Verstand und Alkohol?

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Es war inzwischen fast zwei Wochen her, dass unsere Sachen angekommen waren. Alles hatte seinen Platz gefunden und ich hatte mich eingelebt.
Ja, man konnte fast sagen, dass der Alltag uns eingeholt hatte.
Aber eben nur fast. Adrien war oft nicht da und von Rafael und Jake bekam ich keine Antwort auf meine Frage nach seiner Abwesenheit oder Tätigkeit. Und das machte mich schier wahnsinnig! Es lief gerade so gut zwischen uns, allerdings nur, wenn er mal da war. Natürlich wusste ich, dass wir noch immer in Gefahr waren und Nassim irgendwo dort draußen auf uns wartete.
Auch das wir von Cam seit Wochen noch nicht das kleinste Lebenszeichen hatten, bereitete uns Sorgen. Mir mehr als Adrien, aber trotzdem... Er war sein Bruder! Und auch wenn es nicht den Anschein machte, dass Adrien Cam vermisste, so war er genauso beunruhigt wie ich. Nur mit dem Unterschied, dass er das nicht zugeben wollte.
Letztlich waren es doch Kleinigkeiten die mir fehlten. Mein Handy. Das Internet. Meine Freunde. Das unbewachte Rausgehen.
Ich hatte das Gelände seit wir hier angekommen waren noch nicht einmal verlassen. Ich hatte noch nicht einmal eine der anliegenden Städte besucht. Nicht, das diese gleich um die Ecke lagen. Nein! Auch hier war weit und breit kein anderes Haus zu sehen.
Nur nicht zu nah an die Zivilisation... Sie könnte einen ja auffressen!

