Einmal Ana, immer Ana.

بواسطة Tanja_the_Cat

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Sahra, ein durchschnittliches Mädchen von einer Sekundarschule, das keine größeren Probleme, als das Bewältig... المزيد

Liebe Ana, Wie alles begann
Erste Recherchen
Hallo Ana
Schule und ein Nutella Brötchen
Anas Erstes Gebot
Anas Zweites Gebot
Anas Drittes Gebot
Sport, Sport, Sport!
Wo bist du?
Die Stimme in ihrem Kopf
Anas Viertes Gebot
Verlangen
Rückschlag
Ihre beste Freundin
Anas Fünftes Gebot
Fast vergessene Hausaufgaben
Kaloriengrenze
Perfektion
Anas Sechstes Gebot
Der Drang zu essen
„Sie haben ihr Ziel erreicht"
Anas Siebtes Gebot
Ein Schritt näher
Entscheide dich
Kino
„Lass uns tanzen"
VERGESSENE Hausaufgaben
Vorbereitungen
Kein Frühstück und schlechte Witze
Das Korallenriff
Filmabend
„Schreib es auf"
Anas Achtes Gebot
Bummeln durch die Stadt
Anas Neuntes Gebot
Fressanfall
Gegenmaßnahmen
Kalt, so kalt
Neues Ziel
„Hunger hurts but starving works"
Die Waage
Gezwungen
Herr Bahlea schöpft Verdacht
Wieder Sport
Okay
Der Termin
Was die Waage zeigt
Anas Zehntes Gebot
Der Brief ist beendet
Zurück im Alltag
Nachwort/Danke
Schamlose Eigenwerbung

Außer Haus

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بواسطة Tanja_the_Cat

Der Freitag brach eisig und mit wolkenbedecktem Himmel an. In der Nacht war die Temperatur konstant unter Null Grad geblieben doch auch tagsüber wurde es kaum wärmer. Von der nächtlichen Kälte bekam Sahra zum Glück nichts mit, da sie diese Nacht wieder mit ihrer kuscheligen und schützenden Decke schlafen konnte. Sie hatte es geschafft Ana zu überreden ihr deswegen nicht böse zu sein, da sie davor ja so fleißig Sport gemacht hatte und Ana war gnädig gewesen. So war das erste Empfinden nach dem Aufwachen nicht stechende Kälte auf ihrer freien Haut, sondern die wohlige Geborgenheit ihres Bettes mit samt Decke. Noch etwas schlaftrunken suchte sie unter dem Kopfkissen nach ihrem Handy um die Zeit zu überprüfen. Sie hatte noch drei Minuten. Drei Minuten, in denen sie die wunderbare Wärme noch etwas genießen konnte. Dann musste sie aufstehen. Sie schloss noch einmal kurz die Augen. Doch wenige Sekunden später, zumindest kam es Sahra so vor, riss ihr zweiter Handy Wecker sie aus dem leichten Dösen, in das sie verfallen war. Nicht wirklich wacher ließ sie den Wecker verstummen und stöhnte einmal auf. Warum war das Bett morgens, wenn man aufstehen musste, eigentlich immer am wärmsten, weichsten und bequemsten? Das machte die gesamte Prozedur des Aufstehens nur noch schwieriger. Langsam stemmte sie sich hoch. Durch ihre Arme, den Rücken, Bauch und sogar die Beine schoss ein starker, ziehender Schmerz. Ihre Muskeln taten unheimlich weh. Das war auch nicht verwunderlich, dachte Sahra, da sie gestern viel, wirklich viel Sport gemacht hatte. Sie hatte zwar nicht auf die Uhr geguckt aber sie vermutete, dass es mindestens drei bis vier Stunden (die Pausen nicht mitgezählt) gewesen waren. Es war sehr spät und stockdunkel gewesen (gut, im Winter nichts besonderes), als sie sich erschöpft, schweißbedeckt, keuchend und mit brennender Lunge endlich dazu entschlossen hatte aufzuhören. Mit einem Kopf, der sich anfühlte, als hätte man ihn mit einem Brecheisen behandelt und zitternden Beinen hatte sie die Sportklamotten abgelegt, sich ihre normalen Sachen übergeworfen und sich ins Bad gekämpft, das Gott sei dank leer war. Ihre Mutter war im Wohnzimmer und ließ sich wohl vom Fernseher berieseln. Als sie vor den Spiegel trat musste sie fast lachen. Ihre Haare, die sie zwar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, waren zerzaust und der Zopf hatte sich gelockert, sodass einige kurze Strähnen heraushingen und ihr Gesicht umspielten. Ihr Gesicht... Es war komplett rot angelaufen und schien zu glühen. Die Stirn glänzte schweißnass und unter ihren Augen traten die ersten Anzeichen für Augenringe deutlich hervor. Alles in allem sah sie katastrophal aus, aber das war sie inzwischen irgendwie gewohnt. Sie sah immer furchtbar aus, aber sobald sie dünn wäre, wäre das Vergangenheit. Ja, wenn sie dann endlich dünn wäre, sähe sie ganz anders aus, das wusste sie. Perfekt. Sie wandte den Blick vom Spiegel ab und machte sich daran sich komplett auszuziehen. Denn sie wollte duschen. Kurz den Schweiß abduschen und danach sofort ins Bett. Zu mehr war sie heute nicht mehr in der Lage. Die Klamotten kamen in die Wäsche, sie legt sich ein Handtuch bereit und band sich die Haare zu einem Dutt, damit sie nicht nass wurden. Einmal kniff sie sich noch in die Seite, nur um zu gucken, wie viel Fett noch vorhanden war, dann stieg sie in die Duschkabine. „Nur schnell den Schweiß abduschen", sagte sie sich, „dann kann ich schlafen". Kurz überlegte sie, ob sie nicht doch mal versuchen sollte kalt zu duschen. Einfach das Wasser auf kalt drehen und sich unter den Duschkopf stellen, das verbrauchte ja auch einige Kalorien. Ihre Hand wanderte schon zur Wärmeregulierung, doch hielt sie inne. Nein. Nein das würde sie nicht machen. Sie konnte Kälte auch so schon kaum aushalten und kalt duschen würde sie niemals schaffen! Außerdem bestand nicht einmal eine Notwendigkeit. Sie hatte heute durch den ganzen Sport doch schon genug verbrannt, das reichte.
Nachdem sie fertig war drehte sie das Wasser ab und trocknete sich mit dem Handtuch schnell ab. Dann arbeitete sie hastig noch ihre restliche Abend Routine ab, wünschte ihrer Mutter müde eine gute Nacht und schlurfte den Flur entlang in ihr Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Mit gerade einmal noch halboffenen Augen wickelte sie die Decke fest um sich, schaltete das Licht aus und wollte sich gerade der Erschöpfung hingeben, als Ana sich wieder meldet. Sie sagte, es wäre gut, würde sie das Fenster öffnen und die Decke wieder weglassen, um noch ein paar Kalorien mehr zu verbrennen. Doch Sahra hatte müde, aber überzeugend erwidert, dass sie doch schon so viel Sport gemacht hatte und ob das nicht erst mal reiche, formal sie doch eh vorhatte morgen zu fasten und somit auch keine Kalorien dazu kämen. Und Ana hatte gelächelt und ihr gesagt, dass sie Recht hatte. So wand Ana nichts mehr gegen die Decke ein und wünschte Sahra noch eine gute Nacht, sodass in ihrem Kopf wieder Stille eintrat. Und nach einigen Minuten war sie eingeschlafen.

