Meine Beine drohten unter mir nachzugeben und ich hatte das Gefühl zu vergessen, wo oben und wo unten war.
"Was bist du?" Obwohl meine Stimme so leise und stimmlos war, hallte sie durch den großen Eingangsbereich.
"Ich habe es dir bereits gestern gesagt. Ich bin ein Wesen der Nacht. Ein verfluchter Mann.", antwortete er und sein Blick brannte sich in meine Haut.
"Also bist du wie diese Vampire? Diese Wesen, die mich und meine Schwester angegriffen haben?"
Kurz blitzte etwas in seinen Augen auf. "Nein. Das war einfach Fußvolk. Ich und meine Leute sind etwas anderes. Wir brauchen kein Blut um zu überleben. Du erinnerst dich an den Krieg, den ich erwähnte?"
Ich nickte.
"Das war die Gegenseite.", erklärte er, als wäre es das normalste der Welt. "Du kannst sie Vampire nennen, wenn es so für dich leichter ist. Ich bin stärker als die im Wald. Ich bin schneller und schlauer."
Schmerzgepeinigt rieb ich mir über die Knie, mit denen ich auf dem Boden aufgeschlagen war, als er mich überrascht hatte.
"Was hab ich damit zu tun? Warum bin ich hier? Ich verspreche dir, wenn du mich gehen lässt, musst du mich nie wieder sehen. Ich werde nichts sagen!", bettelte ich und neigte demütig den Kopf ein wenig.
Adrien seufzte und die schwarzen Flügel hinter seinem Rücken verloren an Spannung. Er schien sich zu entspannen. Kurz darauf waren sie komplett verschwunden, als wäre das alles nur eine Illusion meines Kopfes gewesen.
Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich jetzt gerne in Ohnmacht gefallen oder aufgewacht, für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass das hier alles doch nur ein Traum war.
Oberkörperfrei setzte er sich mir gegenüber auf den kalten Boden. "Es tut mir leid, dass du so in das Ganze reingezogen wurdest. Aber bitte versteh doch, dass ich dich nicht gehen lassen kann. Du bekommst was du willst, aber deine Freiheit, kann ich dir momentan nicht geben."
"Weißt du was?" Ich lächelte traurig und merkte, wie Tränen sich in meinen Augen bemerkbar machten. "Fick dich!"
Vor mir knurrte Adrien bedrohlich. Seine Augen waren dunkler geworden. Das konnte nicht wahr sein! Augen änderten nicht einfach mal eben nach Belieben ihre Farbe. Ich sah noch einmal hin. Es stimmte.
Und dann war es soweit: In meinem Kopf brannte eine Sicherung durch.
Ich sprang auf und schoss unter seinen Armen hindurch auf die große Tür zu. Wie eine Verrückte rüttelte ich an dem Griff. Aber sie war verschlossen. Natürlich war sie das. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn es anders gewesen wäre.
"Komm schon!", brüllte ich und sah mich nach einer anderen Möglichkeit um. Eine Figur aus Eisen die neben der verschlossenen Tür stand, erweckte meine Aufmerksamkeit. Ohne zu Zögern rannte ich zu ihr und hob sie hoch. Ja sie war schwer.
"Talia!", ermahnte er mich laut. Offenbar ahnte er was ich vorhatte. Doch das war mir egal.
Dann warf ich die Figur durch das große ebenerdige Fenster. Mit einem gewaltigen Klirren zersprang die Scheibe in unzählig viele tausend Teile. Scherben prasselten auf mich nieder und ich zog den Kopf ein. Auf meinen Armen waren ein paar blutige Striemen sichtbar, doch das interessierte mich nicht im geringsten.
Ich dachte nicht weiter nach und sprang schnell aus dem Fenster. Mit dem rechten Bein blieb ich an einem Stück Glas hängen, dass sich nicht von seinem ursprünglichen Platz trennen wollte und riss mir das Schienbein auf. Das Blut, dass durch meine Hose sickerte, bemerkte ich nicht einmal.
Die Freiheit war zum Greifen nah.
"TALIA!!!", donnerte seine Stimme. Dann berührten meine Füße den Boden und ich stürmte los. Es war ungewöhnlich frisch für Ende Juli. Der Wind fuhr kräftig durch meine Haare und trieb mir Tränen in die Augen.
Ich war definitiv nicht mehr in meiner Heimatstadt, geschweige denn in der Nähe davon.
Kam es mir nur so vor, oder waren das tatsächlich Wellengeräusche? Viel Zeit mir darüber Gedanken zu machen hatte ich eh nicht mehr, denn von hinten riss mich etwas zu Boden. Doch ich sprang sofort wieder auf die Füße.
Mit jedem Schritt vorwärts, wurde das Geräusch der Brandung lauter. Wo hatte er mich hingebracht? Dann waren da plötzlich aufgebrachte Schreie hinter mir. Eine Schar aus Wesen der Schatten kam auf mich zu. Ihre Gesichter waren jedoch nicht wütend. Nein, komischer Weise sahen sie besorgt aus. Eine andere Frage kam mir in den Sinn: Warum flogen sie nicht? Wenn sie nicht flogen, hatten sie Angst gesehen zu werden...
