Die Forelli-Dynastie: Göttlic...

Від dell_a_story

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Iris Dan de Lion ist eine abenteuerlustige Landadelige und eine der letzten Blomlore-Übersetzerinnen in ganz... Більше

Vorwort
Karten
Im Haifischbecken [Teil 1]
1. Zum Goldenen Hummer ⋆
2. Vier rote Knobbs ⋆
3. Fischfutter ⋆
4. Brandstiftung ⋆
5. Der schwarze Stichling ⋆
6. Bei Tageslicht ⋆
7. Pike und Hauki ⋆
8. Der alte Gamal ⋆
9. Die Florfruese und der Gusar ⋆
10. Spaziergang mit Umwegen ⋆
11. Samt und Seide ⋆
12. Der Patriarch ⋆
13. Die Schwertlilie ⋆
14. Auf verschiedenen Seiten ⋆
15. Die wahre Natur ⋆
16. Novomagica ⋆
17. Tafelrunde
18. Das Holloch
19. Falscher Nöck
20. Weiblicher Rat
21. Die Haie von Ryba
22. Schattenmesser
23. Futusfera
24. Widerliche Kreaturen
25. Die Füchsin
26. Der Mühe Lohn
27. Die Tortur des Seidenspinners
28. Der zweite Zauber
29. Der böse Geist von Ryba
30. Am Abgrund
31. Pläne, Tee und Pralinen
32. Hummer zum Dessert
33. Lebendige Dunkelheit
34. Brennender Himmel
35. Rot wie Blut
36. Lass uns ein Spiel spielen
37. Nackte Tatsachen
38. Der Sudtempel
39. Das Haus der Frauen
40. Fräulein Ondine
41. Herzenssache
42. Nächtlicher Besuch
43. Wasserscheu
44. Rybaler Heidschnucken
45. Myrkurs Reich
46. Willkommen in der Familie
Blut und Wasser [Teil 2]
47. Duelle und Kuchen
48. Kalte Luft
49. Ratten
50. Die Vision
51. Die Warnung
52. Durch die Macht der Göttin
53. Schlammfischen
54. Kikermarkt
55. Seeteufel
56. Die Gejagten
57. Der doppelte Rogner
58. Geschwisterliebe
59. Berührungspunkte
60. Von Flockenfaltern und Flogmusen
61. Karten auf den Tisch
62. Die Lage spitzt sich zu
63. Auf Messers Schneide
64. Wilde Hatz
65. Zu den Waffen
66. Nachtschattengewächse
67. Krähengesang
68. An Tineas Fäden
69. Sonnenaufgang
70. Lehrstunde
71. Blind
72. Veränderungen
73. Tauben auf dem Dach
74. Die Ballade des Piratenkönigs
75. Gusarenblut
76. Freunde aus zwei Welten
77. Ein kleines Pläuschchen
78. Hinter dem Schleier
79. Otter und Weinbrand
80. Sheitani
81. Im Auge des Sturms
82. Vom Wert eines Namens
83. Prinzessin Liten
84. Unerwarteter Besuch
85. Zündstoff
86. Finsternis
88. Unter die Haut
89. Ein Funken Wahrheit
90. Familienangelegenheiten
91. Ein lang erwartetes Fest
92. Die königliche Werft
93. Erste Annäherungen
94. Feindkontakt
95. Brennende Flügel
96. Rybala Havfruese
97. Auferstehung
98. Bittere Wahrheiten
99. Tränen der Götter
100. Etwas ist anders
101. Göttliches Erbe
102. Aus der Asche
Nachwort
Anhang
Register

87. Ein göttliches Wunder

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Kohl.

Kohl, war Iris' erster Gedanke, als sie wieder zu sich kam. Zunächst wusste sie nicht, was das bedeutete, doch dann erwachten ihre Sinne und sie nahm den penetranten Geruch wahr, der sie umgab. Kalter Kohl. Es roch nach abgestandenem Gemüse. Wie manchmal in Wirtshäusern, die nicht jeden Tag geöffnet hatten. Obwohl Iris keine Kohl-Liebhaberin war, meldete sich ihr Magen knurrend und gluckernd zu Wort. 

Schwerfällig schlug sie die Augen auf. Ihr Mund war staubtrocken, ihre Wimpern verklebt. Beim Versuch, sich den Grieß aus den Augen zu reiben, musste sie feststellen, dass sich ihre Arme nicht bewegen ließen. Zuerst dachte sie, ihre Glieder wären vom langen Liegen taub und steif geworden, aber dann realisierte sie, dass ihre Hand- und Fußgelenke mit einem groben Strick aneinander gefesselt worden waren.