Gestern, als sie ins Bett gegangen war, hatte sie noch keinen Muskelkater gehabt, doch jetzt machte er sich deutlich bemerkbar. Ächzend stand sie auf. Schwarze Punkte erblühten vor ihren Augen und durch ihren Kopf zog sich ein gewaltiger Schmerz. Sie griff sich an die Schläfen und kniff die Augen zu. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie zurück auf das Bett zu fallen, sie taumelte kurz, fing sich dann aber wieder. Der Schmerz, der in ihrem Schädel pochte war etwas abgeflaut und auch die schwarzen Flecken waren entschwunden. Sie ging vorsichtig zu ihrem Kleiderschrank, kramte nach neuen Anziehsachen und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie an der Küche vorbei kam warf sie einen Blick auf ihren Sitzplatz. Es lag kein vorgefertigtes Essen dort. Sehr gut. Naja, zumindest noch nicht, denn ihre Mutter war gerade dabei etwas, anscheinend eine Brötchenhälfte, zu beschmieren. Sahra betete, dass das nicht für sie gedacht war.
Doch wurden ihre Gebete nicht erhört. Kaum hatte sie das Bad wieder verlassen und war in die Küche gegangen, lagen zwei Brötchenhälften, die eine mit Marmelade, die andere mit Nutella beschmiert, auf Ihrem Teller. Alleine das zu sehen reichte aus, um in ihr Wut hochkochen zu lassen. Warum zur VERFICKTEN HÖLLE ließ ihre Mutter sie nicht einfach in Ruhe?! Was war ihr Scheiß Problem, dass sie sie jetzt immer zum Essen zwingen wollte?! Sie starrte erst den Teller, dann Marlene böse an. Als sie sprach versuchte sie ruhig zu bleiben, was schwierig war, da sie gerade am liebsten einen Tobsuchtsanfall gehabt hätte.
„Ich esse morgens Obst", sagte sie.
Obst", betonte sie noch einmal. Marlene, die an der Küchentheke lehnte, seufzte. „Heute wirst du aber bitte das hier essen." Sie zeigte auf Sahras Platz. „Formal du gestern ja nichts mehr mit mir zu Abend gegessen hast." Sie wurde immer wütender. „Ich. Esse. Morgens. Obst", knirschte sie mit aufeinander gepressten Zähnen. „Und das weißt du." Marlene schüttelte den Kopf. „Heute aber nicht. Und jetzt bitte, komm setz dich und iss." Kurz verharrte Sahra noch in der Tür, dann stampfte sie zu ihrem Stuhl, ließ sich übertrieben laut darauf fallen und knallte die Hände auf den Tisch. Sie starrte ihre Mutter weiter böse an, dann blickte sie zu den beiden Brötchenhälften. Marmelade und Nutella. Und das musst du sie jetzt essen. Nein! Das Nutella Brötchen würde sie nicht anrühren, das stand außer Frage! Mit leicht bebender Hand ergriff sie die Marmeladenhälfte. Marlene beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sie führte das Brötchen zum Mund, hielt dann aber inne.
„Ich muss meine Tasche noch packen", flüsterte sie.
„Was?", fragte Marlene nach. Sie hatte ihre Tochter nicht verstanden.
„Ich muss meine Tasche noch packen!", schrie Sahra schon fast und sah mit einem so zornigen Blick zu ihrer Mutter, dass, wenn Blicke töten könnten, diese auf der Stelle tot umgefallen wäre. Marlene atmete einmal durch, dann sagte sie ruhig: „Erst isst du, danach kannst du deine Tasche packen." Noch einmal warf Sahra ihrer Mutter einen vernichtenden Blick zu, dann blickte sie wieder auf das Brötchen. Scheiße noch eins, wie sollte sie es schaffen weiter abzunehmen, wenn sie jetzt auch noch Marmelade essen musste?
„Ist okay", funkte Ana zwischen ihren wütenden Gedanken. „Du weißt doch noch, was wir abgesprochen hatten. Wenn es die Umstände nicht anders zulassen und es absolut keinen Ausweg gibt, dann musst du wohl oder übel essen. Wenn es nicht anders geht, muss es eben so sein. Aber dafür musst du was zum Ausgleich machen. Und du weißt auch was. Entweder Sport oder, falls Sport nicht geht, umherlaufen. Hauptsache du verbrennst die Kalorien wieder." Innerlich nickte sie Ana zu. Dann biss sie zögernd in das Brötchen. Sie aß sehr langsam, kaute jeden Bissen unnötig oft und trank viel Saft dazwischen. Ja, Saft. Ihre Mutter hatte ihr auch noch ein kalorienhaltiges Getränk aufgezwungen. Fast sieben Minuten brauchte sie für die eine Hälfte, dann starrte sie die mit Nutella an. Nutella! Das konnte sie unmöglich essen! Ihr Blick zuckte wieder zu ihrer Mutter.
„Ähm...", sagte sie. „Muss ich das jetzt noch essen? Ich äh, bin wirklich satt." Sie lehnte sich zurück, wobei ihr Shirt leicht nach oben rutschte und so einen kleinen Teil ihres Bauchs offen lag. Ihres aufgeblähten, runden, fetten Bauchs. Widerlich, absolut widerlich.
„Die andere Hälfte isst du trotzdem." Marlene hatte die Arme verschränkt und sah ihre Tochter mit festem Blick an. Sahra überlegte. Was könnte sie noch sagen, damit sie die Nutella nicht essen musste? Niemals würde sie Nutella essen! Irgendwie musste sie es schaffen sich hier heraus zu manövrieren.
„Äh, aber", setzte sie wieder an, „ich bin echt richtig satt. Mir ist schon fast ein wenig schlecht, ich schaffe das da wirklich nicht mehr." Sie wies auf ihren Teller. Doch ihre Mutter sah sie weiterhin an und sagte: „Du isst das jetzt aber trotzdem."
Eine neue Woge der Wut überschwemmte Sahra und sie giftete Marlene sofort zornig an: „Willst du, dass ich kotzen muss?!" Sie verschränkte ebenfalls die Arme und funkelte ihre Mutter böse an. Kurz herrschte Stille in der Küche, dann stieß Marlene laut die Luft durch die Nase aus.
„Gut", sagte sie. „Aber wenn du es schon nicht isst, dann nimmst du es zumindest mit in die Schule. Dann isst du es dort." Sie drehte sich um und holte eine Brotdose aus einem der Küchenschränke hervor. Sahra atmete erleichtert auf. Ein Glück, sie musste das Nutella Brötchen nicht essen. Das wäre wirklich das Schlimmste gewesen, was hätte passieren können. Und wenn sie das Brötchen mit in die Schule nahm konnte sie es auf dem Weg dahin ganz leicht entsorgen. Diese Situation hatte sie überstanden. Sie stand auf.
„Kann ich jetzt meine Tasche packen?", fragte sie, noch immer leicht angepisst.
„Ja", antwortete ihre Mutter knapp. Sahra verließ hastig die Küche und knallte die Tür hinter sich zu. In ihrem Zimmer suchte sie sich ihre benötigten Schulmaterialien zusammen und verstaute sie in in ihrer Mappe, dann ließ sie sich auf die Couch fallen.
Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Sie hatte etwas gegessen. Die war gezwungen gewesen etwas zu essen. Und dann auch noch ein halbes Brötchen mit Marmelade!
Warum? Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. Warum?! Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Haut. WARUM?!
Sie begann voller Zorn auf das ihr Nächstliegende Kissen einzuschlagen. Immer wieder versenkte sie ihre Faust in dem weichen Stoff und gab unterdrückte Schreie von sich. WARUM ZUR VERFICKTEN HÖLLE NOCH EINS?! Sie packte das Kissen und schleuderte es durch den Raum. Es klatschte gegen die Wand und fiel mit einem Rascheln zu Boden. Sie schnappte sich das nächste Kissen und pfefferte es in die selbe Richtung. Als sie ein anderes Kissen griff und auch dieses werfen wollte trat Ana vor sie. Sahras Arm erstarrte in der Luft.
„Ganz ruhig, ja?", sagte Ana besänftigend. „Ganz ruhig."
„Ach halt die Klappe!", schrie Sahra in ihrem Kopf und schmiss das Kissen in ihrer Hand nach ihr. Es flog geradewegs durch ihren Oberkörper hindurch, traf die Wand und gesellte sich zu den anderen auf den Boden. Ana umschloss Sahras Handgelenk und drückte ihren Arm runter.
„Kissen zu schmeißen wird dir nicht viel helfen", sagte sie ruhig. Die andere Hand legte sie auf Sahras Schulter. „Jetzt nicht gleich durchdrehen. Das ist noch lange kein Weltuntergang. Du weißt doch, was du nach solch einer Situation tun musst. Einfach die Kalorien verbrennen, dann ist alles wieder gut, ja?" Sahra atmete tief durch. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und nickte. Ja. Sport. Sport musste sie machen, Kalorien verbrennen. Ganz ruhig Sahra. Wie Ana bereits sagte, das ist kein Weltuntergang. Das war nur ein unerfreuliches Zwischenereignis. Jetzt einfach noch so viel Sport wie möglich machen und den Rest des Tages fasten. Das musste sie hinbekommen.
„Und du musst noch aufschreiben wie viele Kalorien dein Essen gerade hatte", warf Ana noch ein. Sie nickte erneut. Ja, das musste sie auch noch machen.
Von ihrem unordentlichen Schreibtisch nahm sie ihr Esstagebuch, welches sie ziemlich billig unter einem bekritzelten Blatt Papier versteckt hatte und den Kugelschreiber noch dazu. Sie müsste sich eigentlich ein besseres Versteck für das Buch ausdenken, überlegt sie. Was, wenn ihre Mutter es fand? Dann wäre ganz schnell Schluss mit Abnehmen. Sie schob diesen Gedanken vorläufig beiseite. Darum konnte sie sich nachher kümmern, jetzt mussten erst einmal die Kalorien aufgeschrieben werden. Sie klickte mit dem Kugelschreiber. Wie viele Kalorien hatte ein halbes Marmeladenbrötchen? Kurz überlegte sie, dann entschied sie sich dazu Google zu befragen.
Ungefähr Einhundertundfünfzig Kilokalorien. Das trug sie für den heutigen Tag ein, dann schloss sie das Büchlein wieder. Gut, jetzt konnte sie sich ein Versteck überlegen. Nur wo? Sie scannte den Raum. Unterm Kopfkissen? Das wäre wirklich das unkreativste Versteck überhaupt. Da würde jeder zuerst nachgucken. Sie ließ den Blick weiter schweifen. Vielleicht könnte sie es ja einfach zu ihren Schulsachen legen. Ein Buch zu anderen Büchern. Doch das war ihr zu riskant. Ein kleines blaues Notizbuch fiel zwischen Schulbüchern und Heftern schon ziemlich auf. Dort passte es nicht hin. Wäre es ein Schreibblock, ein Collegeblock gewesen, dann wäre es was anderes, aber so, nein. Sie überlegte weiter, Ana neben sich ignorierend. Ein Buch zwischen anderen Büchern... Da kam ihr eine Idee. Das Bücherregal! Da könnte sie ihr Notizbuch einfach dazwischen stecken und fertig. Klar, das war ziemlich öffentlich, aber neben den ganzen anderen Büchern würde es gar nicht auffallen. Vor allem dann nicht, wenn sie es nach ganz unten stellen würde. Da wurde die Sicht durch das darüber liegende Brett versperrt, sodass man die Bücher ganz unten nicht direkt sehen konnte. Erst, wenn man sich bückte. In den unteren Regalfächern bewahrte sie ihre ausgelesenen Bücher auf, die sie nicht weggeben wollte, zusammen mit den Büchern, die sie für die Schule gelesen hatte. Sie trat vor ihr Regal, kniete sich hin und schob das Buch zwischen eine Ausgabe von Romeo und Julia, was sie letztes Jahr in Deutsch behandelt hatten und einem Band von Warrior Cats, Das Gesetz Der Krieger, was ebenso blau war wie ihr Notizbuch. Perfekt. Hier würde es bestimmt nicht auffallen. Sie kehrte zur Couch zurück.
„Und jetzt", sagte Ana, „Sport."
„Ja."
Zwar hatte sie nur noch ein paar Minuten, aber die musste sie so gut es ging nutzen. Sie stand wieder auf, brachte sich in Position und begann auf der Stelle zu rennen. Sie versuchte so schnell wie möglich zu sein um in der verbleibenden Zeit noch so viel wie möglich zu verbrennen.

Keuchend erreichte Sahra den Schulhof. Sie war den Weg von der Haltestelle bis hier her gerannt. Kalorien verbrennen. Dick eingepackt in ihre Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe ging sie zu ihrer gewohnten Ecke rüber. Als sie heute Morgen auf das Thermometer geguckt hatte, hatte dieses Minus Vier Grad Celsius angezeigt. Es war so kalt, dass aus Sahras Mund bei jedem Ausatmen kleine aber dichte Dampfwölkchen   stiegen. Zumindest war es nicht windig.
Maria und Laila waren noch nicht da. Außer sie hatten sich wieder drinnen in einer der Toiletten versteckt. Aber Sahra würde nicht nachgucken gehen. A, weil sie keine Lust hatte erwischt zu werden und B, weil sie von den beiden kein Essen aufgedrängt bekommen wollte. Gerade zu dieser Zeit, sie hatten Dezember und Weihnachten näherte sich, hatten sehr viele Schüler extra Essen, vorwiegend Plätzchen, Lebkuchen und Spekulatius, dabei und unter Freunden wurde dies dann auch sehr gerne geteilt. Zwar hatte Sahra bei Laila und Maria bis dato noch keine Kekse gesehen aber sie war sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch sie welche mitbrächten. Sie seufzte innerlich, als sie an die Plätzchen dachte. So lecker, so süß. Wie gerne würde sie jetzt Plätzchen essen. Doch Stopp! Das ging nicht. Plätzchen waren Süßkram und von Süßkram nahm man zu. Und das durfte auf keinen Fall passieren. Gewichtszunahme war schlecht, ja gerade zu katastrophal. Und Nahrungsverweigerung war ein Zeichen von Stärke. Sie durfte nicht schwach werden, sie musste verweigern. Verzichten. Um sich von dem leckeren Gedanke an Kekse abzulenken begann Sahra auf den Füßen auf und ab zu wippen und die Arme im selbem Takt vor und zurück schwingen zu lassen. Kalorien verbrennen.

Den gesamten Tag über versuchte Sahra sich so viel wie möglich zu bewegen um das Frühstück wieder wett zu machen. Im Unterricht wackelte sie die ganze Zeit über mit ihren Beinen, in den Pausen koppelte sie sich von ihren Freundinnen ab (sie tat so, als hätte sie etwas im Klassenzimmer vergessen) und stieg die Treppen im Treppenhaus immer wieder hoch und runter und in jeder Schulstunde ging sie einmal auf die Toilette und nutzte diese Gelegenheit für etwas Sport. Sie rannte den Weg zu den Mädchenklos, dann im Klo sprintete sie auf der Stelle und anschließend rannte sie wieder zurück. Sie hoffte dadurch genügend Kalorien verbrennen zu können.

Nach der Schule, endlich war Wochenende, beeilten sich die Schüler nach Hause zu kommen. Sahra beeilte sich auch. Hastig packte sie ihre Sachen ein, schnappte sich Jacke und Zubehör und spurtete aus dem Klassenraum. Nicht weil sie unbedingt nach Hause wollte. Vorerst würde sie sich noch einmal in die Toiletten zurückziehen um zu warten, bis Laila und Maria weg waren. Nicht, dass die beiden sie noch mit in die Stadt nehmen wollten und sie sich dann wieder ums Essen herumwinden musste. Lieber wartete sie und ging alleine zur Haltestelle (besser gesagt rannte) um auf Nummer Sicher zu gehen, als von ihren Freundinnen zu McDonalds oder so gedrängt zu werden. Nein danke. Außerdem hatte sie es eh nicht eilig nach Hause zu kommen. Zuhause würde nur bedeuten, dass ihre Mutter sie zum Essen zwang. Auch darauf konnte sie dankend verzichten. Sie würde heute Nachmittag einfach außer Haus bleiben, so wie Ana es ihr vorgeschlagen hatte. Und da sie vorsorglich war, befanden sich einige über Netflix gedownloadete Filme auf ihrem Handy, die sie dann draußen gucken konnte.
Da sie sich während des Unterrichts mal wieder kaum konzentrieren konnte hatte sie stattdessen überlegt, wo sie denn nun hingehen könnte. Sie wollte die Innenstadt auf jeden Fall meiden. Zu viele Menschen und zu viele Straßen mit zu vielen Autos auf die man achten musste. Deshalb hatte sie sich dazu entschieden in den Ahorngarten zu gehen, eine Grünfläche die, wie der Name bereits sagte, vorwiegend mit Ahornbäumen bepflanzt war. Natürlich gab es auch andere Baumarten dort aber Ahorne waren definitiv die Mehrheit. Um diese Grünfläche herum lagen einige Hügel und zwischen den Bäumen schlängelten sich Spazierwege hindurch. Und genau dort wollte Sahra auch umherlaufen. Einfach ein bisschen – Naja, im „Grünen" um diese Jahreszeit wohl nicht mehr – in der Natur sein und sich vom Essen ablenken. Aber den Spielplatz, den es im Ahorngarten gab würde sie eher umgehen. Zwar wäre dort wahrscheinlich eh nicht so viel los bei dieser Kälte, aber völlig leer würde er nun auch nicht sein. Und da sie lieber ihre Ruhe hätte würde sie um den Spielplatz einen Bogen machen. Das einzige Problem an diesem Vorhaben allerdings war ihre Schulmappe. So sehr sie auch von Zuhause wegbleiben wollte, so ungern wollte sie die ganze Zeit ihre schwere Tasche umherschleppen. Aber auch dafür hatte sie sich etwas überlegt. Zwar war es ein wenig riskant, aber um ihre Mappe loszuwerden würde sie das Risiko eingehen. Die Sache war nämlich die, dass, wenn Sahra nach Hause käme und die Wohnung beträte, Marlene bereits da wäre. Selbst wenn Sahra sagen würde, sie gehe gleich wieder los, würde ihre Mutter sie dennoch zum Essen zwingen. Und dem musste sie ausweichen. Allerdings war Zuhause der einzige Ort an dem sie ihre Mappe abstellen konnte ohne Gefahr zu laufen, dass diese geklaut wird. In der Schule konnte sie sie schlecht lassen und auch sie im Ahorngarten an einer Bank abzustellen war ihr zu unsicher. Welche Möglichkeit hatte sie also? Ganz einfach! Sie wird zuerst zu sich nach Hause fahren, aber sie wird nicht in die Wohnung gehen, nein. Sie wird den Keller aufschließen und ihre Mappe in einem der Räume dort verstecken, am besten unter einer Plastikplane oder ähnlichem. Dann wird sie das Gebäude hurtig wieder verlassen und sich auf den Weg zum Park machen. So war sie die Tasche los und diese war in Sicherheit. Der Plan war gut. Sehr gut sogar. Das einzige was passieren könnte war, dass ihre Mutter zufälligerweise zu genau dem selben Zeitpunkt wie sie in den Keller ginge. Ja, das könnte passieren, aber es schien ihr doch ein wenig zu unrealistisch, dass sie beide exakt zur selben Zeit in den Keller wollten. Sie wird es versuchen. Hauptsache sie war ihre Tasche los.

Nach ungefähr fünf Minuten, als sie sich sicher war, dass Laila und Maria weg waren, verließ sie das Mädchenklo, in dem sie wieder heimlich Sport gemacht hatte, und machte sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Es waren nur noch wenige Schüler da, die ebenfalls die Schule verließen. Die meisten hatte sich sicher beeilt um so schnell wie möglich ins Wochenende zu können. Sahra genoss die unüberfüllten Wege und schlenderte gemächlich die Straße entlang. Eigentlich wollte sie ja rennen, aber wozu? Sie hatte keine Eile.
An der Haltestelle angekommen sah sie auf die Anzeigetafel, die ihr sagte, dass sie ihre Bahn um zwei Minuten verpasst hatte. Die nächste käme erst in acht Minuten. Aber das war ja nicht schlimm.
Sie kramte ihre Kopfhörer hervor und öffnete auf ihrem Handy die Netflix App. Unendlich viel hatte sie sich natürlich nicht downloaden können aber für den restlichen Tag wird es definitiv reichen. Unter ihren Downloads waren einige Folgen von Black Mirror, da sie die Serie in den letzten Wochen komplett vernachlässigt hatte und Maria unbedingt wollte, dass sie weiter guckte. Dafür hatte sie ja jetzt Zeit. Außerdem noch, weil Laila viel gutes über die Serie erzählt hatte und somit Sahras Interesse geweckt hatte, die ersten Folgen von Assassination Classroom. Zwar hatte sie mit Mangas und Animes nicht so viel am Hut, jedoch hatte Laila oft den Humor der Serie gelobt, somit klang es schon einmal ganz brauchbar. Ansonsten noch ein paar Kinderfilme wie zum Beispiel ICE AGE oder Hotel Transsilvanien. Leichte Unterhaltung, etwas zum Nebenbei-hören, wo sie nicht permanent auf ihr Display starren musste. Aber jetzt, wo sie ja eh warten musste, konnte sie das machen.  Also steckte sie sich die Kopfhörer in die Ohren und startete die nächste Black Mirror Folge.