„Kannst du lauter machen?", fragte ich Jake als eines meiner Lieblingslieder im Radio lief. Wenn ich Langeweile hatte, - und das hatte ich in der letzten Zeit eigentlich nur - kam ich immer hier runter in die Garage und bastelte an meinem Dodge herum.
Inzwischen sah ich Jake fast öfter als Adrien. Rafael behauptete zwar dauernd, dass Adrien wichtige Sachen zu regeln hatte. Aber ich ahnte, dass da noch mehr war.
Er rollte unter seinem „neuen Projekt" heraus, lächelte mich an und ging zur Stereoanlange.
„Klar!", antwortete er und keine Sekunde später dröhnten die ersten Töne von Starset und ihrem Lied „My Demons" durch die riesige Garage.
Lautlos sang ich den Text mit, als ich meine alten Reifen an die Seite rollte und die neuen nacheinander auspackte. Der Geruch von frischem Gummi stieg mir sofort entgegen und ich musste unwillkürlich grinsen.
Adrien hatte nicht einfach nur neue Reifen bestellt, sondern auch eine neue Felge und diese hatte er gleich mit draufmontieren lassen. 22 Zoll und schwarz.
Adrien hatte einen guten Geschmack, was seine Autos anging. Das musste ich ihm lassen.
„Hätte gar nicht gedacht, dass du so etwas hörst.", meinte Jake grinsend als das Lied zu Ende war und half mir die Reifen auf die Rad-Achse zu wuchten.
„Tja, da kannst du mal sehen.", lachte ich und machte mich daran sie festzuziehen.
„Ich hätte darauf gewettet, dass du eher dieses Hipster-Zeugs hörst.", riet er und trank einen Schluck Cola aus seiner Flasche.
„Manchmal.", gab ich achselzuckend zu, wischte mir die Hände an dem Blaumann ab und setzte mich neben ihn auf die Werkbank.
Er hielt mir die Flasche entgegen. „Willst du auch?"
Ich rümpfte die Nase. „Ich bin ehrlich gesagt nicht so der Cola-Fan.", gestand ich.
Seine Augen wurden groß. „Du magst keine Coke?"
Mit verzogenem Gesicht schüttelte ich den Kopf.
„Du magst wirklich keine 10,6 Gramm Zucker pro 100 Milliliter?", fragte er weiter.
Dies Mal schüttelte ich den Kopf lachen. „Nein. Tut mir leid. Ich bin nicht so der beste Freund von 105 Kilokalorien gequetscht auf 250 Milliliter."
Er grinste spitzbübisch. „Okay. Ich hab ja noch genug anderes Zeug hier."
Sein komischer Blick beunruhigte mich etwas. „Sollte ich wissen was du meinst?"
Sein Grinsen wurde noch breiter. „Du wirst es gleich sehen."
Er stieß sich von der Bank ab und ging zum Werkzeugschrank gegenüber. Dann klopfte er einmal fest gegen die Seite, die immer klemmte und siehe da: Sie sprang auf.
Da hinter befand sich eine große Auswahl an Alkohol.
Anerkennend pfiff ich durch die Zähne. „Nicht schlecht. Woher hast du das ganze Zeug?"
Er kicherte. „Adrien hat so viel, der merkt gar nicht, dass ihm ein paar Flaschen fehlen."
Lachend stimmte ich zu, kletterte von der Werkbank und schlenderte zu ihm rüber um selber einen genauen Blick auf die Flaschen zu werfen.
Adrien hatte also nicht nur was Autos anging einen guten Geschmack. Hier befand sich nämlich mitunter das teuerste Zeug, dass ich jemals gesehen hatte.
„Gut. Was willst du?", fragte Jake und ich sah ihn skeptisch an.
„Das dürfen wir doch eigentlich gar nicht.", warf ich ein. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Adrien würde ausrasten wenn er das erfuhr.
„Ich bitte dich!", prustete Jake. „Wenn ich mich immer an das halten würde, was der gute Herr de Manincor sagt, wäre ich vor Langeweile schon längst eingegangen."
Er holte zwei Gläser unter dem Schrank hervor und stellte sie auf den freien Tisch vor uns.
„Also: Such dir aus was du willst!", forderte er mich mutig auf.
Doch ich war mit mir selber im Zwiespalt. Zwischen Adrien und mir waren gerade alle Schranken verschwunden und jetzt sollte ich mich zulaufen lassen? Ich glaube er wäre nicht so begeistert, wenn er mich total betrunken neben Jake in der Garage finden würde.
Aber auf der anderen Seite: Was sollte schon groß passieren?
Niemand sprach davon sich zu betrinken. Es ging nur um ein bisschen Spaß und denn durfte ich mir ja wohl gönnen. Und überhaupt: Er war eh nie da!
Trotzdem. Wirklich überzeugt war ich nicht.
„Ich weiß nicht.", zierte ich mich und mein Blick wanderte zwischen Jake und den Hochprozentigen hin und her.
„Ach komm schon!", lachte er. „Wir wissen alle - und damit meine ich wirklich ALLE - dass du gerne feierst und auch kein unschuldiges Blatt bist, was Alkohol betrifft."
Ich sah ihn böse an. Das klang so als hätte ich nichts anders zu tun und das war definitiv nicht so.
Er erwiderte meinen Blick stur und nahm sich danach einfach wahllos eine Flasche und schüttete den Inhalt in beide Gläser. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit reichte ungefähr bis zur Hälfte.
Jake drückte mir eins davon in die Hand, nahm sich sein eigenes und stieß bei mir an.
„Lass es dir schmecken.", sagte er und exte sein Glas in weniger als zehn Sekunden.
Kritisch sah ich ihm dabei zu. Ich hatte die Wahl. Trinken oder Gehen.
Ich würde mit Sicherheit nicht hierbleiben, wenn er sich die Kante gab. Am Ende müsste ich ihm sonst vielleicht noch den Kopf halten, weil er zu viel hatte.
Ausatmend stellte er sein Glas ab und bemerkte erst, nachdem er es wieder aufgefüllt hatte, dass ich meins noch unentschlossen in der Hand hielt.
„Ich kann dich nicht dazu zwingen es zu trinken, wenn du nicht willst. Ich denke nur, dass du auch mal wieder loslassen solltest, nach dem ganzen Dreck den du in den letzten Monaten erlebt hast. Bist du es nicht leid, dir die ganze Zeit den Kopf da drüber zu zerbrechen? Du kannst all das heute Abend vergessen. Vergiss deine Verpflichtungen gegenüber Adrien. Er ist eh nicht da um dich aufzuhalten. Ertränk deine Gedanken und Grübeleien einfach mal. Keiner wird dir deswegen einen Vorwurf machen können. Hörst du? Keiner. Nicht einmal Adrien. Und auf Rafael den alten Spießer pfeifen wir einfach mal." Seine Worte waren wirklich sehr überzeugend. Allerdings funkelten seine Augen während er sprach gefährlich.
Wollte ich das wirklich? Ich meine... Adrien würde das nicht gutheißen. Mit Sicherheit nicht.
Aber Adrien war nun mal nicht hier. Und das war FAKT!
Ich atmete tief ein, führte das Glas an meine Lippen und kippte den Inhalt hinunter. Die Flüssigkeit brannte in meinem Hals. Es war ein gewohntes Gefühl und ich sah die Zufriedenheit in Jakes Blick, als ich fertig war.
„Mehr!", verlangte ich und entschloss, dass mir jetzt einfach alles egal war. Jake lachte rau und füllte mein Glas wieder auf.
„Na also!", jubelte er, nachdem auch der Inhalt wieder in meinem Körper verschwunden war.
Die Gläser danach zählte ich nicht mehr. Jake schaltete die Musikanlage wieder ein und wir begannen wild zu tanzen. Der Bass dröhnte laut in meinen Ohren und ich war in meinem Element.
Wir lachten unglaublich viel, wahrscheinlich weil wir zu nichts anderem mehr fähig waren und tauschten irgendwann die Gläser gleich gegen die Flasche.
In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine „Zwei-Mann-Party", wie Jake es nannte gefeiert, aber es war fast besser als in einem Club. Erstens musste ich weder Eintritt noch die Getränke bezahlen. Zweitens: Ich war keinen billigen Anmachsprüchen ausgesetzt. Drittens: Ich konnte die Musik selber aussuchen und Viertens: Die Atmosphäre war einmalig. Ich hatte noch nie zwischen so vielen wunderschönen Autos getanzt.
Und Jake sollte Recht behalten: Mein Kopf war wie ausgeschaltet und ich ließ mich einfach fallen. Keine Schattenwesen. Keine Verpflichtungen. Kein Adrien. Keine Familie. Keine Sorgen. So einfach war das.
Draußen war es schon lange dunkel und ich wusste, dass wir langsam ein Ende finden sollten. Doch ich war viel zu betrunken um auf das letzte Fünkchen Verstand in meinem Kopf zu hören.
Und so kam es wie es irgendwann kommen musste:
Die Musik verstummte plötzlich und ich stoppte mitten in der Bewegung.
Da war ein Blick in meinem Rücken. Ein bekannter Blick.
Langsam ließ ich die Arme mit der Flasche in der Hand sinken und drehte mich um.
Ein paar eisblaue Augen sahen mich mit einer Mischung aus Unglauben, Wut und Belustigung an.
„Talia?", fragte Adrien.
Oh! Das war so nicht geplant.
Ich wusste, dass jetzt der richtige Zeitpunkt wäre um ihm eine Erklärung zu liefern. Aber dank des Alkohols war mein Kopf so leer wie schon lange nicht mehr und so war das einzige was ich rausbrachte:
„Hi!"

Schwingen der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt