..." Ich weiß nicht, wie ich den Satz beenden soll. „Anders", sage ich schließlich.

„Ja, ich weiß, was du meinst", sagt Kaida. „Ich bin auch überrascht. Dachte, es wäre kühler und irgendwie nicht so drückend. Komm, die anderen sitzen schon in der Bahn."

Sie schiebt mich sanft in Richtung Kristallbahn und langsam, aber sicher gewöhnen meine Augen sich an die Helligkeit. Vorsichtig öffne ich sie immer weiter, und als die Bahn sich in Bewegung setzt, schaffe ich es endlich, mich richtig umzuschauen. Was ich sehe, haut mich fast um. All die Geschichten, die ich über die Gläserne Stadt gehört und alle Bilder, die ich gesehen habe, konnten nicht einmal ansatzweise einfangen, wie es hier wirklich aussieht.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now