Vorsicht war geboten. Zwar war es wie gesagt eher unwahrscheinlich, dass ihre Mutter rein zufällig genau jetzt beschloss etwas aus dem Keller zu holen, aber trotzdem sollte sie nicht zu unachtsam sein. Möglichst leise schloss sie die Kellertür auf. Es war muffig und kühl hier unten. Die Lampen spendeten trübes Licht, wobei eine am Ende des Ganges bedrohlich flackerte. Jetzt brauchte sie nur noch einen Raum in dem sie ihre Mappe abstellen konnte. Am besten ein Raum, in dem ohnehin schon viel Krempel stand, denn dort würde die Tasche hoffentlich gar nicht groß auffallen. Sie schaute sich um. Im Fahrradraum schon einmal nicht. Da standen nur die Fahrräder der Bewohner dieser Hausnummer und ein Kinderwagen herum, dort würde ihr Mappe zu sehr ins Auge stechen. Sie schaute in die anderen Räume. Rohre, Schläuche, Regale, eine alte Regentonne, Kisten, Körbe, Kartons, alles mögliche lagerte hier. Perfekt. Das war ein geeigneter Ort. Sie schlängelte sich an dem Gerümpel vorbei bis nach ganz hinten. Hier, hinter einem Stapel vergilbter Kartons war ein guter Platz für ihre Mappe. Kurz kontrollierte sie, ob sich auch keine Spinnen dort angesiedelt hatten, dann stellte sie ihre Tasche ab und schob sie hinter die Kartons. Schnell holte sie noch ihre Powerbank und das Ladekabel heraus und steckte sie in ihre Jackentasche.
Obwohl die Mappe ziemlich sperrig war lugte an den Seiten nichts hervor und als Sahra den Raum verließ und noch mal zurück über die Schulter blickte war von der Tasche nichts zu sehen. Das lief schon einmal sehr gut. Jetzt musste sie es nur noch schaffen das Haus unbemerkt zu verlassen und dann war sie aus der Gefahrenzone.
Schnell aber leise verschloss sie die Kellertür wieder und stieg die Treppen zum Hausflur hoch. Kurz vergewisserte sie sich, ob die Luft rein war, dann ging sie schnellen Schrittes zur Haustür und trat raus auf die Straße.
Geschafft. Jetzt war sie ihre Mappe los und konnte ohne große Last zum Ahorngarten gehen. Zwar hatte sie keine Ahnung wie lang sie alleine für den Weg dorthin brauchen würde, doch das war ihr egal. Hauptsache sie musste nichts essen.

Mit gesenktem Kopf, den Kopfhörern in den Ohren und den Augen auf das Display gerichtet lief Sahra langsam die Straßen entlang. Sie versuchte möglichst am Rand zu gehen, damit sie nicht Gefahr lief in andere Menschen reinzulaufen. Auch wählte sie möglichst ruhige Wege aus, keine hektischen vollen Hauptstraßen mit dutzenden von Leuten. Lieber die Orte mit wenigen Menschen und ohne viel Verkehr. Da konnte sie auch weiter Netflix gucken ohne ständig auf Personen achten zu müssen. Sie hatte genau im Kopf wo sie langlaufen musste, also war es auch kein Problem während des Laufens etwas zu gucken. Und selbst wenn sie mal ein Stück zu weit liefe wäre das ja nichts schlimmes. Es war egal, wann sie ankam, es war sogar egal, ob sie überhaupt ankam, Hauptsache sie war nicht zuhause. Aber es war gut ein Ziel zu haben, einen Ort wo sie hinwollte, anstatt einfach planlos durch die Gegend zu irren. Und noch besser war es Beschäftigung, ihr Handy, dabeizuhaben, damit sie sich nicht zu Tode langweilte.

So lief sie also die Straßen entlang, passierte unzählige Hausnummern und Kreuzungen bis sie schließlich nach über einer Stunde Fußmarsch den Ahorngarten erblickte. Sie sah die Hügel, die die Grünfläche umrandeten und die Kronen der Bäume. Unwillkürlich musste sie lächeln. Fast da. Sie war fast da. Gleich konnte sie eine Pause einlegen. Ihre Füße taten nämlich von dem ganzen Laufen weh und sie hatte angefangen unter ihrer dicken Kleiderschicht zu schwitzen, obwohl es eisig kalt war und der Himmel nach wie vor wolkenbedeckt. Zwar hatte sie ihre Jacke bereits geöffnet und den Schal etwas gelockert, trotzdem war ihr sehr warm. Und auch wenn sie sich eigentlich bewegen sollte, wollte sie dennoch erst einmal für ein paar Minuten eine Bank aufsuchen. Sie überquerte die letzte Straße und stieg die Treppe, die den Hügel hinaufführte, hoch. Da war er. Der Ahorngarten. Eine große Fläche mit unzähligen Bäumen und vielen kleinen Wegen. Und das Objekt ihrer Begierde: eine Bank. Beziehungsweise mehrere Bänke, die in einigen Abständen zueinander die Ränder der Wege säumten. Sie stieg die Treppe ins Innere des Hügelkessels hinab und blickte sich um. Niemand zu sehen. Aber zu hören. Wenn sie ihre Folge pausierte konnte sie in der Ferne eine Frau rufen hören. Wahrscheinlich war sie mit ihrem Kind unterwegs und rief es gerade zurück, weil es außer Sichtweite gerannt war oder ähnliches. Sahra steuerte die nächste Bank an. Sie schien recht neu zu sein. Das Holz war nicht gesplittert, keine Ecken waren abgebrochen und beschmiert war sie auch nicht. Erleichtert setzte sie sich und streckte seufzend die Beine aus. So war es besser. Das war eine Wohltat, endlich die Füße etwas zu entspannen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Aber dann widmete sie sich wieder ihrem Handy. Ewigkeiten wollte sie nicht auf der Bank sitzen bleiben, also beschloss sie die Folge, die noch ungefähr zwölf Minuten ging, fertig zu gucken und dann mit dem Spazierengehen weiterzumachen. Doch jetzt erst mal eine Pause.

