Rock it, Dornröschen

By KatharinaFerihumer

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Lea arbeitet bei einer kleinen Redaktion, in der sie Artikel über Kunst und Kultur schreibt. Mit ihren 23 Jah... More

Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12

Kapitel 7

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By KatharinaFerihumer

Ich hatte eine ganze Woche totzuschlagen. Dabei war ich so aufgeregt, dass ich am liebsten sofort begonnen hätte. Michael war noch einmal vorbei gekommen. Wir waren uns mit einem Mal völlig fremd geworden. Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis ihn zufrieden stellen zu wollen. Aber ich wollte auch nicht im Streit mit ihm auseinander gehen.

„Bist du jetzt zufrieden?"

Er klang ziemlich sauer, wand aber seinen Blick ab.

„Michael, es war keine Entscheidung zwischen dir und der Karriere. Ich wollte beides haben, aber du bist einfach zu stur..."

„Es ist also meine Schuld, dass du plötzlich völlig durchdrehst?", unterbrach er mich schnell.

Seufzend faltete ich einen Karton auf, damit er seine Sachen darin verstauen konnte. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich die Wohnung behalten würde. Er flüchtete in den Schoß seiner Mutter, da war er bestimmt gut aufgehoben. Mit dem Job in der Redaktion hätte ich mir die Wohnung niemals alleine leisten können, aber mein zukünftiges Gehalt hatte sich mehr als verdreifacht. Sein Blick wurde wieder weich und er kam näher, zog mich am Ellbogen an sich.

„Oder hast du einfach nur Torschlusspanik? Also wegen der Hochzeit..."

Der Antrag hatte mir tatsächlich Angst gemacht, war aber nicht der Grund. Lip hatte mir einfach die Augen für eine Alternative geöffnet. Er hat mir an einem einzigen Tag gezeigt, dass es da noch mehr im Leben gab. Dass ich nur aus meiner Komfortzone heraustreten musste und mir offenbarte sich eine völlig neue Welt. Und nun war ich endlich bereit, sie auch zu entdecken.

„Das ist es nicht. Ich möchte nur einfach noch mehr vom Leben."

Michael nahm seine nach Farben sortierten Socken aus der Schublade und schlichtete sie genauso sorgfältig in den Karton.

„Ich bin dir also langweilig geworden."

Seine Stimme klang erstickt, aber er bemühte sich gleichgültig zu wirken.

„Das stimmt so nicht. Möchtest du nicht auch manchmal ausbrechen aus deinem verplanten Leben?"

Er sah mich verstört an, war zu gefangen in seinem selbsterbautem System. Vielleicht hatte er auch so jemanden nötig wie Lip um ihn wachzurütteln.

„Warum sollte ich? Ich begebe mich doch nicht unnötig in Risiken.", schüttelte er den Kopf.

„Du warst auch mal so. Aber das war dieser Frontsänger, habe ich Recht? Er hat dir diese Flausen in den Kopf gesetzt. Irgendwann wirst du merken, wie anstrengend so ein Leben ist und dann wirst du dir wünschen, du hättest mich nicht verlassen..."

Die Schubladen leerten sich langsam und es war ein seltsames Gefühl.

„Ich habe dich nicht verlassen und ich wünschte mir jetzt schon wir wären noch zusammen."

Ich hatte mich doch nicht von Grund auf geändert. Die Liebe zu Michael war noch da und seine Nähe tat mir gut. Bei so vielen Veränderungen hätte er mir gut getan. Er hätte meine Sicherheit sein können, mein vertrautes Zuhause.

„Dann nimm den Job nicht an!"

Sein Blick war hoffnungsvoll und er hielt in der Bewegung inne, als hoffte er darauf wieder alles auspacken zu können. Aber als ich meinen Kopf schüttelte, packte er seinen zusammengefalteten Karopyjama und warf ihn zu den Socken. Das war seine Art mir zu zeigen, wie sauer er war.

„Es tut mir leid. Ich wünschte nur du würdest mich verstehen..."

Michael fuhr herum, entgeistert blickte er mir in die Augen.

„Und ich wünschte du könntest mich verstehen!", wand er sich wieder ab und packte fertig.

Ich ließ ihn allein zurück und durchforstete unsere Spielesammlung. Die meisten davon hatten wir zusammengekauft, aber ich war bereit ihm alle zu überlassen. Nachdem ich sie gestapelt hatte, ging ich zurück ins Schlafzimmer, wo Michael am Fußende des Bettes saß. Seine Augen waren feucht, seine Schultern hangen schlapp herunter.

„Es tut mir leid, dass ich dich nicht glücklich machen konnte.", flüsterte er und es brach mir das Herz ihn so zu sehen. Dennoch wusste ich nichts darauf zu sagen.

Scheinbar hatte er darauf gehofft, seufzte ein letztes Mal und stand auf. Seine Kisten standen verschlossen auf dem Boden und er hob sie hoch.

„Soll ich dir helfen?"

Michael schüttelte den Kopf und schnappte sich die ersten beiden Kisten. Als er wieder hochkam, überreichte ich ihm wortlos die Spiele. Er sagte nichts darüber und brachte sie einfach nur hinunter ins Auto. Nach zwei weiteren Gängen stand er plötzlich etwas betreten vor mir.

„Das wichtigste habe ich mit... Über alles andere können wir noch mal reden..."

Langsam ging ich auf ihn zu, öffnete meine Arme um in ein letztes Mal zu umarmen. Michael wehrte ab und wich zurück bis zur Tür.

„Du wirst eine große Lücke in meinem Leben hinterlassen.", flüsterte Michael, als er die Tür öffnete und ohne sich noch einmal umzudrehen im Flur verschwand.

Nachdem ich die Tür verschlossen hatte, kehrte ich ins Schlafzimmer zurück. Die Hälfte der Kommoden, der Schränke waren leer. Es tat irgendwie weh, als wäre ein kleiner Teil von mir gegangen. Mit einem Mal war ich furchtbar einsam, wusste nichts mit mir anzufangen.

Irgendwann begann ich meinen Kleiderschrank auszumisten und warf die meisten meiner Blusen einfach weg. Zu einem neuen Leben gehörten jede Menge Veränderungen und auch wenn es mir unsagbar schwer fiel, so war es doch ein Gefühl von Befreiung.

Am Freitag verabredete ich mich kurzentschlossen mit Lilleth und sie beriet mich beim Shoppen. Ich wollte auch Kleidertechnisch mehr zur Band passen. Brauchte das Passende für Pressekonferenzen, für bestimmte Anlässe, für die Aftershowpartys. Sie freute sich wahnsinnig mit mir und ich hatte sogar das Gefühl in ihre eine echte Freundin gefunden zu haben.

„Meine Freundin nennen mich Lilly.", sagte sie schließlich und ich war hin und weg.

Wir bummelten durch die Geschäfte und waren mehr mit Quatschen, als mit Shoppen beschäftigt.

Lilly erzählte mir von ihrer Kindheit, von Jad als Jugendlicher, von ihren Erinnerungen an die Band zu Anfangszeiten, als sie noch in ihrer Garage geprobt haben.

„Ich muss dir unbedingt mal Fotos davon zeigen. Du wirst Lip darauf kaum wieder erkennen.", lachte sie. Wir hatten noch nichts für mich gefunden, beschlossen aber erstmal einen Kaffee zu trinken.

Sie brachte das Thema wieder auf Lip und ich schüttelte lachend den Kopf.

„Im Vertrag steht, dass öffentliche Beziehungen zu den Bandmitgliedern untersagt sind.", zitierte ich.

Lilly hob fragend eine Braue, schmunzelte aber dann.

„Öffentliche! Ist doch klar. Stell dir all die armen weiblichen Fans vor, wenn sie mitbekommen, das er vergeben ist..."

„Ich bin keine Frau für eine Affäre!", gab ich zurück und wechselte das Thema.

Es war ohnehin völlig abwegig mich neben Lip vorzustellen. Wir hatten so absolut nichts gemein. Zwei verschiedene Welten, die wir zwar vereinen konnten, aber unsere Charakter passten einfach nicht zusammen. Und dann kam noch hinzu, dass ich nicht einmal sein Typ war, wie er mir beim ersten Interview vermittelt hatte. Dass mich das immer mehr kränkte, machte mir Angst.

„Du bist geradezu besessen von Lip.", neckte ich sie. Willst du denn etwas von ihm?"

Lilly lachte auf, es war ansteckend.

„Gott, nein. Er ist wie ein Bruder für mich. Ich kenne ihn schon ewig und möchte einfach nur dass es ihm gut geht..."

Nachdenklich blickte sie in die Ferne. Es war klar, dass mir da etwas entging, aber ich wollte das Thema endlich beenden.

„Also, ich habe noch immer nichts gefunden. Wir müssen uns jetzt auf das Wesentliche konzentrieren!", lenkte ich dann ab und wir bezahlten unseren Kaffee.

Lilly führte mich in die besten Shops und hatte ein gutes Auge für Details. Alles was sie mir reichte, stand mir zu meinem eigenen Erstaunen wirklich gut. Am Ende des Tages war ich glücklich und völlig erschöpft. Ich füllte mit meinen neuen Sachen, die leeren Fächer der Schränke und ließ mir anschließend ein entspanntes Bad ein.

Am liebsten hätte ich auf das Sonntagsmittagessen bei meinen Eltern verzichtet, aber da musste ich durch. Kurz nachdem ich eingetroffen war, klingelte es erneut und Michael stand vor der Tür.

„Ich habe ihn eingeladen. Schließlich gehört er zur Familie."

Mein Vater zwinkerte mir in einem unbeobachteten Moment zu und ich wusste, egal was ich tat, er stand hinter mir. Bis vor kurzem war eher kühl und distanziert, sprach mit mir hauptsächlich über die Redaktion. Dass gerade er hinter meinen Entscheidungen stand, überraschte und freute mich gleichermaßen. Also setzte ich mich wie immer neben Michael, mied aber seine Blicke.

Beim Abendessen eröffnete ich das heikle Thema ohne Umschweife.

„Ich fange morgen mit meinem neuen Job in der Agentur an. In drei Wochen beginnt die Tournee, auf der ich sie begleiten werde."

Meine Mutter ließ ihre Gabel fallen.

„Es stimmt also wirklich."

Sie warf Michael einen bösen Blick zu, als trage er die Schuld daran.

„Lass ihn aus dem Spiel. Es ist allein meine Entscheidung."

Michaels Blick ruhte auf mir.

„In einer Ehe trifft man die Entscheidungen gemeinsam!", blaffte sie mich an.

„Wir sind nicht verheiratet!", erhob ich meine Stimme, das erste Mal gegen meine Mutter.

Sie zog die Luft ein und hielt inne.

„Außerdem bist du darin kein gutes Vorbild!", legte ich nach.

Ihre Wangen liefen rot an. Keuchend hielt sie sich die Brust, stammelte sinnlose Worte.

„Wie kannst du es wagen?", brachte sie schließlich hervor.

Michael stand wortlos auf, verließ ohne Kommentar das Haus. Mein Vater schenkte sich einen Whiskey ein und fragte mich kühn, ob ich auch etwas Stärkeres bräuchte.

„Nein, danke. Ich werde ohnehin jetzt aufbrechen. War nett, wie immer."

Dann tat ich etwas, was ich seit meiner Kindheit nicht mehr versucht hatte. Ich ging um den Tisch und umarmte meinen Vater, der mich dankbar in seine Arme nahm. Meine Mutter begann langsam zu hyperventilierten, doch ich ignorierte ihre Show, winkte zum Abschied und ließ die Haustür ins Schloss fallen. Draußen angekommen, hatte ich das erste Mal seit Jahren das Gefühl wieder frei atmen zu können. Die Situation bei meinen Eltern war regelrecht surreal gewesen, denn so hatte ich mich bislang noch nie verhalten. Aber ich war gerade dabei mich zu verändern, endlich für mich einzustehen. Gelinde gesagt machte es mir eine Scheißangst, aber zugleich war es wahnsinnig aufregend. Während ich nachhause fuhr, ging ich in Gedanken die letzten Jahre meines Lebens durch. Alle Entscheidungen von denen ich geglaubt hatte, sie getroffen zu haben, waren durch Michael oder meiner Mutter vorbestimmt. Das erste Mal in meinem Leben, tat ich das, was ich selbst wollte.

Endlich war es soweit. Der erste Tag in meinem neuen Job begann damit mein riesiges Büro zu beziehen. Eine Sekretärin mit blonden hochgesteckten Haaren stand neben mir und zeigte auf mein Türschild.

„Ihr Büro.", lächelte sie charmant.

Ich lugte auf ihr Namensschild auf der grauen Weste. „Frau Henner", stand in schnörkeliger Schrift darauf und ich lächelte zurück.

„Danke, Frau Henner."

Nachdem sie mir erklärt hatte, wo sie zu finden war, falls ich etwas benötigte, trat ich gespannt in mein Büro ein. Auf meinem großen Schreibtisch stand nicht nur ein Computer, sondern auch ein Scanner, ein Drucker und sogar ein Laptop für mobile Einsätze. Hinter mir war ein überdimensionales Wandregal, das Platz für viele Mappen bot, die ich bestimmt bald auffüllen würde. Am Fenster befand sich ein kleiner Tisch mit einem Obstkorb darauf, zwei gemütliche Lederstühle und eine kleine Couch. Daneben war eine Minibar, bestückt mit Mineralwasser, Säfte, aber auch Sekt und Bier. An der gegenüberliegenden Wand hing ein sündhaft teurer LCD- Fernseher.

Meine wenigen Habseligkeiten fielen hier drin überhaupt nicht auf. Außerdem war alles vorhanden, was man irgendwann einmal brauchen könnte.

„Fehlt ihnen etwas?", fragte Brand genau in diesem Moment.

Er stand in der Tür und sah sich in meinem Büro um, dass nur wenig kleiner war, als seines.

„Es ist perfekt!", gab ich zu.

„Scheuen sie nicht mich aufzusuchen, wenn es irgendein Problem gibt, oder sie Fragen haben!"

Er reichte mir einen Zeitplan für die ganze Woche. Für diesen Tag stand eine Führung durch die Agentur an, ich bekam alle wichtigen Informationen die die Agentur zur Band hatte und ich sollte mir alte Interviews ansehen um die Jungs ein wenig zu analysieren. Im Keller zeigte mir Brand höchstpersönlich ein großes Archiv, dass ausgestattet war mit allen Interviews, Fernsehauftritten und Shows der Band. Ich ging nach der Besichtigungstour zurück in mein Büro und begann beim allerersten Video, bei dem ich die Jungs kaum erkannt hatte. Die Haare der Zwillinge waren fast schulterlang. Lip trug die Haare geschoren und Jads Haare waren dunkel gefärbt. Außerdem waren sie unglaublich nervös. Ich musste an einigen Stellen schmunzeln, manchmal sogar lachen.

Ich schrieb viel mit, sortierte die Filmmaterialien nach Datum und hörte erst auf, als ich kaum mehr meine Augen offen halten konnte. Leider bekam ich die Band selbst kein einziges Mal zu Gesicht.

Am Dienstag ging ich schon wie selbstverständlich in mein Büro und begann meinen Tag mit dem Durchsehen der neuen Mails. Gegen neun Uhr suchte mich ein IT-Spezialist der Agentur auf. Er erklärte mir alles über die sozialen Netzwerke, worauf ich achten sollte, wie ich auf Drohungen zu reagieren hatte und was ich wie oft posten sollte. Ich schrieb alles mit, aber der Mann, der wie der typische Nerd mit Brille und Kragenhemd aussah, sprach so schnell, dass ich kaum nachkam. Mir schwirrte mittags schon der Kopf. Nachdem er sich etwas verlegen, verabschiedete und mir die Karte für Notfälle zurück ließ, suchte ich die Agentureigene Kantine auf. Es gab eine lange Schlange vor der Essensausgabe und da wurde mir erst klar wie viele Menschen hier arbeiteten. Im Grunde waren das alles Kollegen für mich. Etwas schüchtern holte ich mir eine Gemüsecremesuppe und einen warmen Apfelstrudel und setzte mich allein auf einen kleinen Tisch am Fenster. Mir war etwas mulmig zumute, bei der Menge an Menschen, die mich immer wieder neugierig musterten. Aber niemand sprach mich an und so machte ich mich wieder schnell auf in mein Büro. Den Nachmittag verbrachte ich mit weiteren Videos über die Band und konnte ich mir so langsam ein Bild von ihnen machen.

Irgendwann brannten meine Augen und mein Kopf pochte unaufhaltsam. Müde schleppte ich mich durch den schon leeren Gang zum Aufzug, als ich plötzlich ein Rufen hinter mir hörte.

„Lea, lass mich mitfahren.", lächelte Lip und brachte mich total aus dem Konzept.

Ihm so nahe zu sein, machte mich noch immer nervös. Immer wenn er mich ansah, fragte ich mich ob er tatsächlich durch meine Schutzmauer hindurch sehen konnte. Die Türen schlossen sich und Lip drückte auf die Taste. Ich versuchte meinen Atem zu kontrollieren, unscheinbar zu sein.

„Und wie gefällt es dir bisher?", fragte er direkt.

Lip musterte mich unverhohlen, was meinen Puls ein wenig beschleunigte. Bei ihm musste ich immer gewappnet sein, er war unberechenbar.

„Gut.", hielt ich meine Antwort wage, um ihm nicht unnötig Zündstoff zu bieten.

Er hob stirnrunzelnd eine Braue, lächelte aber dann.

„Mach ich dich nervös?"

Ich versuchte gleichgültig zu wirken, aber er hatte Recht mit seiner Annahme. Kopfschüttelnd hob er die Hände und lächelte entschuldigend.

„Tut mir leid. Es interessiert mich wirklich, wie es dir geht."

Seine Stimme war weich geworden.

„Du kannst tatsächlich nett sein, wenn man dir nicht zu nahe kommt."

Meine Worte kamen unüberlegt und lösten ein Aufblitzen in seinen Augen aus. Der Aufzug öffnete sich wieder, aber Lip blieb stehen. Er sagte kein Wort, aber Blick sprach Bände. Ich hatte ihn getroffen und ich wusste meine Worte verletzen ihn mehr, als ich beabsichtigt hatte. Die Tür begann sich wieder zu schließen, da schnellte sein Arm nach vor. Er hielt ihn auf und trat auf den Gang ohne sich noch einmal umzudrehen. Lip verschwand ohne ein weiteres Wort und ich trat schuldbewusst aus dem Aufzug ohne genau zu wissen, was ich überhaupt ausgelöst hatte.

Als ich am Mittwoch in die Agentur kam, wartete Christine Brand schon auf mich.

„Heute besuchen wir ein Sprachtraining. Ich mache das auch regelmäßig. Es ist von großer Bedeutung sich richtig ausdrücken zu können. Vor allem vor der Kamera."

Ihre hohen Pumps klapperten auf dem Flurboden, während ich ihr folge. Sie legte ein beachtliches Tempo vor, dafür dass sie zwanzig Zentimeterabsätze trug.

Eine Limousine brachte uns schließlich zu einer Agentur für Schauspieler. Dort empfing uns ein sehr amüsanter Lehrer, der eine leichte Ähnlichkeit mit Tom Cruise hatte. Nur war er etwas stärker und muskulöser, zugleich aber wahnsinnig redegewandt.

Wir nahmen in seinem Büro an einem Tisch Platz. An den Wänden hingen jede Menge Fotos von Stars, die er unterrichtet hatte. Als erstes ließ er uns Reime und Zungenbrecher aufsagen, bevor er zu schwierigen Fremdwörtern wechselte. Christine Brand war ein Naturtalent und wurde durchwegs gelobt. Mir fiel es schwer gleichzeitig den Blickkontakt zu halten, auf die Wortwahl zu achten und auch noch die richtigen Stellen zu betonen. Wenn ich Christine die Übung vorzeigte, schüchterte es mich gewaltig ein. Sie hatte eine Ausstrahlung, die jeden neben ihr erblassen ließ. Irgendwann tat mir die Kaumuskulatur weh, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie schmerzen konnte.

„Das war gut!", lobte mich der Tom Cruise- Verschnitt, den Christine und ich einfachhalber immer nur Tom nannten. Wenn er nicht hinhörte natürlich. Ihr einschüchterndes Auftreten täuschte gewaltig. Sie war eine eher ruhige aber witzige Person, die auf Äußerlichkeiten bedacht war, ohne arrogant zu sein. Ihre wertschätzende Art mit mir zu sprechen, machte es mir viel leichter. Ich fühlte mich wohl in ihrer Nähe. Der Tag verging mit ihr schneller, als erwartet und als wir zurück in die Agentur kamen, war ich mehr als enttäuscht, die Jungs wieder verpasst zu haben.

Am nächsten Tag machten wir dasselbe noch einmal. Nur das wir ein Interview nachstellten und „Tom" mich fort weg aus dem Konzept zu bringen versuchte. Er redete dazwischen, beleidigte mich, begann zu schreien oder zu singen.

„Bei Interviews oder vor der Paparazzi geht es oft heiß her, da müssen sie einen kühlen Kopf bewahren."

Er konnte so ruhig sein und dann wenn man es am wenigsten erwartete, rastete er völlig aus. Es war zwar nur gespielt, aber er war ein guter Schauspieler. Ich kaufte ihm jede Nummer ab.

„Ich muss ehrlich gestehen, ich hatte es mir nicht so anstrengend vorgestellt.", gab ich zu, als er uns in die Mittagspause entließ.

Christine und ich suchten uns in der Kantine der Schauspielschule einen Tisch am Fenster und aßen den Salat, den wir uns bestellt hatten. Ich wollte eigentlich etwas Deftiges, aber nachdem Christine mir erklärt hatte, wie wichtig es sei, eine gute Figur vor der Kamera zu machen, tat ich ihr alles nach. Anstelle des Weins trank ich genauso eine Soda-Zitrone und schweren Herzens ließ ich ebenso das duftende Brot in seinem Körbchen.

„Erzählen sie mir von sich!", bat Christine und nahm einen ersten prüfenden Bissen vom Teller.

Mein Leben schien so langweilig zu sein, im Vergleich zu ihrem. Also erzählte ich ihr von meinem Studium und von meinem Interesse an der Kunst. Sie hörte mir aufmerksam zu.

„Wenn sie davon sprechen, leuchten ihre Augen regelrecht. Warum haben sie nicht mehr in diese Richtung gemacht?"

Ich hielt es für keine gute Idee meiner quasi Chefin von meiner komplizierten Familie zu berichten, also hielt ich in meiner Erzählungen ziemlich vage.

„Das klingt doch spannend. Sie sollten in einem Museum arbeiten! Sie verschwenden ihr Talent."

Ihr Lächeln war zauberhaft, ließ mich an ihre Worte glauben, die sie sprach.

„Vielleicht mache ich das irgendwann...", murmelte ich ein wenig verlegen.

„Aber so wie ich das sehe, braucht mich momentan die Band mehr."

Christine stellte nach wenigen Bissen ihren Salat zur Seite und tupfte sich elegant ihren Mund mit einer Serviette ab.

„Das stimmt allerdings!"

Ihr Blick ruhte nachdenklich auf mir. Beklommen schob auch ich meinen Salat zur Seite, den ich noch gerne fertig gegessen hatte. Aber in ihrer Gegenwart, mit ihrer Figur, hatte ich das Gefühl, das jeder Bissen einer zu viel war. Wir gingen zurück in den Übungsraum, in dem unser Lehrer schon etwas ungeduldig auf uns wartete.

„Wir haben noch viel vor!", drängte er uns und wir begannen mit der nächsten Sprachübung.

Am Ende des Tages war er dann doch ganz zufrieden mit mir und ich einfach nur erschöpft. Wir fuhren zurück zur Agentur, wo Christine ihren Mann noch überraschte. Mein Blick schwenkte nach oben, zu einem der großen Fenster, das sich auf dem Flur vor meinem Büro befand. Jemand lehnte sich an das Geländer vor der Glasfläche und als unsere Blicke sich trafen, verharrte ich in der Bewegung. Lips Augen hafteten auf mir, ließen die Welt für einen Moment erstarren. Da tauchte Jad hinter ihm auf, sprach ihn an und der Moment war vorbei. Wie aus einer Trance erstarrt, bewegte ich mich langsam auf mein Auto zu und fuhr nachhause.

Ich hatte meinem Dad versprochen mich zu melden und als er nach dem dritten Läuten fröhlich abhieb, erzählte ich ihm von meiner bisherigen Woche. Es war anfangs etwas komisch, da wir die letzten Jahre nicht mehr als Zweiwortsätze miteinander gesprochen hatten. Gegen Ende hin wurde unser Gespräch richtig flüssig und wir lachten gemeinsam über den komischen Sprachlehrer. Nach dem Telefonat legte ich mich müde ins Bett und wartete auf den Schlaf, der nicht so Recht kommen wollte. Lips Augen erschienen immer wieder in meinem Kopf.

Am letzten Tag der Woche wartete Brand schon auf mich in meinem Büro. Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich ihn sah. Was vermutlich an meinem Verhältnis zu meinem vorigen Chef lag, der nie ein gutes Wort für mich übrig hatte. Brand war anders, er lächelte jedes Mal wenn er mich sah und hatte bislang nur gute Worte für mich übrig.

„Wie geht es ihnen soweit?"

Ich setzte mich auf meinen breiten Drehstuhl und sortierte die Unterlagen für diesen Tag.

„Danke, sehr gut. Ich hatte nur gedacht, dass ich mehr... also mehr mit der Band zu tun hätte...", gab ich verlegen zu.

Sein Lächeln war echt und erstaunte mich jedes Mal wieder.

„Das ist die Kehrseite der Medaille. Der Job ist nicht nur aufregend. Manchmal gibt es Tage, da sitzt man nur im Büro vor dem Bildschirm. Aber glauben sie mir, diese ruhigen Stunden werden sie auf der Tour bestimmt bald vermissen!"

Ment verabschiedete sich schon ins Wochenende, er entführte seine Frau zur Überraschung in ein Wellnesshotel. Kurz darauf stellte sich eine üppige Frau namens Thea bei mir vor und nahm am kleinen Tisch in meinem Büro Platz. Sie schulte mich über Rechtliche Dinge ein. Wie weit die Paparazzi gehen durften, was ich zu unterbinden hatte und welche Rechte und Pflichten ich dabei hatte. Alles in allem war es ein sehr trockener Stoff und ich musste sogar etwas dazu unterschreiben.

Mehr als nur einmal sagte sie „Dafür können sie zur Rechenschaft gezogen werden" und bald hatte ich regelrecht Angst davor etwas falsch zu machen.

„Das ist ja ein echter Paragraphendschungel stöhnte ich auf, aber Thea ließ nicht locker. Sie quasselte in einer Tour einem monotonem langweiligem Tempo dahin. Sie verwehrte mir sogar die Mittagspause, weil sie früher nachhause wollte. Gegen drei Uhr nachmittags schien sie endlich Mitleid mit mir zu haben und entließ mich in den Feierabend. Sie war mir nicht wirklich sympathisch gewesen, aber vermutlich musste ich sie nicht so schnell wieder sehen.

Als Perfektionistin nahm ich mir die Unterlagen mit nachhause um sie übers Wochenende auswendig zu lernen. Schon am nächsten Morgen begab ich mich mit den Dokumenten und einer riesigen Tasse Kaffee auf die Couch. Allerdings fiel es mir schwer mich zu konzentrieren, weil entweder Lip oder Michael in meine Gedanken huschten. Und ich wusste nicht einmal an wen ich lieber dachte.

Michael hatte sich die ganze Woche über kein einziges Mal gemeldet und irgendwie begann ich ihn nun doch zu vermissen. Dafür hatte meine Mutter täglich eine Nachricht in all möglichen Tonlagen hinterlassen. Aber ich war noch nicht gewillt, mich ihr zu stellen, also nutzte ich das Wochenende ganz für mich allein. Mit meinem Vater hatte ich auch am Wochenende Kontakt und er beschwichtigte meine Mutter mir noch etwas Zeit zu geben.

„Du hörst dich anders an, glücklicher!", hörte ich ihn sagen und musste schmunzeln.

Mein Leben hatte sich mit einem Mal von Grund auf geändert und doch hatte ich keine Angst. Ich stellte mich tapfer den Herausforderungen und blieb ruhig. So etwas hatte ich mir selbst nie zugetraut, es musste also an Lip liegen, der mich herausgefordert hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, als wäre ich endlich aufgewacht.

Nach einem halben Tag büffeln, gönnte ich mir ein wenig Zeit für mich. Und es fiel mir erstaunlich leicht mich zu entspannen, nur Dinge zu tun, die ich wollte. Ich backte Muffins und aß sie sogar im Bett. Nach einem ewig langen Schaumbad sah ich mir drei Liebesfilme am Stück an und zwischendurch machte ich sogar ein Nickerchen. Ich fühlte mich völlig unbeschwert und frei und es war ein herrliches Gefühl, einmal nur das zu tun, wonach einem gerade war. In der Zeit mit Michael war unser Tag immer vorgeplant, in dem es keinen Platz für Flexibilität gab. Es gab Momente, da fühlte ich mich ein wenig einsam und dann berauschten mich die neuen Möglichkeiten wieder, die noch vor mir lagen. Meine Zukunft stand offen, so viel war sicher. Und statt Angst davor zu haben, blickte ich voller Euphorie in eine neue Woche. Nach einer traumlosen Nacht machte ich mich wieder auf in die Agentur. Brand orderte mich in sein Büro und ich wurde wieder nervös. Meine Gedanken kreisten sich um die letzte Woche, ob ich etwas falsch gemachten haben könnte. Als ich in sein Büro kam, lächelte er breit und bat mich Platz zu nehmen.

„Das ist der letzte Plan, den sie von mir bekommen. Ab heute werden alle Gespräche diesbezüglich zu ihnen durchgestellt. Speichern sie sich die Nummern der Bandmitglieder ein. Sie koordinieren ab jetzt die Termine und sie müssen auch dafür sorgen, dass die Jungs keinen davon verpassen und natürlich auch gut darauf vorbereitet sind."

Brand lächelte mich aufmunternd an. Es war eine riesen Herausforderung, der ich mich da stellte.

„Ich weiß natürlich, dass sie so etwas bislang noch nie gemacht haben. Also, wie schon gesagt, meine Tür steht immer offen!"

Der Kloß in meinem Hals wollte nicht so recht verschwinden.

„Sollen wir noch einmal alles durchgehen?", nahm er meine Unsicherheit richtig wahr.

Ohne meine Antwort abzuwarten, legte er mir eine Liste vor und ging noch einmal und mit voller Geduld alles mit mir durch. Ich bedankte mich mehrmals und ging schon etwas beruhigter zurück in mein Büro. Über den ganzen Tag verteilt, sollte ich die Jungs empfangen und mit ihnen über unsere zukünftige Zusammenarbeit sprechen. Da ich fortan jedes schmutzige Detail, jede illegale Straftat, wenn es denn eine gab und auch jede imageschädigende Aktion bis ins kleinste kennen musste, waren Einzelgespräche durchaus sinnvoller. Es durfte keine plötzlichen Überraschungen geben, also mussten wir ihre ganze Vergangenheit ausgraben und jedes noch so kleine Geheimnis wurde zu meinem. Ich begann mit Jad, weil ich in ihm das größte Vertrauen hegte und ein Gespräch zwischen uns so herrlich einfach war. Gut gelaunt trat er ein und nahm auf meiner Couch Platz.

„Wo ward ihr denn die ganze letzte Woche? Ich habe euch nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen?", begrüßte ich ihn lächelnd.

Ich klang enttäuschter, als ich es zugeben wollte.

„Wir haben viel für die Tournee geprobt. Langsam werden wir nervös.", gab Jad zu.

Er schnappte sich eine Banane aus der Obstschüssel und warf mir einen fragenden Blick zu.

„Bitte, gern. Habt ihr schon meditiert?", scherzte ich und er wusste, worauf ich hinaus wollte.

„Er hat dir also tatsächlich davon erzählt. Soso..."

Ich wollte nicht näher darauf eingehen. Wenn jemand das Gespräch auf Lip brachte, wurde ich immer etwas verlegen.

„Also Jad. Ich glaube Brand hat euch über dieses Gespräch in Kenntnis gesetzt. Du weißt, nichts was du sagen wirst, verlässt diesen Raum. Aber es darf keine Geheimnisse zwischen uns geben. Ich muss auf alles vorbereitet sein, damit es keine Überraschungen seitens der Medien gibt."

Jad seufzte und rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht.

„Fang einfach an wo du willst...", wollte ich die Spannung ein wenig raus nehmen und holte mir Block und Stift. Ich notierte mir jede noch so unscheinbare Kleinigkeit, während er bei seiner Kindheit begann. Er erzählte von einem Kaugummidiebstahl als Kind, von einer Prügelei in der Schule, von der Affäre seiner Mutter, von albernen Streitigkeiten mit Lilly und Partys die ein wenig ausgeartet waren. Alles in allem, war nichts Dramatisches dabei. Es war so herrlich einfach mit ihm zu reden, er war ehrlich und ich hatte nicht das Gefühl mich ständig rechtfertigen zu müssen.

„Was ist mit deinen Ex-Freundinnen. Erzähl mir davon!"

Es war unangenehm Jad so persönliche Dinge zu fragen, aber es war wichtig und deshalb versuchte ich alles so sachlich wie möglich zu betrachten.

„Da gab es Marie. Sie war die erste. Da war ich ungefähr sechzehn. Es hielt nicht lange. Dann Susi, Linda und Manuela. Dann nochmal Marie."

Er zählte sie an den Fingern ab, was mich ein wenig zum Schmunzeln brachte.

„Die Gleiche?"

Jad nickte, sah ein wenig traurig dabei aus.

„Sie war die erste und die letzte. Bis jetzt."

Er erzählte von den Beziehungen, aber soweit ich das beurteilen konnte, war nie etwas vorgefallen, was bei den Medien zur Sprache kommen könnte.

„Wie ist dein Verhältnis zu deinen Bandkollegen?"

Er runzelte die Stirn, hielt einen Moment inne.

„Also Nik ist einfach cool drauf, mit ihm kann ich wirklich gut reden. Wir beide gehen meist vor Lip und Dex von einer Party und er verhält sich eigentlich nie idiotisch. Im Gegensatz zu Lip. Was soll ich sagen, er ist mein bester Freund, ich weiß, wie ich mit ihm umgehen muss, aber er kann echt schwierig sein. Allerdings kann man mit niemandem so viel Spaß haben wie mit ihm. Und Dex ist für die geilen Ideen zuständig, die uns manchmal auch in Schwierigkeiten bringen..."

Jad machte mir ein ganz gutes Bild von der Dynamik der Band. Er erzählte mir noch von einer Eskapade, für die Dex verantwortlich war. Ihn brachte es zum Lachen, mich nur zum Kopfschütteln.

„Danke Jad. Es war sehr aufschlussreich mit dir!"

An der Tür drehte er sich noch einmal um.

„Lea. Ich freue mich dass du nun zum Team gehörst!"

Seine Worte erwärmten mein Herz, zumindest fühlte es sich so an.

„Ich bin auch froh, hier zu sein!", lächelte ich zurück.

Nach Jad kam Dex herein, der scheinbar schon vor der Tür gewartet hatte.

Er war genauso wenig begeistert von den Fragen, erzählte aber auch bereitwillig, wenn auch ziemlich durcheinander. Die Jahre gerieten nur so durcheinander, dann verwechselte er wieder etwas. Alles in allem war es ziemlich chaotisch. Einige Male musste ich nachhaken. Meine Notizen waren ein einziges Durcheinander mit Pfeilen und Symbolen. Dex erzählte mir von seiner schwere Kindheit, die er aber, so wie er sagte, nicht für seinen Charakter verantwortlich machen wollte. Seine Mutter war bei der Geburt gestorben und sein Vater war selten da, obwohl er sich viel Mühe gab. Mit vierzehn geriet er deshalb kurzzeitig auf die schiefe Bahn. Es folgten Alkoholmissbrauch und Drogenkonsum. Die Band hatte ihn wieder auf den richtigen Weg gebracht, schwor er. Deshalb auch sein Tattoo „Human". Damit er nie vergesse menschlich zu bleiben. Seine Geschichte rührte mich und ich unterdrückte eine kleine Träne. Er hatte bislang nur eine richtige Freundin, die er damals an die Drogen verloren hatte. Seitdem hatte er Angst eine engere Bindung einzugehen. Weil er seit langem keine Freundin mehr hatte, kam manchmal das Gerücht auf, er wäre schwul.

„Ich habe nichts gegen Homosexuelle! Aber ich habe lieber eine Frau an meiner Seite!", grinste Dex.

„Oder auch zwei..."

Ich musste lachen. Dex war so herrlich ehrlich, wenn auch manchmal etwas ungehobelt und direkt.

„Danke für deine Offenheit. Das bleibt alles unter uns! Versprochen!", versicherte ich ihm.

„Lip hatte Recht, du hast eine reine Seele."

Erstaunt sah ich von meinen Notizen auf, direkt in sein grinsendes Gesicht.

„Das hat er nicht gesagt!", gab ich verwirrt zurück.

„Doch. Genauso. Wir haben es mit vielen verlogenen, manipulierenden Menschen zu tun. Deine Art ist erfrischend anders."

In meinem bisherigen Leben war ich immer so voreingenommen gewesen, was mir nun Gewissensbisse bereitete.

„Wollen wir essen gehen?", fragte er mich augenzwinkernd und stand auf.

Gemeinsam gingen wir in die Kantine essen. Nik war schon da und aß mit uns.

Jad war schon weg und auch von Lip war keine Spur. Ich ertappte mich dabei, wie ich den Raum nach ihm absuchte. Wir unterhielten uns angeregt und sie erzählten mir von der bevorstehenden Tournee. Ich musterte die beiden, deren Aussehen so viel Aufsehen erregte. Früher hatte ich diese Art von Männern für asozial gehalten, dabei waren sie menschlicher, als so mancher Snob.

„Fährst du mit uns im Bus?", riss mich Dex aus meinen Gedanken.

„Bus?", fragte ich verwirrt und legte mein Besteck auf dem leeren Teller ab.

„Der Tourbus, mit dem wir unterwegs sein werden. Gewöhn dich schon mal an den Gedanken mit vier Männern in einem Bus zu schlafen. Hotels wirst du eher selten sehen."

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Bei dem Gedanken daran fühlte ich mich etwas beklommen. Dex erzählte mir von dem Bus und dem Chauffeur, der sie meist zu den Konzerten brachte.

Nach dem Essen ging ich mit Nik in mein Büro und die gleiche Prozedur begann von vorne.

Auch er erzählte vom Tod seiner Mutter, von seinen Selbstmordgedanken, die er deshalb als Jugendlicher hatte. Es fiel ihm schwer darüber zu sprechen und ich bewunderte ihn dafür.

„Ihr habt ganz schön viel durchgemacht!", gab ich zu.

Ich hatte zwar die gleiche Geschichte schon von seinem Bruder Dex gehört, doch ihre Art sie zu erzählen, sie zu verarbeiten war eine Andere.

„Du hast Lips Geschichte noch nicht gehört..."

Entsetzt blickte ich in seine traurigen Augen. Was konnte schlimmer sein, als das? Ich war in einer, zumindest nach außen hin, harmonischen Familie aufgewachsen und konnte mir nicht vorstellen wie es war als Kind derart leiden zu müssen. Ich brannte förmlich darauf Lips Geschichte zu hören. Aber vorerst saß Nik bei mir und ich hörte ihm aufmerksam zu. Freundinnen hatte er kaum, dafür eine Stalkerin die ihn drei Monate lang verfolgte.

„Sie hat mir den letzten Nerv geraubt. Die Frau wusste Sachen, oder glaubte Sachen zu wissen, da schnallst du ab..."

Nik schüttelte seufzend den Kopf.

„Drogen habe ich nie angefasst. Aber ich trinke schon mal gerne über den Durst... Außerdem habe ich mich früher öfter geprügelt. Das war irgendwie nötig um mich zu spüren..."

Viele wären nach so einer Kindheit völlig abgedriftet, aber diese Jungs schien tatsächlich die Musik gerettet zu haben.

„Sollte dir noch etwas einfallen, sag mir bitte Bescheid.", beendete ich meine Befragung.

„Ich habe das Gefühl, als hätte ich gerade eine Stunde beim Seelendoktor hinter mir.... Oder zwei.", lugte er auf seine Armbanduhr und lachte ein wenig unsicher.

„Danke Nik, für deine Ehrlichkeit. Ich werde sorgsam damit umgehen. Versprochen!", versuchte ich ihn zu beruhigen.

Er öffnete die Tür, vor der Lip schon wartete.

„Mach dir keine Sorgen wegen der Tour! Das wird schon!", verabschiedete er sich lächelnd und ließ Lip eintreten.

„Ich habe dir Kaffee mitgebracht.", kam er mir entgegen.

Lip reichte mir einen Becher Kaffee und schloss die Tür. Ich hatte das Gefühl mein Herz klopfen zu hören. Seine Haare waren nass, seine Wangen gerötet.

„Jad und ich haben noch trainiert.", erzählte er knapp.

Wie gerne hätte ich Lip beim Training beobachtet. Ich verdrängte den Gedanken daran und mahnte mich zur Konzentration. Schließlich war ich zum Arbeiten hier.

„Bist du nervös?", musterte mich Lip und setzte sich an den freien Platz mir gegenüber.

Sein Anblick machte mich tatsächlich etwas unsicher, aber ich wusste nicht, dass man es mir anmerkte. Ich versuchte seinem Blick standzuhalten.

„Das ist doch wie ein Interview und ich bin gewappnet...", versuchte ich mutig zu klingen.

„Ich meinte die Tour!", lächelte er breit und ich wurde erst recht verlegen.

„Oh.", nickte ich benommen. „Ich war noch nie auf Tour, es ist neu für mich..."

Lip lehnte sich zurück, musterte mich neugierig.

„Also wie ich das sehe, erlebst du vieles zum ersten Mal mit mir..."

Sein Blick war ausdruckslos und ließ auch nicht erahnen was er dachte.

„Okay, fangen wir an.", lenkte ich das Thema von mir ab. „Erzähl mir von deinen Eltern."

Er verzog keine Miene, aber ich wusste, dass es ihm schwer fiel. Umso überraschter war ich darüber wie direkt er auf meine Frage antwortete.

„Meine Mutter war seit ich denken kann drogenabhängig. Mein Vater war nur die ersten paar Jahre hin und wieder da, verließ uns aber dann. Er scherte sich einen Dreck um mich. Als ich zehn Jahre alt war, stand er plötzlich vor der Tür und wollte mich zu sich holen. Zu diesem Zeitpunkt ging es meiner Mutter das erste Mal besser. Sie besuchte eine Entzugsklinik und ich hatte Hoffnung..."

Die Worte rauschten nur so aus seinem Mund. Allerdings klang es wie eine fremde Geschichte. Emotionslos und kalt. Vermutlich war es seine Art, es nicht zu sehr an sich heranzulassen.

„Er drohte mit dem Gericht, die für ihn stimmen würden, schließlich war meine Mutter eine Drogensüchtige. Ich wollte sie da nicht mit rein ziehen, also wohnte ich eine Weile bei meinem Vater. Er verlor schnell das Interesse an seinem gestörten Kind und nach vier Monaten war ich zurück bei meiner Mutter. Sie war clean und es ging echt bergauf. Als ich zwölf Jahre alt war, lernte sie einen neuen Typen kennen und ich dachte noch: „Cool, eine echte Familie." Doch dann fing er an sie zu schlagen und sie begann wieder mit den Drogen. Er wohnte schon bei uns und er fasste zwar mich nicht an, aber sie bekam ständig die Prügel ab. Eines Abends, ich war keine vierzehn, war sie schon bewusstlos und er schlug immer noch zu. Ich schrie ihn an, er solle aufhören, aber er lachte nur machte weiter. Impulsiv schnappte ich mir eine leere Weinflasche und zog sie ihm über. Die nächsten Stunden waren die Hölle. Der Typ wäre fast daran gestorben. Die Polizei hatte mich mitgenommen und verhört und ich kam in ein Kinderheim. Meine Mutter schaffte erneut einen Entzug, also kam ich zu ihr zurück. Doch es währte nicht lange. Seit ich sechzehn bin geht es auf und ab mit ihr. Aber so richtig losgekommen ist sie seitdem nicht mehr... Das wäre jetzt so die Kurzfassung."

Er hatte es nur so runtergerasselt, als wäre es auswendig gelernt.

Lip stand auf, wand sich ab und ließ seinen Blick durch den Garten schweifen. Am liebsten hätte ich einfach nur geweint. Ich legte meine Unterlagen ab und schritt neben ihn. Zitternd legte ich meine Hand auf seiner Schulter ab, wollte ihn einfach nur berühren, ihm zeigen dass ich für ihn da war.

Sein Gesicht fuhr zu mir herum. Er tat einen Schritt zurück, funkelte mich wütend an.

„Versuchst du schon wieder den armen Lip zu retten?"

Er hatte die Situation missverstanden und doch hatte er irgendwie Recht.

„Ich sag dir nur was du wissen musst. Dein Mitleid kannst du dir sparen!"

Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür. Ich lief ihm ein paar Schritte nach, gab es dann aber auf und bemerkte Jad in der Tür zum Aufenthaltsraum. Er kam seufzend auf mich zu und wir lehnten uns gegen ein Geländer, das vor einem großen Fenster angebracht war.

„Ich weiß Lip ist nicht besonders einfach, aber wenn man einmal sein Vertrauen hat, wenn man einmal zu seinem engeren Kreis gehört, dann würde er alles für einen tun. Er ist der loyalste Mensch den ich kenne. Und ich glaube du bist gerade dabei diese große Grenze beim ihm zu überschreiten und das macht ihm eine Heidenangst."

Wir blieben für eine Weile still, lauschten dem Treiben auf dem Flur, sahen dem Menschentreiben auf der Straße zu. Meine Gedanken aber ließen sich einfach nicht ordnen.

„Ich wollte ihm nur irgendwie helfen...", gab ich leise zu.

„Lip will keine Hilfe. Er will einfach nur Menschen um sich, die diesen Scheiß mit ihm durchziehen. Komme was wolle..."

Ich verstand, worauf Jad hinaus wollte. Ständig hatte ich versucht Lip irgendwie zu retten, ihn zu verstehen und ihm zu helfen. Dabei war ich diejenige die seinen Schmerz kaum ertragen konnte. Jad tätschelte aufmunternd meine Schulter, dann verschwand er wieder im Aufenthaltsraum und ließ mich zurück. Ich blieb am Geländer stehen, spähte nach draußen und wartete. Nach einer ganzen Weile tauchte Lip wieder auf. Er wirkte gelassen, obwohl ich in seinen Augen noch eine gewisse Abwehr erkennen konnte. Wortlos gingen wir zurück ins Büro.

„Wir werden es nie wieder zur Sprache bringen. Es sei denn es wäre irgendwie nötig.", versprach ich.

„Darum geht es nicht."

Lip sprach in Rätseln. Er war mir ein Mysterium und ich wünschte es gäbe eine Gebrauchsanleitung für ihn. „Wie sie mit Lip Garden umgehen..."

Er setzte sich auf den gleichen Platz wie zuvor, versuchte locker zu wirken, aber ich merkte wie angespannt er war.

„Was fehlt noch? Freundinnen gab es keine. Dafür jede Menge Bettgeschichten. Die kann ich dir allerdings nicht alle aufzählen."

„Hast du dich geschützt?"

Meine Frage kam überraschend. Selbst für mich. Er warf mir einen verwirrten Blick zu.

„Natürlich! Ich vögle mit Hirn!"

„Sehr charmant!"

Da war er wieder. Seufzend notierte ich mir seine Bemerkungen.

„Hast du selbst je Drogen genommen?"

„Nein!"

Seine Stimme war lauter, als er vermutlich selbst beabsichtigt hatte. Er lehnte sich zurück und versuchte sich ein wenig zu entspannen. Doch es gelang ihm kaum.

„Ich weiß, was das Zeug anrichten kann. Ich nehme so was nicht. Zum Alkohol, ja. Manchmal über den Durst, aber nicht regelmäßig und selten harte Getränke. Ich würde zum Beispiel nie einen Schnaps anrühren."

Lip rümpfte die Nase, als würde er damit schlimme Erinnerungen verbinden.

„Warum prügelst du dich? Kam eine Prügelei schon mal zu den Akten? War die Polizei jemals anwesend?"

Sein Unterkiefer spannte sich merklich an. Es war ein Thema, über das er offensichtlich nicht gerne sprach. Ich wand meinen Blick ab, wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen.

„Bislang konnte ich es immer noch so lösen. Also keine Polizei. Manchmal hilft es genügend Kohle zu haben. Nach dem Warum darfst du mich nicht fragen. Ich bin manchmal einfach zu impulsiv. Vor allem wenn jemand meine Mutter beleidigt..."

Ich fand es rührend, wie er nach all den Jahren noch immer an seine Mutter glaubte, ihr zur Seite stand.

„Wie verhältst du dich, wenn sie wieder betrunken auf dem roten Teppich erscheint?"

Lip zuckte zusammen.

„Du triffst auch jedes Mal ins Schwarze. Als Journalistin warst du mir lieber..."

Ich senkte den Kopf, wollte ihm ungern wehtun.

„Letztes Mal habe ich alles stehen und liegen gelassen und sie nachhause gebracht. Ich habe einen Pfleger engagiert, der sich eigentlich um sie kümmern sollte... Ich würde es vermutlich wieder so tun."

Lip zog scharf die Luft ein, hielt sie kurz an und stieß sie in kurzen Abständen wieder aus.

„Gibt es sonst noch etwas, dass ich wissen sollte?"

„Ich habe letztes Jahr ein Auto vom Händler zu Schrott gefahren. Das stand nie in einem Artikel... Ansonsten fällt mir gerade nichts mehr ein. Aber ich weiß ja jetzt wo ich dich finde.", fügte er trocken hinzu.

Lip stand auf, wischte sich die Hände an der Hose ab.

„War ein nettes Gespräch...", log er und hatte nur ein müdes Lächeln für mich übrig.

„Wir sind noch nicht fertig!", versuchte ich ihn aufzuhalten, aber es schien ihn kalt zu lassen.

„Doch, sind wir. Das ist alles was du über mich wissen musst!", blockte er ab und verließ mein Büro.

Die restliche Woche verlief ruhig. Ich kümmerte mich um neue Termine. Ständig läutete mein Telefon. Es waren mehr Anfragen, als ich bewältigen konnte und Brand sagte mir, ich dürfte auch welche absagen. Die Schwierigkeit lag darin, die richtigen davon auszuwählen. Ich achtete dabei darauf kurz vor der Tournee keine Termine mehr zu vergeben, damit die Jungs in der letzten Woche noch in Ruhe proben konnten. Manchmal rannte ich den Jungs über den Weg, wir wechselten ein paar kurze Worte oder gingen miteinander in die Kantine. Lip erwischte ich jedoch nicht mehr alleine und wir verloren kein Wort mehr über unser Gespräch vom Montag. Langsam begann ich mich in meinem Job auszukennen, wusste was ich zu sagen und zu tun hatte. Und vor allem war ich ein gern gesehenes Mitglied der Agentur. Es arbeiteten zu viele in dem Gebäude um große Bekanntschaften zu schließen, aber alle waren freundlich und nett zu mir. Sie interessierten sich für meine Meinung, banden mich bei großen Meetings mit ein und informierten mich über wichtige Beschlüsse und Entscheidungen. In der Kantine saß ich nicht mehr allein. Irgendjemand kam immer zu mir, setzte sich an meinen Tisch und wir unterhielten uns. Selbst der Hausmeister aß einmal die Woche mit mir zu Mittag. Wie ich zu dieser Ehre kam, war mir selbst nicht klar. Wenn ich nicht in der Agentur war, telefonierte ich entweder mit Lilly oder meinem Dad. Beide waren wie ein Ruhepol für mich, beruhigten mich, wenn ich das Gefühl hatte, die Herausforderung der Tour wäre zu groß für mich.

Am letzten Wochenende vor der Abreise ging ich noch einmal herzhaft shoppen, besorgte alles, was ich für eine dreimonatige Tour brauchen würde. Leider hatte ich wenig Ahnung davon, es gab auch keinen Ratgeber zu „Was ich auf einer Tournee alles mitnehmen sollte" und die Jungs waren keine wirkliche Hilfe. Lilly begleitete mich wieder und wir verbrachten einen lustigen Tag im Einkaufszentrum.

Am Sonntag ignorierte ich die Anrufe meiner Mutter und war überrascht als mein Vater gegen Abend plötzlich mein Vater vor der Tür stand.

„Dad? Was machst du denn hier?"

Ich bat ihn herein und wir setzten uns mit einer Tasse Kaffee auf meine Couch.

„Ich war schon ewig nicht mehr in deiner Wohnung und da du ja jetzt länger weg sein wirst..."

Während er sprach, beobachtete ich sein Gesicht. Er hatte einige tiefe Falten bekommen, war gezeichnet vom Leben und doch war er noch immer ein stattlicher Mann geblieben. Ich fragte mich, wie meine Mutter damals war, wie er sich in sie verliebt hat.

„Dein Bruder war seit drei Monaten nicht mehr daheim. Aus dem gleichen Grund warum du dich jetzt von uns entfernst.", seufzte mein Vater.

Er sah sich ein wenig verlegen in der Wohnung um. Sein Blick blieb bei einem Familienfoto hängen und er senkte den Blick.

„Es tut mir leid. Ich brauche nur ein wenig Abstand von all dem, verstehst du?"

„Du möchtest also ein neues Leben beginnen, von mir aus. Aber nicht alles was alt ist, ist auch schlecht. Mich darfst du ruhig mitnehmen!", lächelte er selig.

Spontan breitete ich meine Arme aus und umarmte ihn. Ich versuchte ihm gut zu zureden und versprach ihm mich während der Tournee ganz oft bei ihm zu melden. Sein Rückhalt tat ungemein gut und gab mir Mut für die Tour.

„Freust du dich?"

„Ja, aber ich bin auch mächtig nervös!", gab ich zu.

Dad schmunzelte und strich mir über den Arm.

„Du bist stärker, als du glaubst. Ich weiß, dass du das packst."

Seine Worte brachten mich fast zum Weinen. Er glaubte an mich und schien sogar stolz auf mich zu sein. Plötzlich fragte ich mich wo diese Verbindung zwischen uns, all die Jahre gewesen war.

Als sein Telefon mehrfach läutete, erhob er sich seufzend.

„Wenn ich jetzt nicht nachhause fahre, kommt mich deine Mutter holen...", scherzte mein Vater und wir verabschiedeten uns an meiner Tür.

Bevor ich schlafen ging, meldete sich unerwartet mein Bruder Jakob. Ich hatte aufgegeben ihn anzurufen, da er ohnehin nie abhob. Umso überraschter war ich über seinen Anruf.

„Was hört man da? Meine kleine Schwester geht auf Tournee?"

Jakob nannte mich gern seine kleine Schwester, obwohl ich die ältere von uns war. Aber es machte mir nichts. Ich wusste, dass er es für sein Ego brauchte. Also erzählte ich ihm von der Band.

„Mam dreht fast durch. Hast du ihr endlich die Paroli geboten?", witzelte mein Bruder.

„Es tut so gut von dir zu hören!", gab ich zu.

„Ich hatte schon das Gefühl, alle hätten sich alle gegen mich geschworen..."

Jakob lachte am anderen Ende des Telefons.

„Du standst so unter den Fittichen unserer Mutter, da brauchte ich einfach etwas Abstand. Ich konnte ja nicht wissen, dass in dir ein kleiner Rebell steckt. Und sei mir nicht böse, aber Michael ist ein Idiot. Ich habe ihn noch nie gemocht. Du hast die beste Entscheidung deines Lebens getroffen!"

Jakob war so herrlich ehrlich. Er sagte immer gerade heraus, was er dachte.

„Bist du jetzt also mit dem Frontsänger zusammen?", fragte er süffisant.

„Oh nein. Mit Lip ist man höchstens gemeinsam im Bett.", lachte ich.

Wir sehr ich die leichten Gespräche mit meinem Bruder vermisst hatte. In den letzten Jahren wurde alles so gezwungen und unecht.

„Passt doch. Gönn dir ein wenig Spaß, Schwesterchen. Aber schade trotzdem. Ihr hättet ein hübsches Paar abgegeben.", seufzte Jakob theatralisch.

„Das kann ich mir kaum vorstellen.", hakte ich das Thema ab und fragte ihn über sein Studium aus.

Irgendwann war ich so müde, dass ich ins Bett kroch und mich schließlich verabschiedete. Als ich auf die Uhr sah, staunte ich nicht schlecht. Das Telefonat mit meinem Bruder hatte über eine Stunde gedauert. Irgendwie hatte sich mit einem Mal alles verändert.

In den letzten Tagen vor der Abreise folgten noch einige Interviews. Ich hatte vorab um die Fragen gebeten und die Band darauf vorbereitet. Am Montag waren sie gleich auf zwei Radiosendern zu hören, was mich furchtbar nervös machte. Aber es ging erstaunlicherweise ziemlich locker über die Bühne. Später postete ich noch ein Bild davon. Es war eigenartiges Gefühl das Profil einer Band zu verwalten. Jedes Mal wenn ich das Postfach öffnete, quoll es nur so über. Irgendwann hatte ich mir einen Standardspruch überlegt, den ich kopierte und als Antwort versendete. Die skurrilen Angebote von manchen Fans hatte ich zu Beginn noch kommentiert, aber irgendwann ging ich dazu über, sie zu ignorieren. Meine Blicke waren überall, ich versuchte alles unter Kontrolle zu haben.

Am Abend war ich so erledigt, dass ich es kaum noch nachhause schaffte.

Am Dienstag hieß es sehr früh aufstehen, denn sie waren in einer Frühstückssendung zu sehen. Sie hielten sich tapfer, wenn auch müde um sechs Uhr morgens. Ich behielt sie immer im Blick, wenn auch hauptsächlich Lip, wie ich mir eingestehen musste. Zu Mittag stand eine Pressekonferenz an auf der sie alle Fragen zur Tour und dem neuen Album beantworteten. Die Jungs saßen an einem langen Tisch mit jede Menge Mikrophone. Ich unterstütze sie von der Seite, suchte die Journalisten aus, die Fragen stellen durften. Jede Menge Security stand im Raum verteilt und waren bereit jederzeit einzugreifen. Um ehrlich zu sein, machten sie mich nur noch nervöser. Als sich ein Reporter nicht an die vereinbarten Fragen hielt und Lips Mutter ins Spiel brachte, ließ ich ihn dann doch von einem davon abführen. Lip warf mir einen überraschten Blick zu, sagte aber nichts. Wir fuhren gemeinsam zurück zur Agentur, wo sich die Jungs müde in den Fitnessraum begaben und ich in mein Büro. Dort beantwortete ich noch einige Fragen in den sozialen Netzwerken, postete ein paar Bilder und die Termine zur Tournee. Jedes Mal wenn die Tür aufging, hoffte ich die Jungs würden mich überraschen. Auch wenn ich mich eigentlich mit allen in der Agentur gut verstand, so schafften nur sie es mich zum Lachen zu bringen.

Am Mittwoch, den letzten Tag vor der Abreise stand noch einiges an. Morgens um acht Uhr hatte ich einem Musiksender für ein Interview zugesagt. Sie sangen sogar live im Fernsehen den neuen Song. Ich wand mich ab, konnte Lip dabei nicht ansehen und doch spürte ich jedes seiner Worte. Die darauffolgenden Stunden konnte ich ihm nicht in die Augen sehen, warum genau, war mir selbst nicht ganz klar. Ein Chauffeur brachte uns zum nächsten Termin und langsam gewöhnte ich mich an den stressigen Ablauf eines solchen Tages.

Zu Mittag kehrten wir kurz in einem kleinen Restaurant ein und die Jungs schmunzelten, als ich Pommes bestellte und sie genüsslich mit den Fingern aß.

„Ihr habt einen schlechten Einfluss auf mich!", scherzte ich lachend und stopfte mir gleich drei von den Dingern in den Mund.

Nach dem Essen waren sie bei einem Talk geladen um über die Musik der heutigen Zeit zu sprechen. Als sie sich bei Lip ausgerechnet nach mir und den Fotos erkundigten, brach ich die Show ab und holte sie da raus. Die Produzenten waren nicht sonderlich erfreut.

„Sie können nicht einfach diese Sendung unterbrechen!", hatte er mich angefaucht.

„Sie sehen doch, dass ich es kann. Es gab eine Abmachung, an die sich nicht gehalten haben. Alles hat seine Konsequenz, damit müssen sie leben!", ließ ich ihn sprachlos stehen und zog mit den Jungs ab.

„Ich hatte nicht erwartet, dass du so taff bist!", jubelte Lip im Taxi.

„Stille Wasser...", lachte Jad.

„Ich habe von den Besten gelernt!", gab ich zurück und alle fielen in schallendes Gelächter.

Ich konnte mir keinen besseren Job mehr vorstellen, auch wenn ich teilweise nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Es war viel mehr Arbeit, als ich erwartet hatte, aber ich war mit vollem Einsatz dabei. Außerdem lenkte es mich von Michael und von meiner familiären Situation ab. Nach einer kurzen Zwangspause, in der wir uns einen Kaffee gönnten und ein wenig plauderten, wurden wir von einer renommierten Zeitung zum Interview und einem kurzen Fotoshooting eingeladen. Ich machte vorweg noch einmal klar, welche Fragen tabu wären. Die Moderatorin blickte kurz auf, sah fragend hinter mich und nickte dann gelangweilt.

„Wissen sie, wie sie in unseren Kreisen genannt werden?"

Sie schmunzelte selbstgefällig, aber ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen.

„Sie sind eine Hyäne. Erst seit kurzem in diesem Job, aber kaum jemand will sich mit ihnen anlegen.", fuhr sie kopfschüttelnd fort.

Mich kostete ihre Bemerkung nur ein müdes Lächeln. Der Ruf eilte mir voraus und würde mir vielleicht etwas Arbeit ersparen. Es machte mich sogar ein klein wenig stolz. Ich war nie mutig oder taff gewesen, hätte früher niemals so mit anderen Menschen gesprochen. Aber irgendetwas in mir hatte sich seinen Weg nach außen gebahnt, wollte gehört und gelebt werden.

Während dem Interview saß ich in sichtbarer Reichweite und fokussierte sie mit einem scharfen Blick. Es amüsierte mich, sie so unter Kontrolle zu haben. Allerdings hielt sie sich an unsere Abmachung und zum gefühlt tausendsten Mal hörte ich die immer selben Fragen zur Tour. Gähnend sah ich zu, wie sie etwas monoton ihren Text aufsagten.

„Langweilen wir dich?", fragte Lip, als er nach dem Interview zu mir rüber kam.

„Bestimmt nicht. Ich bin nur den ganzen Trubel nicht gewohnt."

„Das wird noch. Du bist noch jung!", zwinkerte er amüsiert und wand sich wieder dem Fernsehteam zu.

Ich beobachtete ihn wie er selbstbewusst alle Fragen beantwortete, wie er an den richtigen Stellen lächelte, wie mir verstohlen Blicke zu warf. Wie gerne, hätte ich ein normales Gespräch mit ihm geführt, hätte gern erfahren wer Phillip Garden hinter diesem Image war.

Als es dunkel wurde, fuhren wir endlich zurück zur Agentur.

„Was machen wir heute noch?", fragte Nik in die Runde.

„Jungs morgen ist Abreise. Macht mal halblang.", ermahnte ich sie.

Dafür erntete ich nur ein sattes „Buuuuh". Egal was sie noch planten, ich musste noch einmal in mein Büro und dort den restlichen Schreibkram erledigen. Auch wenn sie mich langweilig nannten, es änderte nichts an der Tatsache, dass es mein Job war. Sie sprangen grölend aus dem Auto und ließen mich allein zurück. Gegen zehn Uhr war auch ich endlich fertig und fuhr nachhause. Meine Koffer warteten gepackt an der Tür darauf, mit mir auf Tournee zu gehen. Obwohl ich hundemüde war, konnte ich kaum einschlafen, so aufgeregt war ich. Irgendwann sackte ich doch weg und träumte von Pleiten, Pech und Pannen während der Konzerte...

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