Panik flutete ihre Adern und ließ ihren Körper wie ein Schnappmesser in die Höhe schnellen. Sie setzte sich auf und blickte sich um. Es war dunkel, aber nicht zu dunkel, um nicht zumindest ein paar vage Umrisse erkennen zu können. So musste Iris feststellen, dass sie sich in einem Kellerraum zu befinden schien. Ein wenig Tageslicht drang durch schmale, mit Brettern verriegelte Fenster knapp unterhalb der Decke herein und verlief in schnurgeraden Linien über den feuchten, strohbedeckten Boden. Staubteilchen tanzten in der Luft, zwischen morschen Stützbalken und glitzernden Spinnweben.

Iris versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war, doch ihre Erinnerung an alles, was nach ihrer Flucht aus dem Wintergarten des Forelli-Anwesens passiert war, entpuppte sich als ausgesprochen lückenhaft. Eck j'elsken, echote es in ihrem Kopf. Allerdings hatte sie vergessen, was diese Worte bedeuteten oder in welchem Zusammenhang sie ihr untergekommen waren. Im ersten Moment wusste sie nicht einmal mehr, wer sie ausgesprochen hatte. Als es ihr nach kurzem Grübeln wieder einfiel, wallte die Panik ein zweites Mal in ihr auf, glühend heiß und eiskalt zugleich. »Zander?«, hauchte sie. Ihre Stimme klang seltsam schwach und brüchig. Sie geriet ins Husten. »Zander!«

Hinter ihr raschelte es. Sie wandte den Kopf und spähte in die Dunkelheit abseits der Fenster. Dort zeichneten sich die Umrisse einer schweren Metalltür ab. Einige Meter davon entfernt, buchstäblich in der finstersten Ecke ihres Gefängnisses, lehnte eine Gestalt mit dem Rücken an einem Stützpfeiler. Im Dunkeln war es schwer zu erkennen, aber Iris spürte, dass es sich um Zander handelte. Er schien sie jedoch nicht wahrzunehmen. Bewusstlos oder zumindest stark benommen hing er in den Stricken, die ihn an den Pfeiler fesselten.

Iris zog ihre gefesselten Beine an den Körper, nahm mit den Ellenbogen Schwung und schob sich in seine Richtung. Aus der Nähe betrachtet wirkte Zanders Zustand noch bedrohlicher. Er musste eine Kopfwunde erlitten haben. Jedenfalls war ihm Blut ins Gesicht gelaufen und bedeckte fast seine gesamte rechte Gesichtshälfte mit einer schwarzen, schorfigen Kruste. Auch sein Hals und sein Nacken waren mit getrocknetem Blut besudelt. 

»Zander?«, flüsterte Iris, streckte die gefesselten Hände aus und berührte ihn sanft an der Wange. »Ich bin es.« Ihre eigenen Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Es klang, als würde sie mit einem Sterbenden sprechen. Sofort wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, diesen Gedanken auch nur zuzulassen. Sie blinzelte die Tränen weg und wandte den Kopf, um die Tür ihres Gefängnisses zu betrachten. Schweres Metall, dicke Steinmauern. Kein Schlitz. Kein Spalt. Plötzlich verspürte sie den starken Drang, ihren Entführern ins Gesicht zu sehen. Sie wollte wissen, wer Zander das angetan hatte. »Hallo?«, rief sie, zog erneut die Beine an und trat fest mit den Füßen gegen die Tür. »Wer ist da? Kommen Sie schon raus!«

»Iris...«, ächzte Zander und öffnete das linke Auge. »Sei leise. Damit provozierst du sie nur.«

»Du musst es ja wissen«, fauchte Iris und entschuldigte sich sogleich, als ihr bewusst wurde, dass sie ihren Zorn unbeabsichtigt an ihm ausgelassen hatte. »Tut mir leid.« Sie rückte näher zu ihm und strich ihm die blutverkrusteten Haare aus der Stirn. »Weißt du, wer uns hier eingesperrt hat?«

Zander schüttelte kaum merklich den Kopf. »Nein. Aber ich habe eine Theorie.«

»Die Aciarischen Attentäter?«

»Wenn uns die Aciarier aufgelauert hätten, würden wir längst bei den Fischen schwimmen. Und nicht auf angenehme Weise.« Bereits diese zwei Sätze auszusprechen, schien Zander erschöpft zu haben. Sein Blick wurde unfokussiert und sein Kinn sank zurück auf seine Brust.

»Bleib wach«, flehte Iris. »Lass mich hier bloß nicht alleine.«

Zander lächelte, doch das Blut verzerrte seine Züge und verlieh dem Ausdruck etwas Rohes und Brutales. »Mach dir keine Sorgen. Ich gehe nirgendwohin.«

»Verzeih, wenn ich mir trotzdem Sorgen mache«, seufzte Iris und legte den Kopf gegen seine Brust. »Denkst du, sie werden uns umbringen?«

Zander platzierte sein Kinn auf ihrem Scheitel. »Wenn sie das wollten, hätten sie es längst.«

»Gibt es irgendwas, das ich tun kann?«, fragte Iris.

»Nein«, antwortete Zander. »Spar deine Kräfte. Von diesem Ort gibt es kein Entkommen. Jedenfalls jetzt noch nicht.«

Mit jeder Faser ihres Seins hatte sich Iris eine andere Antwort auf diese Frage erhofft. Es gefiel ihr nämlich gar nicht, tatenlos bleiben zu müssen. Sie wollte ihre Fesseln lösen, mithilfe eines rostigen Nagels oder einer Glasscherbe vielleicht, wie sie es schon einmal in einem Abenteuerroman gelesen hatte. Oder sie wollte versuchen, Zander zu befreien. Gemeinsam konnte es ihnen möglicherweise gelingen, die Bretter von den Fenstern zu lösen und ins Freie zu klettern. Hinaus ins Licht, das ihr in diesem Moment ein Sinnbild von Freiheit und Zuflucht zu sein schien, auch wenn keineswegs feststand, dass sie sich nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis in Sicherheit befinden würden. Wer wusste schon, was sie abseits dieser Mauern erwartete?

»Hörst du das?«, murmelte Zander

Iris schob ihre Gedanken beiseite und lauschte. Sie vernahm ein leises Rascheln im Stroh. Vermutlich Mäuse oder Ratten. Instinktiv presste sie sich enger an Zander, auch wenn er ihr in seinem jetzigen Zustand keine große Hilfe sein konnte. Vom Rumoren der Nagetiere abgesehen, vernahm Iris nur ein schwaches Gezwitscher, das von draußen hereinzudringen schien.

»Vögel«, bestätigte Zander ihre Vermutung. »Torffinken vermutlich.«

»Und das bedeutet?«, fragte Iris.

»Wir sind nicht mehr in Myr Ryba.«

Iris war so überrascht, dass sie keinen Laut herausbrachte.

»Kein Wellenrauschen, keine Möwen. Nur Torffinken«, flüsterte Zander. »Wir sind noch in der Nähe der Küste, aber weiter im Landesinnern.«

»Und wie sind wir hierher gekommen?«

»An was erinnerst du dich noch?«, erwiderte Zander.

Iris wusste keine Antwort auf seine Frage. Während sie noch überlegte, wanderte ihr Blick an ihrem eigenen Körper entlang und sie bemerkte zum ersten Mal, dass man ihr Kleid und Reifrock ausgezogen hatte, sodass sie nur noch ihr Unterkleid am Leib trug. Ein Anblick, der bedrohliche Gedanken in ihr weckte. »Ich erinnere mich an überhaupt gar nichts mehr«, gestand sie Zander. »Vermutlich wurde ich irgendwie betäubt. Vielleicht mit Schlafkrautsaft. Es fühlt sich jedenfalls nicht so an, als wäre ich geschlagen worden.« Sie suchte ihre Arme und Beine nach Spuren von Gewalt ab, konnte jedoch im Halbdunkeln nichts erkennen. Anschließend versuchte sie wenig erfolgreich, das weiße Baumwollkleid über ihre Knie zu zerren, weil sie ihren Entführern keinen aufreizenden Anblick bieten wollte.

»Ich sagte doch, spar deine Kräfte«, murmelte Zander. »Wenn ich mit der Identität unserer Entführer recht behalten sollte, musst du dir darum keine Gedanken machen.«

Iris fragte sich, ob er mit dieser Behauptung Sarko Baboi und die Haie von Ryba als ihre Entführer ausschloss oder nicht. Bevor sie ihre Frage laut formulieren konnte, erklangen Schritte vor der Tür ihres Gefängnisses und ließen ihren Puls in die Höhe schnellen. Ihre Muskeln verkrampften sich. Doch trotz ihrer Furcht war sie bereit, ihr eigenes Leben und das von Zander bis zum Tod zu verteidigen, wenn es nötig sein sollte.

Ein Schlüssel wurde umgedreht. Zwei Riegel betätigt. Dann schwang die Metalltür nach innen auf und Pike und Hauki erschienen im Türrahmen.

»Zander«, meinte Pike und fasste sich an seinen hohen Hut.

»Pike«, erwiderte Zander mit einem schwachen Kopfnicken.

»Ihr?«, zischte Iris und konnte ihre Abscheu nicht verbergen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet, wir haben einige Fragen an euch«, antwortete Pike seidig. Wie bei ihren vorherigen Begegnungen trug er ein dunkelblaues, beinahe schwarzes Livree mit einer Doppelreihe silberner Knöpfe. »In Bezug auf die ermordeten Kinder.«

»Die Kinder?«, echote Iris. »Was haben wir denn damit zu schaffen?« Ihre ganze Angst hatte sich in brennenden Zorn verwandelt. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Pike das Knie in den Unterleib gerammt, auch wenn sie insgeheim vermutete, dass er den Schmerz kaum spüren würde, weil er wie der falsche Rogner aus Metall, Drähten und Wachs bestand. Jedenfalls wirkte er wie eine gut geölte Maschine. Alles an ihm war glatt und konturlos. Nur seine Augen besaßen einen stechenden Glanz. Sein Blick brannte auf der Haut, wie der eines Raubtiers, das Beute gewittert hatte. Die Intensität in seinen Augen versprach, dass er bereit war, sie bis ans Ende der Welt zu hetzen, wenn sie ihm einen Anlass dazu gab. Allein aus purem Vergnügen an der Jagd.

»Genau das werde ich herausfinden«, erwiderte Pike, zückte ein Messer und kam auf Iris zu.

»Sie sind doch verrückt!«, keuchte Iris und wollte vor ihm zurückweichen. Allerdings war sie aufgrund ihrer Fesseln viel zu langsam.

Pike holte sie mühelos ein und packte ihre Knöchel. Sie versuchte, nach ihm zu treten, doch er wehrte ihren halbherzigen Angriff ab.

»Fräulein Dan de Lion«, zischte Zander. Sein Tonfall klang ungewohnt scharf, als wäre sie ein bockiges Kind, das er ermahnen musste. Etwas an seiner Stimme versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Erst nach einigen Sekunden wurde ihr bewusst, dass er sie nach vielen Wochen zum ersten Mal wieder beim Nachnamen genannt hatte.

Pike setzte sein Messer an und durchtrennte den Strick, der ihre Fußgelenke aneinander fesselte. Dann ließ er sie los und kehrte zur Tür zurück. »Verrückt oder nicht, das wird sich bald herausstellen«, erklärte er und reichte sein Messer an Hauki, der es hinter seinem Rücken verschwinden ließ. »Du kennst das ja bereits, Zander.«

Zander lächelte grimmig. »Als ob du jemals Informationen von mir bekommen hättest.«

»Das stimmt wohl«, meinte Pike mit einem theatralischen Seufzer. »Aber dieses Mal habe ich einen unfairen Vorteil.« Sein bohrender Blick wanderte zu Iris und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ihr lieber gewesen wäre, noch einmal in Faders Gewalt zu sein. Bei dem alten Lüstling hatte sie wenigstens gewusst, was sie erwartete. Bei Pike und Hauki schien hingegen alles möglich zu sein. »Mal sehen, was du uns verraten wirst, wenn wir deiner Mitarbeiterin die Finger abschneiden. Oder besser noch: die Zunge aus dem Mund schälen. Dann war es das mit der Arbeit als Übersetzerin.« Pike musterte Zanders Gesicht, das im Gegensatz zu ihrem eigenen erstaunlich ruhig und beherrscht blieb. »Aber vielleicht fängt Fräulein Dan de Lion auch an, wie eine Lerche zu singen, wenn wir dir ein paar Gliedmaßen abtrennen.« Er rieb die spindeldürren Finger aneinander. Eine Geste, die Iris an eine Fliege erinnerte. »Die Möglichkeiten sind beinahe endlos und ich kann es kaum abwarten, herauszufinden, was passieren wird, sobald das erste Blut fließt.«

»Du machst dich lächerlich«, entgegnete Zander.

