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Ich verbringe eine unruhige Nacht in meiner Schlafkammer. Während Galadrielle und Tristan sich ein winziges Zimmer am Ende unseres Wagens teilen, haben Adira und ich zwei kleine Räume im Hubdach, die über eine schmale Leiter zu erreichen sind und lediglich Platz für je eine schmale Matratze bieten.

Obwohl ich mich nicht mehr übergeben muss – vermutlich habe ich das dem Ingwer zu verdanken, auch wenn ich es ungern zugebe –, rumort mein Magen die ganze Nacht, und hätte ich nicht am Vorabend bereits beschlossen, mir freizunehmen, wäre der Entschluss spätestens jetzt gefallen.

Ich wälze mich in meinem Schlaflager hin und her und als ich endlich in einen unruhigen Schlaf finde, geht in Tremoris bereits wieder die Tagbeleuchtung an und die Laterne vor dem Wagen strahlt mir durch das kleine Plastikfenster mitten ins Gesicht. Besonders lange schlafe ich dann auch nicht und so steige ich zwei Stunden später bereits die Leiter hinab.

Unten angekommen, stocke ich. Galadrielle ist bereits auf den Beinen. Sie sitzt am Küchentisch und trinkt Tee. Das ist ungewöhnlich. Es sind Halbjahresferien und in der Zeit ist sie normalerweise vor dem Frühstück kaum aus dem Bett zu bekommen, oft schläft sie sogar bis zur Mittagszeit. Was mich aber noch stutziger werden lässt, ist ihr Aussehen. Sie ist unglaublich hübsch zurechtgemacht. Statt der üblichen weiten Hosen trägt sie ein bodenlanges hellblaues Kleid aus einem fließenden Stoff, das blonde Haar hat sie geflochten und einmal rund um ihren Kopf geschlungen, wofür sie mit Sicherheit ewig gebraucht hat. Außerdem trägt sie Make-up.

„Ist heute irgendwas Besonderes?", frage ich und schaffe es dabei nicht, meine Irritation zu verbergen. Im Geiste überlege ich fieberhaft. Habe ich irgendeinen wichtigen Termin vergessen?

Eine sanfte Röte huscht über ihre Wangen, aber ihr Blick ist trotzig.

„Nein? Wieso muss immer was Besonderes sein? Man kann sich doch auch einfach mal so hübsch machen."

„Ja. Ja, natürlich", sage ich schnell und verkneife mir ein Grinsen, denn im selben Augenblick dämmert es mir. Hat sie heute vielleicht ein Date? Ich krame in meinen Erinnerungen, ob sie mir mal irgendwas von einem Jungen erzählt hat, aber mir fällt nichts ein. Oder vielleicht ein Mädchen? Auch da regt sich nichts. Andererseits muss meine Schwester mir ja auch nicht alles erzählen. Immer wieder vergesse ich, dass sie langsam erwachsen wird. Früher hat sie über alles mit mir geredet, aber in den letzten Jahren wurde das weniger. Auch wenn es mich manchmal schmerzt, das ist wohl normal.

Ich beschließe, nicht weiter nachzubohren und schenke mir stattdessen eine Tasse voll Tee ein. Dann setze ich mich ihr gegenüber an den kleinen Tisch und nippe vorsichtig an dem inzwischen schon lauwarmen Getränk. Unwillkürlich frage ich mich, wie lange die Kanne wohl schon auf dem Herd steht; wie lange ist meine Schwester schon wach?

Nach dem ersten Schluck warte ich darauf, dass die Übelkeit zurückkehrt, doch das befürchtete Gefühl bleibt aus. Mir ist nur noch ein wenig flau. Offensichtlich war es nichts Ernstes, sondern wirklich nur ein verdorbener Magen. Erleichtert trinke ich den Rest meines Tees. Dabei entgeht mir nicht, dass Galadrielle nervös mit dem Bein wippt und mit den Fingern auf den Tisch trommelt. Immer wieder wirft sie rasche Blicke aus dem Fenster und fummelt sich in den Haaren herum. Sie macht mich selbst ganz nervös.

Nach einer Weile räuspere ich mich und stehe auf. „Wo sind denn Adira und Tristan? Schlafen sie noch?"

„Nein, die zwei sind heute Morgen zum Einkaufen in die Stadt gegangen", sagt meine Schwester. „Tristan braucht noch neue Schulsachen, die Ferien sind ja bald vorbei."

„Ach so. Na gut, musst du nochmal ins Bad? Sonst würde ich mal gehen."

Sie schüttelt den Kopf, dann nickt sie. Bilde ich es mir ein, oder sieht sie erleichtert aus? Ihr Blick huscht zur Uhr. „Geh ruhig."

Ich spüle meine Tasse aus und stelle sie zurück in den Schrank, dann trete ich durch den Perlenvorhang und gehe den schmalen Gang entlang bis ans vordere Ende unseres Wagens, wo vor der Fahrerkabine eine Tür nach links abgeht. Im Bad angekommen wasche ich mir das Gesicht und putze meine Zähne, dabei macht sich jedoch ein mulmiges Gefühl in mir breit. Ich werde den Eindruck nicht los, dass ich irgendwas Wichtiges vergessen habe.

Kopfschüttelnd rufe ich mich zur Vernunft. Ich muss endlich akzeptieren, dass meine Schwester kein kleines Mädchen mehr ist, dass sie ihre eigenen Entscheidungen trifft und Geheimnisse vor mir hat. Das ist nur natürlich und die Abkapselung wichtig. Sorgen sollte ich mir vermutlich eher dann machen, wenn es nicht so wäre. Trotzdem fällt es mir irgendwie schwer.

Kurz überlege ich, ob ich mich doch auf den Weg zur Arbeit machen soll, jetzt, wo es mir wieder besser geht. Im selben Augenblick bahnt sich ein tiefes Gähnen seinen Weg nach draußen und ich entscheide mich um. Ein freier Tag ist absolut in Ordnung. Na gut, ich hatte gestern bereits frei, weil Sonntag war, dann eben ein zweiter freier Tag. Dass ich mir wirklich mal Urlaub genommen habe, ist ewig her, ich habe es verdient.

Als ich auf der Toilette sitze und gerade überlege, mich nochmal ins Bett zu legen, klingelt es an der Tür.

„Ich mach schon", ruft Galadrielle. Ihre Stimme klingt ein wenig schrill. Ich runzle die Stirn. Schnelle Schritte klingen durch den Flur, dann höre ich einen kleinen Schlag, einen Fluch. Dann das Quietschen der hölzernen Tür, die aufschwingt.

Stimmen, doch ich verstehe die Worte nicht. Was ich allerdings verstehe, ist, dass es die Stimmen zweier verschiedener Personen ist – erwachsener Männer.

Dann spricht Galadrielle und wenn ich mich nicht verhöre, sagt sie: „Ja, das bin ich!"

Ohne genau zu wissen warum, beginnt mein Herz zu rasen. Das ist nicht gut, sage ich mir. Keine Ahnung, was dort los ist, aber das ist gar nicht gut. Das ist ganz sicher kein Date.

Aber was ist es dann? Eine dunkle Vorahnung kriecht durch meine Adern und lässt meine Fingerspitzen kribbeln. Mit einem Schlag kehrt die Übelkeit zurück, stärker als je zuvor.

„Ja, wir können gehen", sagt meine Schwester, und dieses Mal verstehe ich sie ganz genau.

Mit zittrigen Fingern putze ich mich ab, ziehe meine Hose nach oben, wasche mir in Schattengeschwindigkeit die Hände und stürze aus dem Badezimmer. Mein Blick fliegt den Flur entlang zu unserer Eingangstür – doch meine Schwester ist verschwunden.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt