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„Ich kann es immer noch kaum glauben."

Ehrfürchtig starre ich das ziegelrote Backsteingebäude an, das vor mir und meiner Schwester in die Höhe ragt. Die Sonne steht hoch am Himmel und spiegelt sich in den hohen schmalen Fenstern der oberen Stockwerke, und so muss ich die Augen mit meiner linken Hand abschirmen, während die Finger der rechten sich noch immer um den Griff meines Koffers klammern. Efeu rankt sich die Wände empor und sorgt dafür, dass die Akademie ein bisschen weniger klobig wirkt, verleiht ihr gemeinsam mit den verschnörkelten dunklen Eisentoren am Eingang eine Art klassischer Eleganz. Die Bäume im Park daneben wiegen sich im sanften Sommerwind und sorgen dafür, dass das Außengelände im Schatten liegt.

Etwas in meinem Magen flattert vor Aufregung.

Was ich sagte, ist die Wahrheit. Dieser Tag und alles, was in den vergangenen Wochen geschehen ist, fühlt sich an wie ein Traum. Wie ein besonders schöner Traum, zugegeben. Einer von der Sorte, von denen man denkt, dass sie sich sowieso niemals erfüllen können, weil sie viel zu unrealistisch sind.

Die Akademie ist riesig, fast schon monumental. So viel größer als die Häuser, die ich aus Delerani gewohnt bin. Dort haben wir in einer rundlichen kleinen Hütte gewohnt, fast kugelförmig und strahlend weiß, wie die anderen reicheren Bewohner des kleinen Küstenortes. Sie war hübsch und sauber und mit dem neusten technischen Schnickschnack ausgestattet, trotzdem war sie nur ein winziger Bruchteil dessen, was Vel sich eigentlich hätte leisten können. Doch Bescheidenheit war meiner Schwester schon immer wichtig gewesen und eine Sache, die unsere Eltern uns von klein auf eingebläut hatten, war die: Es gibt keinen Grund, stolz auf unser Geld oder unseren Status zu sein, denn beides haben wir nur einem großen Haufen Glück zu verdanken.

Genau das ist es, woran ich jetzt denken muss, denn auch, dass ich fortan wirklich hier leben und studieren darf, habe ich Glück zu verdanken. Glück und der Hartnäckigkeit meiner Schwester; ich selbst hätte vermutlich niemals gewagt, mich hier zu bewerben.

Ich atme einmal tief durch. Die Luft ist tagsüber warm und schwül, doch der schwere Salzgeruch, den ich von zuhause gewöhnt bin, fehlt. Kurz erfasst mich eine eigenartige Wehmut, dann reißt mich Vels Stimme aus meinen Gedanken.

„Glaub es ruhig", sagt sie. Endlich wende ich den Blick von dem altehrwürdigen Gemäuer ab und schiele zu meiner Schwester. Sie grinst. „Ich bin fast ein bisschen neidisch auf dich."

„Warum das denn?", frage ich überrascht. „Du warst doch selbst an Mr Winterbournes Akademie."

„Die Betonung liegt auf war", sagt sie und seufzt. „Die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei, Anja. Zumindest für mich. Aber ja, ich war hier und es war die Zeit meines Lebens, das kann ich dir sagen. Du kannst dich schon mal auf ausschweifende Partys, wilde Nächte und die heißesten Typen der Weltgeschichte einstellen." Ihr Grinsen wird noch ein wenig breiter und sie wackelt anzüglich mit den dunklen Brauen.

Ohne es zu wollen, steigt mir Hitze in die Wangen, wie immer, wenn meine Schwester so etwas andeutet. Was lächerlich und kindisch ist, ich bin schließlich alt genug. Trotzdem – es sollte per Gesetz verboten werden, dass größere Geschwister gegenüber kleineren solche Anspielungen machen dürfen. Ich boxe Vel gegen den Arm und lenke schnell vom Thema ab.

„Ich dachte, du hättest deine gesamten Lehrjahre an der Akademie mit Lernen und ehrenamtlichen Tätigkeiten verbracht?", hake ich nach, stemme die freie Hand in die Hüfte und lege eine gespielte Spur Entrüstung in meine Stimme. „Sag bloß, du hast mich angelogen, Velaria Crimson?"

Sie lacht. „Na, eine Heilige war ich ganz sicher nicht."

Zweifelnd blicke ich erneut an dem Gebäude empor. Von außen sieht es nun wirklich nicht nach Sex und wilden Partys aus – eher ein bisschen bieder. Anständig. Unschuldig. Passend zu mir.

„Komm, wir gehen rein. Die erwarten uns bestimmt schon", sagt Vel und wirft mir einen auffordernden Blick zu. Ich schlucke. So richtig bereit fühle ich mich noch nicht, aber das wird sich so schnell wohl nicht ändern, also gebe ich mir einen Ruck. Eine weitere Weisheit meiner Schwester ist die: Wenn dir etwas Angst macht, dann stelle dich. Die meisten Dinge sind bei näherer Betrachtung nämlich gar nicht mehr so furchteinflößend.

What happened at Winterbourne AcademyWhere stories live. Discover now