12 Tage April

By minemarei

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April hat es nicht leicht. Da reicht es nicht, dass sie durch ihren Namen jedes Jahr zum Opfer zahlreicher Ap... More

Vorwort
Widmung
Der erste Tag
Der zweite Tag
Der dritte Tag
Der vierte Tag
Der fünfte Tag
Der sechste Tag
Der siebte Tag
Der achte Tag
Der neunte Tag
Der elfte Tag
Der zwölfte Tag
Danksagung
Zusätzliches Material
Das Uhrwerk
April Updates und YouTube

Der zehnte Tag

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By minemarei

Tag Nummer 10 oder Spuren im Regen.

Am Freitag wachte ich mit schmerzenden Knochen, pochendem Kopf und verquollenem Gesicht auf.

Ich spürte mein Herz in meiner Brust schlagen und fühlte mich so elend wie noch nie zuvor in meinem Leben. Das war vermutlich eine Übertreibung angesichts der Tatsache, dass ich mich überraschend häufig in letzter Zeit so mies wie noch nie zuvor fühlte, aber ich fand es war okay ab und an mal ein bisschen zu übertreiben

Und jetzt war definitiv die Zeit zum Übertreiben.

Er war weg und ich hatte absolut keine Ahnung wie ich alles wieder gerade rücken konnte. Egal wie sehr ich mir den Kopf darüber zerbrach, die rettende Lösung für das vorliegende Problem wollte mir einfach nicht in den Sinn kommen und das Einzige, was das Herumgrübeln bewirkte, waren die langsam schlimmer werdenden Kopfschmerzen.

Was erwartete er denn jetzt von mir? Und was erwartete ich von ihm? Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das Recht hatte irgendetwas von ihm zu erwarten, aber andererseits waren Erwartungen natürlich auch etwas, dass man nicht so einfach abstellen konnte. Niemand stellte sich hin und sagte: Oh! Schau mal. Der Erwartungshebel ist ja umgelegt... So geht das nicht! Ich schalte mal lieber zurück auf „Erwartungslos".

Aber erwartete ich denn überhaupt noch irgendetwas oder waren meine Erwartungen inzwischen so niedrig geschraubt, dass sie eigentlich nicht mehr existierten?

Gestern Abend war ich hysterisch gewesen und komplett überfordert mit der Situation, jetzt war ich nur noch ratlos und verwirrt.

Irgendetwas hatte eine Schlussreaktion in ihm ausgelöst. Irgendetwas hatte diesen Ausbruch herauf beschworen und ich war mir ziemlich sicher, dass es ganz allein die Schuld von April 2.0 war.

Vielleicht hatte er einfach Angst. Angst verletzt und liegen gelassen zu werden und er glaubte mir nicht. Er glaubte nicht, dass er für mich wunderschön und atemberaubend und strahlend sein konnte. Er war aufmerksam und intelligent und tiefgründig und talentiert in so vieler Hinsicht, aber er dachte er wäre es nicht wert.

Wir hatten doch beide Angst, wieso also konnten wir sie nicht gemeinsam überwinden?

Wieso mussten wir scheitern, bevor wir begonnen hatten?

Ich rannte vielleicht weg, aber wieso ließ er mich allein und half mir nicht dabei diese Ängste zu besiegen? Wir hätten und gegenseitig helfen können.

War das nicht so in einer Beziehung? Das man sich gegenseitig half und stützte?

Oder hatte er einfach gemerkt, dass er mich gar nicht brauchte? Hatte er gesehen, was unter seinen schwarzen Kratzern war und beschlossen, dass bei mir nur noch Kratzer vorhanden waren und er das nicht konnte?

Nein. Bestimmt nicht. So verkorkst war ich ja jetzt auch nicht und es wäre dumm sich darauf auszuruhen.

Außerdem hatte er gesagt ich solle mich melden, wenn ich wusste was ich wollte. Es war also kein Schlussstrich oder? Das Dumme an der ganzen Geschichte war, dass ich einfach nicht wusste, was ich eigentlich wollte. Da hatte er schon recht gehabt.

Wieso war er dann aber nicht geblieben um mir zu helfen und die Fragen zu beantworten die ich mir jede Nacht stellte?

Reichte es nicht, dass ich ihn liebte?

Ich wollte mir diese Fragen nicht stellen, aber es musste wohl sein. Man kam nicht weiter wenn man sich niemals diese Fragen stellte.

Mein Dad hatte mal gesagt die Kunst de Lebens war zu lernen sich mit dem Unwohlsein wohlzufühlen, denn anders würde man im Leben nicht weiter kommen.

Ich brauchte ganz dringend eine Dad Umarmung!

Kämpfte ich wirklich so wenig dafür akzeptiert und respektiert zu werden?

Fragen über Fragen.

Aber ich versuchte ehrlich zu mir zu sein, so gut es eben ging und ich verstellte mich nicht. Reichte das nicht?

Sollte Respekt und Akzeptanz dann nicht von selbst kommen oder konnte man sich dem nur sicher sein, wenn man sich in die graue Persöhnlichkeitsmasse einfügte und seine eigene aufgab?

Wollte ich so einen Respekt überhaupt oder lebte ich dann lieber ganze ohne?

Ich wollte dafür kämpfen, aber nicht an den falschen Stellen. Ich wollte keinen Respekt wenn er von Leuten kam, die ich selber nicht respektieren konnte.

Ich wollte den Respekt von Leuten, die mir wichtig waren, die ich ernst nehmen konnten und die schätzten was ich zu sagen hatte.

Und Himmel, hatte ich was zu sagen!

Ich wollte wenig, aber richtigen Respekt und ich würde meine Kräfte sicher nicht an halbstarke Affen verschwenden, die sowieso irgendwann an der Kasse einer billig Discounterkette oder in einem abgewrackten Fitnessstudio landen würden und die es nötig hatten in der Bahn Menschen zu belästigen.

Er war mir nicht peinlich. Auf keinen Fall, aber manche Kämpfe lohnte es sich einfach nicht sie zu kämpfen.

Füttere die Trolle nicht! Das sagte meine Granny immer. Manche Menschen wollen dumme Idioten sein.

Wusste ich wirklich nicht was ich wollte oder lag es nur daran, dass ich bisher einfach noch nicht genug darüber nachgedacht und reflektiert hatte?

Ich wollte ihn, aber ich wollte ganz sicher.

Ich kannte meine Schwächen.

Ich war von Zeit zu Zeit ein wenig pathetisch und theatralisch veranlagt. Ich jammerte zu oft über mein Leben und erinnerte mich zu selten an die guten Dinge.

Ich weinte zu viel und ich gab gerne gute Ratschläge, die ich selbst nicht befolgte. Ich schämte mich für meine Songs, das Einzige das ich wirklich konnte und ich konnte den Mund in nie aufbekommen oder in den richtigen Momenten halten.

Aber ich war auch lebensfroh und hatte meinen Spaß an Kleinigkeiten. Ich war begeisterungsfähig und interessiert an den Menschen in meiner Umgebung.

Ich hatte auch meine Stärken und wenn ich mich zur Ausnahme mal auf die konzentrieren würde, dann könnte ich vielleicht diese dumme Angst in mir überwinden, die mir ständig in mein Leben grätschte und alles kaputt machte!

Wollte er das ich los ließ und mich der Welt offenbarte? Zu all meinen Stärken und Schwächen stand?

Wusste er denn nicht wie riskant das war?

Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht das all diese Menschen die ich nicht kannte meine tiefsten, innersten Gefühle kannten.

Ich liebte ihn, aber das konnte ich nicht für ihn tun.

Man sagt gerne, dass man alles für die Person tun würde die man liebt, aber in Wahrheit sollte man vielleicht doch sich an erste Stelle setzten. Wie soll man jemanden mit ganzem Herzen lieben, wenn man sich selber nicht mit ganzem Herzen liebt?

Ich zog die Bettdecke wieder über meinen Kopf. Ich wollte das alles nicht. Ich fühlte mich ganz und gar nicht wohl mit dem Unwohlsein!

Ich wollte darüber nicht nachdenken, wusste aber gleichzeitig, dass das genau das war, was er wollte.

Das ich nachdachte.

Also dachte ich, spielte in meinem Kopf jedes mögliche Versöhnungszenario durch, stellte mir all die Fragen, die ich immer in den hintersten Winkel meiner Gedanken verbannte und wurde doch nicht schlauer.

Ich blieb bis zum späten Nachmittag im Bett liegen. In ein und der selben Position.

Es war wieder einer dieser zurückgezogenen und einsamen Tage, an denen ich mit niemandem sprechen konnte, obwohl ich es eigentlich wollte.

Mit angezogenen Knien und der Decke bis zum Hals hochgezogen saß ich da und vergrub mich in meinen düsteren, ungemütlichen Gedanken.

Mein Vater warf am Mittag einen Blick ins Zimmer und entdeckte mich zusammen gerollt im hintersten Winkel des Bettes.

Er seufzte und schloss die Tür wieder. Er kannte diese Phasen in denen ich mich komplett zurück zog und verkroch und er wusste auch, dass er jetzt nichts aus mir heraus bekommen würde.

Ich konnte mich also darauf gefasst machen, dass er mich in ein paar Tagen ausquetschen würde wie eine reife Beere.

Besonders schlimm war meine Phasen-Depression nach der Sache mit meiner Mutter gewesen.

Ich hatte mich tagelang in meinem Zimmer eingeschlossen, nur noch Lana del Rey gehört und Schokolade in mich hinein gestopft. Zunächst hatte ich dadurch natürlich zugenommen, aber schon bald war ich durch die Mangelernährung beinahe vom Fleisch gefallen.

Niemand hatte mich aus meiner Tiefphase heraus holen können bis ich es irgendwann aus eigener Kraft geschafft hatte mich wieder aufzurichten.

Aber geschafft hatte ich es bisher noch immer.

Ich war zu sensibel. Das hatte der Kinderpsychologe immer gesagt, wenn er mit meinem Vater über unsere Sitzungen gesprochen hatte während ich im Raum daneben saß und sie dachten ich könne sie nicht hören.

Mein Dad hatte mich immer verteidigt. Er sagte ich sei sehr emotional und dass das gut war, weil eh schon zu viele abgestumpfte, emotionslose Zombies in der Gegend herum liefen und es wichtig sei Emotionen auch zuzulassen.

Ich liebte ihn bis heute dafür und den Psychologen hasste ich immer noch. Stümper!

Er war ein selbstgerechtes Arschloch, der dachte er wüsste über mich und meine Gefühle Bescheid nur weil er Freud gelesen und studiert hatte.

In Wahrheit wusste er nichts. Er wusste nichts über mich und zum Glück würde er das auch nie, denn mein Vater hatte mich irgendwann wieder von der Pflicht entbunden mit diesem ekelerregend eingebildeten Menschen über meine Gefühle zu sprechen.

Junia rief mehrmals an, aber ich ignorierte sie. Irgendwann schaltete ich das Telefon sogar ab. Er würde ja eh nicht anrufen. Wie auch.

Ich wusste das mein Dad sich Sorgen um mich machte, aber er konnte mir hierbei nicht helfen. Niemand konnte das. Ich musste von selbst wieder aus dem schwarzen Abgrund finden und dann wäre ich immer noch nicht sicher. Ich konnte jederzeit wieder hinab stürzen.

Depressionen, Lebenslustlosigkeit hatte der Psychologe immer gesagt, aber das war Quatsch.

Es waren keine Depressionen, denn da hätte ich nie wieder von alleine raus gefunden.

Ich brauchte einfach nur Zeit um meine Wunden zu lecken und ein bisschen nach zu denken.

Der Psychologe hatte eh keine Ahnung gehabt.

Mein Leben war schön. Ich hatte zwei tolle Brüder und den besten Dad der Welt und eine Freundin, die mit mir bis ans Ende der Welt gehen würde. Ich hatte ein tolles Leben und deshalb kam ich aus meinen Schwermut-Phasen auch immer wieder heraus.

Ich hatte nur ein bisschen dramatisierten Liebeskummer...

...und ich steigerte mich hinein.

Ich war echt zu theatralisch, ich mochte diesen traurigen Zustand zu gerne. Ich mochte es zu gerne darüber zu jammern, wie schlecht es mir ging und ich musste wirklich dringend damit aufhören.

Ich liebte ihn doch oder? Also musste ich etwas tun.

Ich konnte hier nicht einfach immer nur rum sitzen und auf bessere Zeiten warten oder darauf das jemand kam und mir sagte was ich tun sollte.

Ich musste handeln. Es lag an mir was aus diesem Desaster wurde. Ich konnte mich für immer verkriechen und nie wieder Tageslicht an meine Haut lassen und ich konnte mich bewegen und etwas tun.

