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Bisher habe ich nur ein einziges Mal dabei zugesehen, wie der Echostrider in die Höhe schießt. Während ich mir nun das Bild in Erinnerung rufe, kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Klar und deutlich sehe ich vor mir, wie mein Vater an der gläsernen Scheibe steht, lächelnd, und mir zuwinkt. Das braune Haar sieht ein bisschen wirr aus, seine Brille sitzt ein wenig schief, aber er wirkt glücklich. Seine Augen funkeln vor Aufregung. Er trägt seinen besten Anzug, in der Hand hält er den kleinen Koffer, den er sonst immer zu Geschäftsreisen mitgenommen hat, wenn er in einem abgelegenen Viertel von Tremoris arbeiten musste.

Immer höher fährt er hinauf und ich winke auch dann noch, als er längst in der Dunkelheit verschwunden ist.

Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Hätte ich das damals doch nur gewusst. Die Erinnerung an diesen Tag ist im Augenblick so präsent, dass sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildet.

Nun bin ich diejenige, die in die Höhe schießt. Und unten steht niemand, der mir zuwinkt, weil außer Galadrielle niemand weiß, dass ich auf dem Weg nach Celestria bin – und die sitzt zuhause und schmollt. Ob Adira und Tristan inzwischen von ihrem Einkauf zurück sind? Ob Galadrielle gebeichtet hat? Oder tut sie, als wüsste sie nicht, wo ich bin?

Während der Aufzug immer schneller wird, immer höher hinaufsteigt und zunächst die Menschen, dann die Häuser unter mir immer kleiner werden, schweifen meine Gedanken erneut zu meiner Familie und Emeric.

Vielleicht liegt es am Schlafmangel oder daran, dass ich mich immer noch nicht so ganz von meiner Magengeschichte erholt habe, aber in diesem Moment fühle ich mich ganz besonders dünnhäutig und kämpfe gegen die Tränen an. Ich hatte bisher nur ein einziges Mal in meinem Leben Heimweh. Das war, als wir mit der Schule einen mehrtägigen Ausflug zum Glimmerhafen gemacht haben, dem riesigen See, der am anderen Ende der Stadt liegt. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt fühle. Jetzt zerreißt es mich förmlich.

„Hey."

Die Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich wirble herum. Ich erkenne die Frau, der ich vorhin in der Menge zugelächelt habe, die mit dem klugen, skeptischen Blick. Aus der Nähe betrachtet, nehme ich weitere Details in mich auf. Eine riesige Narbe zieht sich über ihre rechte Gesichtshälfte, das lange blonde Haar ist an einer Seite abrasiert. Ihre Augen sind von einem tiefen Blau.

Im nächsten Moment geht ein Rumpeln durch die Kammer, dann werden wir von Dunkelheit verschluckt; der Echostrider hat die Höhlen von Tremoris nun endgültig hinter sich gelassen und ist in dem Tunnel im Gestein verschwunden. Der Raum wird jetzt nur noch vom violetten schwachen Deckenlicht des Aufzugs erhellt, was alle Gesichter ein wenig kränklich wirken lässt.

„Ich bin Kaida", stellt die Fremde sich vor und reicht mir ihre Hand. Der Griff ist fest und warm. Ich spüre mehrere Ringe an ihren Fingern. „Und du?"

„Cinna."

„Freut mich sehr, Cinna. Komm mit." Ohne meine Hand loszulassen, geht sie in eine freie Ecke des Aufzugs. Die anderen Frauen haben sich an der gegenüberliegenden Wand versammelt, wo Dianne gerade geduldig Fragen zum Ablauf des heutigen Nachmittags beantwortet. Offenbar gibt es ein Styling, wir werden geschminkt, frisiert und eingekleidet, was einige der Frauen mit Begeisterungslauten quittierten. Der Ball beginnt um sechs und endet mit einer besonderen Zeremonie um Mitternacht. Danach werden wir im Palast übernachten, wo für jede von uns ein Zimmer reserviert worden ist. Fragen zum morgigen Tag weicht Dianne allerdings aus und vertröstet uns mit der Antwort auf später – nicht gerade beruhigend, aber im Moment offensichtlich nicht zu ändern.

„Bitte entschuldige, wenn ich falsch liege, aber ich habe das Gefühl, dass du dich nicht auf den Ball freust", sagt Kaida geradeheraus, als wir ein bisschen Abstand von den anderen gewonnen haben. Neugierig mustert sie mich.

„Du hast recht", sage ich. Ich spreche leise, dabei weiß ich gar nicht so recht, warum. Mr Underwood und Mr Stone gegenüber habe ich schon erwähnt, dass ich es mir anders überlegt habe. Und das ist ja nichts Verbotenes. „Ich habe ..." Kurz ringe ich mit mir. Da ist ein Teil in mir, der sich mit Kaida anfreunden möchte, seit ich sie vorhin zum ersten Mal gesehen habe. Sie wirkt nett, vertrauenswürdig und kritisch – Eigenschaften, die ich an anderen Menschen schätze, vor allem in dieser neuen Situation. Ich möchte sie nicht anlügen, aber ich will auch meine Schwester nicht verraten. Schließlich seufze ich. „Es ist ein bisschen komplizierter", sage ich. „Es war sozusagen ein Unfall, dass ich jetzt hier bin. Ich bin ... kein Fan des Balls."

Kaida scheint einen Augenblick zu überlegen, dann nickt sie langsam. „Du glaubst auch nicht daran, oder? Dass dort oben alles mit rechten Dingen zugeht?"

Ich lache auf. „Nein. Nein, das glaube ich wirklich nicht. Du ... Du etwa auch nicht?"

„Nein!" Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen und ihr Blick verfinstert sich.

„Und wie kommst du darauf, dass es mir genauso geht?"

Nun grinst sie. „Deine Klamotten haben dich verraten. Und deine Haare. Nimm es mir nicht übel, aber du siehst aus, als wärst du gerade erst aufgestanden. Und angezogen bist du eher, als würdest du zur Arbeit gehen. Ich meine, das ist nicht böse gemeint, du siehst super aus, aber man sieht dir einfach an, dass du maximal keinen Bock auf diesen Quatsch hast."

Ich lache erneut. „Gut beobachtet. Das gleiche gilt für dich. Darf ich dich was fragen?"

„Klar. Immer."

„Warum hast du dich beworben, wenn du die ganze Sache so kritisch siehst?"

Sie schluckt und schließt für einen kurzen Augenblick die Augen. Als sie sie wieder öffnet, erkenne ich darin puren Schmerz. „Letztes Jahr ist meine Freundin nach Celestria gegangen", sagt sie leise. „Lyra. Sie hat immer vom Ball geträumt. Ich weiß, dass sie mich niemals freiwillig verlassen hätte, aber sie ist nicht zurückgekehrt. Ich weiß nicht, was dort oben vor sich geht, Cinna, aber es kann nichts Gutes sein. Dieses Jahr habe ich mich beworben, um Lyra zu suchen. Ich werde sie zurückholen."

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now