Dadurch, dass sich Sahra nicht mehr bewegte, sondern nur vornübergebeugt auf der Bank saß, verschwand die durch das Laufen entstandene Hitze und die kalte Luft kroch wieder über ihren Körper. Sie schloss ihre Jacke wieder, zog den Schal enger und holte aus ihrer Jackentasche das paar Handschuhe heraus. Sie wollte vermeiden, dass ihre Finger wieder zu Eiszapfen gefroren. Dann, als die Folge vorbei war, stand sie auf. Ihren Beinen ging es besser und ihre Füße hatten sich etwas erholt, doch durch die nicht allzu dicke Hose drang die Kälte bis zu ihrer Haut vor und hinterließ eine starre Gänsehaut. Zudem zitterte sie nun leicht. Bewegung war jetzt genau das Richtige. So ging sie los. Den Weg entlang bis zu einer Abzweigung, die sie zwischen die Bäume führte und von da aus weiter in den Park hinein.
Wieder mit dem Blick auf dem Display lief sie an einem Baum nach dem anderen vorbei. Eichen und Linden, Birken und Kastanien und Ahorne, Ahorne, Ahorne. Alles Laubbäume.
Wirklich aufpassen wohin sie lief musste sie nicht. Hier bestand keine Gefahr versehentlich auf eine mit Autos befahrene Fahrbahn zu geraten oder von einem Radfahrer umgefahren zu werden. Sie musste einfach nur an den Rändern ihres Handys vorbei gucken und solange sie dort noch Weg sah war alles gut. Gemächlich schlenderte sie weiter. Keine Eile, keine Hektik.

Sie lief solange weiter, bis sie zwischen den Bäumen die freie Fläche mit dem Spielplatz ausmachen konnte. Eigentlich hatte sie sich ja vorgenommen um den Spielplatz einen Bogen zu machen, wegen der lauten Kinder und den ganzen Menschen, jedoch wollte sie nur mal kurz nachgucken, wie viele Eltern mit ihrem Nachwuchs sich zu dieser Zeit und gerade bei dieser Kälte draußen herumtrieben. Sie selbst konnte ja unmöglich die einzige sein. Und tatsächlich. Als sie am Spielplatz angekommen war sah sie vereinzelt kleine und auch größere Kinder auf den Spielgeräten. Da schaukelten zwei, dort rutschte wer und auf dem Klettergerüst waren auch welche. Auf den Bänken, die den Weg, der die Sandfläche des Spielplatzes umgab, säumten, saßen die Eltern oder zumindest ein Teil von ihnen und behielten ihre Schützlinge im Blick. Viel war nicht los, aber das war auch kaum verwunderlich. Dennoch durchschnitt die Luft immer mal wieder ein vergnügter Schrei der Kinder oder ein besorgter Ruf der Eltern. Sahra wandte sich ab und betrat einen anderen Weg, der sie vom Spielplatz wegführte. Sie hatte ihre Neugier gestillt, jetzt konnte sie sich wie vorgehabt von den Menschen fernhalten. Auf dem Weg kam ihr eine Mutter mit einem kleinen Jungen entgegen gelaufen, der, als er den Spielplatz sah, freudig losrannte. Die Mutter schritt hinterher. Sahra lief weiter.

Jedes Mal, wenn Sahra amüsiert durch die Nase Luft ausstieß wurde ihr Atem zu einem Dampfwölkchen, dass sich schnell verflüchtigte. Obwohl sie sich bewegte war ihr gefühlt noch kälter geworden. Zwar war es zum Glück immer noch windstill aber die eiskalte Luft schlug ihr beim Gehen gegen die Wangen und ließ diese erröten. Sie schaute sich gerade den Anime Assassination Classroom an, den Laila so toll fand, als plötzlich einige weiße Partikel vor ihren Augen auftauchten. Sie landeten auf ihrem Handy und wurden augenblicklich zu Wassertropfen. Verdutzt blieb sie stehen. Noch mehr Partikel flogen in ihr Sichtfeld. Sie blickte auf. Ihre Augen weiteten sich und sie fing verblüfft an zu lächeln. Es schneite. Kleine weiße Flocken fielen vom Himmel, erst wenige, doch wurden es nach kurzer Zeit immer mehr. Die Flocken schwebten langsam zu Boden oder blieben an ihrer Kleidung haften. Sie streckte einen Arm aus und ließ einige von ihnen auf ihrem Handschuh landen, dann hielt sie ihre Hand dicht vor die Augen. Sie konnte die klitzekleinen, feinen Eiskristalle erkennen, die zarten Abzweigungen der Schneeflocke und generell ihre wunderbare Schönheit. So zart, so rein, so makellos, so perfekt. So wie... wie Ana. Sahra fror in ihrer Tätigkeit ein. Ihre Augen waren zwar noch immer auf die Schneeflocke gerichtet, doch sah sie diese nicht mehr wirklich. Sie dachte nach. Ja, irgendwie war diese Schneeflocke genau wie Ana. Oder Ana war wie die Schneeflocke. Beide waren zart, so unendlich zart. Die Flocke mit ihren kleinen, feinen Verästelungen und Ana mit ihrem Körper. Beide waren rein. Die Flocke, bestehend aus reinem Wasser, ohne Verschmutzungen und Ana mit ihrer reinen Haut. Kein Pickel, kein störendes Haar, kein Makel. Sie und die Flocke waren rein und makellos. Und so weiß. Anas Haut schien genauso hell, genauso weiß zu sein wie diese Schneeflocke es war, einfach perfekt. Sie beide waren perfekt. Ana war perfekt und Schnee war perfekt.
Sahra liebte Schnee. Schnee war so schön, er war leise und eine mit Schnee bedeckte Landschaft sah so wunderbar aus. So unberührt. Von ihrem Zimmerfenster aus den fallenden Schnee zu beobachten war das eine, aber inmitten der fallenden Flocken zu stehen war noch mal etwas ganz anderes. Eine Weile blieb sie noch wie festgewachsen stehen und schaute dem Niederschlag weiter zu, dann löste sie sich und lief weiter, weil ihr wieder kalt wurde.
Sie freute sich unheimlich darüber, dass es schneite. Letztes Jahr hatte es den gesamten Dezember über nicht geschneit und erst mit Beginn des nächsten Januars kamen die ersten Flocken, doch dieses Jahr war es anders. Sie hatten Schnee. Schnee, der vielleicht sogar liegen blieb. Das wäre eine große Freude für die ganzen Kinder. Die könnten dann rodeln, Schneemänner bauen, Schneeengel machen oder sich mit Schneeballschlachten vergnügen. Bei sowas würde Sahra zwar nicht mitmachen, aber das war nicht schlimm. Es genügte ihr alleine das leise Knirschen zu hören, wenn man durch den frischen Puder-Schnee lief, der eben erst gefallen war. Sie musste erneut lächeln, als in ihrem Kopf auf einmal „Schneeflöckchen, Weißröckchen" angestimmt wurde und stumm sang sie mit.