Ich warf mit einem Ruck die Decke von mir und stand auf.

Gleich darauf setzte ich mich erst einmal wieder auf die Bettkante. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen.

Nach so langer Zeit rumliegen keine gute Idee. Mein Kreislauf brauchte ganze 15 Minuten um sich zu regenerieren und als ich mich gerade bereit fühlte aufzustehen flog meine Zimmertür mit einem „Kawumm!" auf und Junia stand in meinem Zimmer.

„Hör endlich auf mich auszuschließen du dumme Kuh!", rief sie und ich zuckte ein bisschen zusammen.

„Eine bessere Beleidigung ist dir nicht eingefallen?", wollte ich trotzdem wissen.

„Nein, aber das ist mir jetzt auch egal. Du wirst mir jetzt auf der Stelle alles erzählen, was zwischen dir und Letter-Boy passiert ist und hörst auf dich in deinem Zimmer zu verkriechen!"

„Okay.", sagte ich kleinlaut und schaffte es tatsächlich irgendwie aufzustehen und mich anzuziehen. Ich warf einen Blick in den Spiegel und schreckte ein bisschen zurück. Ich sah aus, wie nach 5 Jahren ohne essen und Wasser und die Augenringe unter meinen Augen waren riesig und tief blau. Ich sah aus wie nach einer Nasen OP.

Junia ließ sich währenddessen auf meine Fensterbank fallen und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich viel mühe gab, um sauer zu wirken, aber ich wusste trotzdem, dass sie es nicht wirklich war. Die steile Falte zwischen ihren perfekt gezupften Augenbrauen verriet, dass sie sich mehr Sorgen um mich machte als sie im Augenblick zugab.

„Bin gleich wieder da.", sagte ich tapste in die Küche und schnappte mir zwei von den riesigen Keksen, die mein Dad gerade frisch und dampfend aus dem Ofen geholt hatte.

Er bemerkte mich und lächelte erleichtert.

Ich bereitete ihm zu viele Sorgen und das tat mir Leid.

Ich verwarf den Gedanken und machte lieber schnell zwei Tassen Tee. Grünen für Junia (weil er laut ihr gut für die Haut war) und Roiboos für mich.

Zurück in meinem Zimmer drückte ich Junia einen der Kekse und ihre Teetasse in die Hand.

Dann setzte ich mich zu ihr auf die Fensterbank, holte tief Luft und erzählte ihr alles.

„Oh April...", sagte sie und runzelte besorgt die Stirn. „Warum hast du denn das nur gesagt?", wollte sie dann wissen.

„Ich weiß es nicht. Ich hatte Panik und wusste gar nicht mehr was ich überhaupt sage.", erklärte ich.

„April du musst mir ihm reden.", sagte sie und sah mich über den Rand ihrer Tasse hinweg ernst an.

„Ich weiß. Aber wie denn? Ich habe seine Nummer nicht und weiß auch nicht wo er wohnt.", sagte ich verzweifelt, „Und nach den Ferien ist es bestimmt zu spät."

„Ach April. Du bist doch sonst so kreativ. Dir wird schon was einfallen und wenn nicht, dann ist es nach den Ferien sicher nicht zu spät. Es ist nie zu spät du Dösel. Aber besser heute als morgen!" Sie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel und sah mich mitfühlend an.

Im Geheimen dankte ich Gott dafür mir einen Schutzengel wie Junia geschickt zu haben, denn ich wusste wirklich nicht, was ich ohne sie tun würde.

„Und was sage ich ihm, wenn ich ihn finde?", fragte ich.
„Dann sagst du ihm, dass du ihn liebst und mit ihm zusammen sein willst, du aber nicht einfach bist und ab und an auch mal ein bisschen ängstlich. So wie alle Menschen!" Sie lächelte mich an und ich fühlte mich furchtbar erleichtert, weil ich mit Junia darüber gesprochen hatte.

Wie konnte ich Trottel nur immer wieder vergessen, dass ich die beste Freundin der Welt hatte und nicht alleine war? Ich sollte ihr definitiv mehr Anerkennung zollen.

„Danke June.", sagte ich also und hätte sie gerne umarmt, aber die Gefahr dabei heißen Tee über uns beide zu kippen war einfach zu groß.

Wir saßen noch eine Weile auf meiner Fensterbank und redeten.