Pike lachte und es klang wie zerreißende Seide. »Ich bin nicht naiv, Zander.« Sein Blick wanderte zwischen ihm und Iris hin und her. »Du magst es vielleicht nicht glauben, aber ich weiß, was Liebe ist, und ich erkenne sie auch, wenn ich sie sehe. Selbst wenn du es zu verstecken versuchst.«

»Du hast recht«, sagte Zander. »Ich glaube dir kein Wort.«

Pikes Lachen wurde zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Wenn du dich damit besser fühlst, will ich dir diese Gnade gewähren. Doch du weißt ja-« Er schnalzte mit der Zunge. »-das Messer wird die Wahrheit enthüllen.«

Als Zander darauf nichts erwiderte, fasste er sich spöttisch an die Hutkrempe. »Meine Dame, mein Herr. Ich empfehle mich vorerst.«

Mit diesen Worten verschwand Pike aus der Tür. Hauki grunzte zustimmend und zog die Tür hinter ihm zu.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, machte Iris ihrem Ärger und ihrer Furcht Luft. »Die beiden wollen uns foltern, nicht wahr?«

»Sie werden uns foltern«, korrigierte Zander ernst. »Nichts kann sie davon abhalten. Es wird mit Sicherheit eine Weile dauern, bis Tuna und Salmon unser Verschwinden bemerken und da wir nicht mehr in Ryba sind, wird es noch länger dauern, bis sie uns finden.«

Iris schüttelte ihre Fußfesseln ab und richtete sich auf. »Das können wir nicht zulassen. Wir müssen fliehen.« Sie lief die Wände ihres Gefängnisses ab, das ihr im Stehen viel kleiner und beengter vorkam. »Es muss doch einen Weg geben, von hier zu entkommen. Wenn ich nur einen Nagel finden könnte oder eine Glasscherbe...«

»Iris«, knurrte Zander.

»Vielleicht könnte ich deine Fesseln durchbeißen. Oder ich behaupte, du hättest starke Bauchkrämpfe und dann überwältigen wir sie, wenn sie-«

»Iris!«, wiederholte Zander, lauter diesmal. Sein Befehlston ließ Iris unwillkürlich zusammenzucken. Sie war es nicht gewohnt, dass er so mit ihr sprach. In den vergangenen Wochen hatte er kein einziges Mal seine Stimme gegen sie erhoben. »Es gibt keinen Weg, Pike und Hauki zu entkommen. Die beiden sind keine Narren und sie machen das hier auch nicht zum ersten Mal. Außerdem haben sie keinerlei Skrupel, einen von uns oder uns beide zu töten. Du kannst sie nicht mit irgendwelchen albernen Tricks überrumpeln. Wenn du das auch nur versuchst, unterschreibst du damit dein Todesurteil.«

»Und was sollen wir dann tun?«, fauchte Iris. »Einfach nur abwarten?« Sie baute sich vor ihm auf. »Wir wissen nichts über die ermordeten Kinder. Also was soll ich machen, wenn sie dich foltern? Einfach nur zusehen?«

»Ganz genau«, antwortete Zander mit todernster Miene. »Du wirst ihnen nichts erzählen. Gar nichts.« Er maß sie mit einem strengen Blick. »Nichts von Rogner Forelli. Nichts von Cyan, von Gwydion Dan de Potas oder unseren Nachforschungen. Nicht bevor wir wissen, was sie vorhaben. Vollkommen egal, was sie mit mir machen. Hast du verstanden?«

Iris schluckte hart. Als sie sprach, klang ihre Stimme kratzig wie ein Scheuerlappen. »Aber vielleicht würden sie uns dann gehen lassen?«

Zanders eiserne Miene wurde weicher. In seinen Augen glommen Zuneigung und Bedauern auf. »Es tut mir leid, Iris. Aber ich glaube nicht, dass sie das tun werden, ganz egal, was wir ihnen erzählen.«

Iris' Unterlippe zitterte. Sie wandte sich ab, damit Zander es nicht sehen musste.

»Ich werde mir etwas einfallen lassen«, sagte Zander. »Aber es ist wichtig, dass du diese Angelegenheit mir überlässt.« Er räusperte sich. »Und jetzt komm her, Iris. Bitte, komm her.«

Iris wischte sich über die Augen und kehrte zu Zander zurück. Sie kauerte sich neben ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Sie fürchtete sich. Nicht vor den Schmerzen, die sie vielleicht erwarteten, sondern davor, zusehen zu müssen, wie Pike und Hauki den Mann folterten, den sie mehr als nur ins Herz geschlossen hatte.

»Ich weiß, das ist viel verlangt«, flüsterte Zander. »Aber du musst jetzt wirklich stark sein. Ich werde tun, was ich kann, um dich zu beschützen, aber dafür musst du mitspielen.«

»Ich will nicht, dass du mich beschützt«, erwiderte Iris. Die Tränen, die sich hinter ihren Augen aufstauten, sandten einen ziehenden Schmerz durch ihren Kiefer, als würde sie versuchen, ein Gähnen zurückzuhalten. »Ich will, dass du dich selbst beschützt.«

Zander lächelte traurig. »Was das angeht, hast du dir wohl den falschen Mann ausgesucht.«

»Du bist ein viel besserer Mann als du selbst glaubst«, gab Iris zurück und ließ den Kopf in seinen Schoß sinken. Ungelenk streichelte sie sein Kinn. Dann rollte sie sich zur Seite und schloss die Augen.

»Ich habe dir doch mal erzählt, dass ich als Jugendlicher während eines schlimmen Sturms weit aufs Meer hinausgeschwommen bin«, raunte Zander.

Iris nickte.

»Ich sagte damals, dass ich nicht mehr wüsste, weshalb ich dieses Risiko eingegangen bin«, fuhr Zander fort. »Aber das war nur die halbe Wahrheit.« Er atmete deutlich hörbar aus. »Es ist nicht so, dass ich mich umbringen wollte, auch wenn Tuna das glaubt. Ich konnte nur einfach nicht aufhören, zu schwimmen. Mir war klar, ich würde sterben, wenn ich nicht umkehrte, aber ich war nicht dazu in der Lage. Fast so, als wäre mein Körper von einem bösen Geist besessen. Dennoch habe ich mich in diesem Moment so frei gefühlt. Alles blieb hinter mir zurück. Das Ufer, die Stadt, alle Schmerzen und bösen Erinnerungen. Ich schwamm und schwamm. Und mein Körper wurde immer leichter. Der Wind fegte über mich hinweg und die Wellen warfen mich herum wie ein Spielzeug. Ich wusste, dass der Tod mich holen würde. Jeden Moment. Aber es war mir egal. Nicht, weil ich sterben wollte, sondern weil ich unter keinen Umständen umkehren wollte. Ich konnte es nicht.« Seine Stimme wurde brüchig. »Und dann kommt der Moment, in dem man realisiert, dass es ohnehin zu spät ist. Dass man nicht mehr umkehren kann.« Iris spürte, wie sein Körper erbebte. »Erst da bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich bekam eine solche Panik, dass ich wie ein Stein im Ozean versank.«

Vorsichtig richtete Iris sich wieder auf. Im Halbdunkeln konnte sie die verräterische Feuchtigkeit in Zanders Augen erahnen. Der Anblick war absolut entwaffnend. Noch nie hatte sie einen erwachsenen Mann weinen sehen. Irgendwie hatte sie angenommen, dass sie es albern oder abstoßend finden würde, doch stattdessen trafen sie Zanders Tränen mitten ins Herz. Ihr war sofort klar, dass sie alles – absolut alles – tun würde, um ihn zu trösten und dafür zu sorgen, dass sie ihn nie wieder so niedergeschlagen erleben musste. »Oh, Zander«, seufzte sie und streckte sich, um ihn zu küssen, doch er wandte den Kopf ab, sodass ihre Lippen seine stoppelige Wange streiften.

»Warte, ich bin noch nicht fertig«, erklärte er.

Iris verfluchte ihre Fesseln. Nur zu gern hätte sie Zander in den Arm genommen und nie wieder losgelassen.

»Ich versank also im Ozean. Immer weiter in die Dunkelheit. Und dann sah ich sie.«

»Die Rybala Havfruese?«, vermutete Iris.

Zander nickte. »Sie hat mir das Leben gerettet und mich zurück ans Ufer gebracht. Zu der kleinen Bucht, in der ich morgens immer schwimme. Dort bin ich nach dem Sturm wieder zu mir gekommen. Lebendig und unverletzt. Ein göttliches Wunder.« Er wandte den Kopf wieder in ihre Richtung und sah sie direkt an, sodass sie die blaue Urgewalt in seinen Augen erkennen konnte. »Ich bin mir sicher, dass sie mich nicht einfach so gerettet hat.« Sein Blick schweifte kurz durch das Gefängnis, bevor er zu Iris zurückkehrte. »Damit ich in diesem Loch verrecke.« Er bewegte den Kopf leicht hin und her. »Nein, Iris. Bevor ich dich traf, habe ich nie wirklich daran geglaubt, aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die Göttin noch einen Plan für mich hat. Für uns.«

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