Und das wiederum hieß, dass hier irgendwo andere Leute waren.
"HALT AN!!! VERDAMMT TALIA!!!", riefen verschiedene Stimmen gleichzeitig durcheinander. Aber ich dachte gar nicht daran. Und dann plötzlich war vor mir kein Boden mehr.
Mit einem lauten "O-Oh!" machte ich im letzten Moment einen Schritt zurück und landete unsanft auf meinem Hintern. Langsam rappelte ich mich wieder auf und warf vorsichtig einen Blick über die Kante. Dahinter ging es geschätzte zwölf Meter in die Tiefe. Gewaltige Wellen knallten gegen das sandige Kliff und fraßen unersättlich an Stein und Sand. Als ich einen Blick zurückwarf, standen die Wesen aus Schatten um mich herum und schlossen mich ein. Hinter mir war nichts und vor mir ein paar aufgebrachte Wesen der Nacht.
Vorsichtig machte ich einen Schritt weiter nach hinten. Weg von diesen Bestien.
Jetzt spürte ich auch meinen geschundenen Körper. Der Sand unter meinem rechten Bein war bereits hellrot. Die Schnitte auf meinen Armen schmerzten ebenfalls.
Ich ging noch einen Schritt zurück. Und noch einen. Meine Ferse schwebte bereits über dem Abgrund.
"Stop.", hörte ich Adriens Stimme und kurz darauf schritt er zwischen zweien seiner Soldaten hindurch.
"Talia! Geh nicht weiter."
Ich blickte ihn an.
"Bitte!" Seine Stimme war so unglaublich schön. Verlockend. Sanft. Auf seinem Gesicht war ernsthafte Angst zu sehen.
"Ich bleibe stehen wann ich will!", fauchte ich und rutschte noch weiter zurück. Seine Augen wurden groß.
"Talia, komm da weg und wir reden in Ruhe über alles. Ich verspreche dir, dass du es verstehen wirst.", erzählte er sanft und aus irgendeinem Grund, glaubte ich ihm.
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Er blickte zur Seite und schluckte langsam. Seine Kiefermuskeln zuckten kurz. Dann sah er mich wieder an.
"Ich bitte dich.", sprach er gutmütig. "Komm da weg. Ich brauche dich."
Ich lachte bitter auf.
"Deine Schwester braucht dich.", sagte er dann.
Ich stockte. Mary. Mein Herz schmerzte, wenn ich an sie dachte. Ihr niedliches kleines Lachen. Ihre süßen Zöpfe. Ihr Schmollmund, wenn sie etwas nicht bekam.
"Es ist für sie kein Unterschied wo ich bin. Ich bin nicht für sie da. Weißt du wie sich das anfühlt? Es tut weh. Es tut verdammt weh.", meinte ich leise und die erste Träne löste sich aus meinem Auge und lief mein Gesicht hinab. Der Wind zog an meiner Kleidung und spielte mit meinem Haar.
"Nein, das wusste ich nicht. Aber wir wissen beide, dass du von der Klippe wegkommen willst, bevor noch etwas unsagbar schlimmes passiert. Wir gehen zurück und vergessen was hier passiert ist, okay?" Er lächelte wunderschön und hielt mir seine Hand entgegen. Ich sah darauf und traf meine Entscheidung.
Tränen liefen unaufhaltsam über meine Wangen und hinterließen eine kalte Spur auf meinem Gesicht.
Plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung war und realisierte, dass sich von links einer seiner Soldaten angeschlichen hatte.
Erschreckt trat ich einen Schritt nach hinten.
Einen verdammten Schritt zu weit.
Ich verlor das Gleichgewicht und fiel.
Ein erstickter Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich versuchte mich irgendwo festzuhalten, aber da war nichts.
"NEIN!", hörte ich Adrien schreien.
Wenn man sein Leben liebt, denkt man nicht viel über den eigenen Tod nach. Die meisten Menschen möchten niemals sterben, das liegt in den Genen.
Man möchte jeden schönen Moment festhalten und nie wieder loslassen. Man möchte nicht vergessen werden. Aber das schaffen die wenigsten. Wer denkt in zwanzig Jahren noch an mich, wenn ich jetzt sterbe?
Meine Familie wird nie erfahren, was aus mir geworden ist. Vielleicht haben sie mich schon vergessen.
Wie fühlt sich sterben an? Leicht. Sterben ist leicht
Wie Schneeflocken die zu Boden segeln.
Wie das Spiel des Windes mit meinen Haaren.
Leicht wie Sonnenlicht auf der Haut zu spüren.
Leicht, wie lachen.
Leicht, wie atmen...
Leicht, wie sterben...
Über mir sah ich den blauen Himmel. Ein letztes Mal. Ich lächelte. Dann schloss ich die Augen und dachte an gar nichts. Ich fiel einfach.
Und dann tauchte ich ein in eine andere Welt. Eiskaltes Wasser presste mir den letzten Rest Sauerstoff aus den Lungen und trieb mich fort.
Es war vorbei.
Sterben war leicht. Leicht wie ein Schritt. Ein Schritt in die Freiheit.