Junia erzählte mir, dass sie sich vor zwei Tagen mit Jasper aus unserem Chemie-Kurs getroffen hatte. Ursprünglich, weil sie zusammen ein Projekt machen sollten, aber am Ende hatte er sie eingeladen mit zu seiner Bandprobe zu kommen und Junia war bis über beide Ohren verschossen.

Ich schmunzelte ein bisschen über sie, denn letzte Woche hatte sie mir noch erzählt, dass sie jetzt nur noch ältere Typen daten würde, aber irgendwo zwischen Jaspers Sommersprossen, seinen Schlagzeugkünsten und seiner sexy Stimme wenn er Spanisch sang, waren ihre neuen Grundsätze wohl verloren gegangen.

„Ich dachte wirklich immer Jas wäre so ein möchtegern poetischer Mystery-Guy, aber er ist einfach super niedlich.", schwärmte sie und mir ging das Herz auf denn das letzte Mal hatte Junia so für Akio, den japanischen Austauschschüler, geschwärmt, der in der sechsten Klasse für drei Monate bei uns gewesen war und allen Mädchen im Umkreis von fünf Kilometern den Kopf verdreht hatte.

Mit Ausnahme von mir, denn ich hatte mir mit dem Kerl ein Bad teilen müssen.

Um 19:00 Uhr packte Junia ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg nach Hause.

Zum Abschied drückte sie mich fest und raunte mir ein „Geh ihn finden!" ins Ohr.

Dann ließ sie mich im Hauseingang stehen und ich überlegte was ich jetzt tun könnte.

Kurz entschlossen packte ich meine Gummistiefel und meinen Regenmantel und trat hinaus in die kalte feuchte Regenluft.

Es war bereits 19:21 Uhr.

Ich lief zum Bushaltestellenhäusschen. Das hatte bisher immer geklappt, wieso nicht heute? Ich wusste zwar nicht was ich ihm sagen sollte falls er dort war, aber ich würde eben auf den Moment reagieren.

Darin war ich noch nie gut gewesen, aber diesmal musste es einfach klappen und man musste ja schließlich auch mal was wagen.

Ich stolperte über einen Randstein und riss mir ein Loch in die Jeans, aber das war mir egal. Ich war auf einem Kreuzzug für die Liebe, da gab es eben Opfer.

Ich würde das hier schaffen. Keine Kompromisse.

Er wollte das ich mich entschied? Okay, ich hatte mich entschieden zu kämpfen. Nicht für den Respekt fremder Menschen oder von solchen die meine Aufmerksamkeit nicht verdienten, nein ich würde für uns kämpfen.

Ich lief ein bisschen beschwingter und trat in eine Pfütze, die an meinem Bein hoch schwappte und in meine Gummistiefel hinein lief.

Als ich beim Bushaltestellenhäusschen ankam war es 19: 38 Uhr und es begann langsam dunkel zu werden.

Er war nicht da. Das sah ich schon aus einer Entfernung von 20 Metern.

Was hatte ich denn auch erwartet? Das er den ganzen Tag hier herum saß und darauf wartete, dass ich mich dazu bequemte mich hier her zu bewegen?

So einfach würde es ganz sicher nicht werden.

Er war verletzt und ich musste mich wohl oder übel ein bisschen mehr anstrengen um ihn zurück zu gewinnen.

Komisch. War es in diesen ganzen Hollywood-Liebesfilmen nicht immer andersrum?

Niemand hatte einen Fehler gemacht. Wir waren beide einfach unsicher und verletzlich und ängstlich. Okay. Ich hatte vielleicht schon einen Fehler gemacht.

Ich setzte mich auf den Metallsitz. Meinen Kopf lehnte ich gegen die kalte Glasscheibe.

Ich wartete.

Er würde vermutlich nicht kommen. Es war kalt und spät und es regnete.

Vielleicht sollte ich wütend auf ihn sein, weil er uns in diese schwarze Nacht gestürzt hatte, aber ich konnte es nicht. Wir wären so oder so irgendwann gefallen. Genauso gut hätte ich der Auslöser sein können.

Wir würden Schaden davon tragen, das war klar. Man trug von allem im Leben Schaden davon, auch von den schönen Dingen. Alles prägte einen ob man wollte oder ob nicht.

Man war machtlos dagegen.

Ich konnte das hier.

Ich musste es können.