Einen neuen Weg entlang schlendernd hörte Sahra auf einmal durch ihre Kopfhörer Rufe und laute Schritte. Jemand lief, besser gesagt rannte den Weg entlang ihr entgegen. Sie blickte auf und sah vielleicht Zwanzig Meter vor sich ein Mädchen laufen. Nein, zwei! Sie lachten laut und das vordere rief: „Komm schon Thess, wir sind fast da!" Das andere Mädchen, das wenige Meter weiter hinten war lachte und rief zurück: „Ich weiß! Und hör auf mich Thess zu nennen!" Die beiden rannten an Sahra vorbei und sie konnte sehen, dass sie älter waren, als die Kinder, die sie zuvor auf dem Spielplatz gesehen hatte. Vielleicht zwölf oder dreizehn. Doch anstatt dem Weg weiter zu folgen bogen sie auf einmal nach rechts ab und liefen zwischen die Bäume zu einer Art kleinen Lichtung, auf der sich schon eine ganz feine Schicht an Schnee angesammelt hatte. Sie riefen sich wieder etwas zu aber Sahra verstand es nicht. Sie schaute den beiden nur belustigt zu, wie sie sich mit weit ausgestreckten Armen auf der Lichtung drehten und dann anfingen zu tanzen. Zumindest sah es so aus, als sollte es einen Tanz darstellen. Sie schienen den Schnee wohl auch zu mögen. Amüsiert wandte sie sich von diesem kindischen Verhalten ab und ging weiter. Zwei Dreizehn Jährige, die sich wie Sechs Jährige verhielten.
„Naja, Laila würde gut zu ihnen passen", dachte sie und musste grinsen.

Da es Dezember war dunkelte es bereits sehr früh und als Sahra kurz nach halb Acht die Wohnungstür aufschloss war es stockfinster. Mit vor Kälte hochroten Wangen, bläulichen Lippen und einer leicht laufenden Nase trat sie über die Schwelle und drückte die Tür wieder zu. Ihre Mappe, die sie aus dem Keller geholt hatte, stellte sie ab und begann sich aus ihren Wintersachen auszupacken. Mütze, Schal und Handschuhe flogen vorerst auf den Boden und die Stiefel räumte sie unordentlich ins Regal.
Eine Tür ging auf und ihre Mutter betrat den Flur.
„Hey Mausi", sagte sie und klang erleichtert. „Wo warst du? Ich habe versucht dich anzurufen, aber du bist nie rangegangen."
Das stimmte. Marlene hatte insgesamt drei Mal versucht ihre Tochter anzurufen, aber diese hatte die Anrufe gekonnt ignoriert. So konnte sie Sahra nicht Bescheid sagen, dass es bald Essen gäbe und sie nach Hause kommen sollte. Sie setzte eine erschrockene Miene auf.
„Oh, echt? Tut mir leid, das habe ich gar nicht mitbekommen. Ich hatte mein Handy in der Mappe, da habe ich es wohl nicht klingeln gehört." Ihre Mutter nickte.
„Okay und wo warst du?"
„In der Stadt", log Sahra prompt. „War eine Weile bei Thalia, dann hab ich mir ein paar Klamotten angeguckt und bin noch was essen gegangen." Marlene sah sie forschend an, aber Sahra ließ sich nichts anmerken.
„Also hast du was gegessen?", hakte sie nach.
„Ja und ganz ehrlich", sie strich sich über den Bauch, „ich bin immer noch pappsatt. Hab wohl zu viel gegessen." Sie begann ihre Sachen, die auf dem Boden lagen, wegzuräumen. Ihre Mutter lächelte ihr zu, nickte und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Sahra klopfte sich für ihre überzeugende Lüge selber auf die Schulter. In Wahrheit verkrampfte sich ihr Magen gerade vor Hunger und sie hätte am liebsten jetzt sofort Abendbrot gegessen, doch trank sie schnell vier Gläser Wasser und brachte sich in ihrem Zimmer vor dem Essen in der Küche in Sicherheit.

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