Ich schloss die Augen und genoss die kalte Nachtluft auf meinem Gesicht.

Was konnte ich tun? Wie konnte ich ihn finden?

Vielleicht konnte Junia doch seine Adresse herausfinden? Sie hatte bestimmt irgendwelche Kontakte zu den höheren Jahrgängen.

Ich stockte und hielt mitten in meinen Gedanken inne.

Unter dem Sitz war etwas eingeklemmt. Es war so unauffällig, das man es nicht bemerken konnte, wenn man sich nur kurz hier hin setzte um auf einen Bus zu warten.

Es war aber zu auffällig um zufällig hier zu sein.

Es war platziert. Es war für mich platziert.

Dieses Bushaltestellenhäusschen war unser komisches kleines Reich. Es war eine Anlaufstelle zum Nachdenken und zum Entfliehen von der Realität.

Ich zog das kleine zusammen gefaltete Papier unter dem Sitz hervor.

Es war ein Foto.

Ein Foto von mir, wie ich auf meiner Fensterbank saß und verträumt aus dem Fenster sah.

Ich drehte es um. Er hatte etwas darauf geschrieben.

Wann hatte er es hier her gebracht? Nach unserem Streit oder davor?

Sieh unter dem Hässlichen nach.

Toll. Sehr aussagekräftig.

Zum ersten Mal seit unserer Bekanntschaft wünschte ich mir, dass er nicht so ein Faible für Mystery und Rätsel hätte.

So konnte ich nur da sitzen und in die Nacht starren, während ich in meinem Gehirn nach der passenden Lösung suchte.

Ich war kurz davor gleich wieder aufzugeben, bis mir der hässliche, nackte Mann einfiel, der auf seinem Pferd durch den Brunnen ritt.

Es war eine 50 / 50 Chance, dass wirklich etwas dort war, aber es war alles was ich hatte und im Augenblick hätte ich wirklich nach jedem Strohhalm gegriffen.

Ich begab mich auf den Weg zum Brunnen.

Es war inzwischen dunkel. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr 20:00 Uhr.

Ich wusste nicht, ob mein Vater sich Sorgen um mich machen würde, wenn ich nicht rechtzeitig nach Hause kam, aber es war mir egal. Ich musste dem einfach nach gehen.

Und wenn es bis mitten in die Nacht dauern würde.

Ich lief durch die vertrauten Straßen und Gassen und kam schließlich beim Brunnen an.

Der Platz war dunkel und wurde nur von einer einzigen Straßenlaterne beleuchtet die leise vor sich hin flackerte und ich mir ging auf, dass ich in letzter Zeit vielleicht lieber ein bisschen weniger Supernatural hätte gucken sollen..

Ich sah mich um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Tagsüber war dieser Teil Londons leer, nachts war er ausgestorben.

Die Pflastersteine glänzten im Licht der Laterne und die Statue im Brunnen warf einen langen Schatten.

Ich kletterte in den Brunnen. Das Wasser lief kalt in meine Stiefel und durchtränkte meine Hose. Das machte jetzt jedoch auch nichts mehr. Ein bisschen Wasser mehr oder weniger in meinem Stiefel...

Der Wasserpegel war höher als gestern, da es den ganzen Tag geregnet hatte.

Ich watete in die Mitte und zog mich am Hals des Pferdes auf die kleine Plattform.

Jemand hatte versucht den Schnurrbart vom Gesicht des hässlichen Mannes zu wischen und hatte ihn dabei nur in sehr unschöne Richtungen verwischt und verzehrt. Er sah jetzt noch mehr wie ein Freddy-Mercury-Pornobalken aus als vorher.

Ich schaltete das Licht von meinem Handy ein und leuchtete die Statue an, während ich sie absuchte.

Nichts.

Enttäuscht ließ ich die Arme sinken. Etwas anderes offensichtlich hässliches, an dem wir vorbei gekommen waren fiel mir bei bestem Willen nicht ein.

Ich suchte noch einmal die gesamte Statue ab. Ich leuchtete sogar die Genitalien des Pferdes an, die für meinen Geschmack ein wenig zu detailreich dargestellt waren, aber es gab nichts zu entdecken, dass nicht da sein sollte wo es hingehörte, außer dem Pornobalken im Gesicht des Reiters.

Ich klettert wieder von der Plattform herunter und da sah ich es.

Das nächste Foto war klein gefaltet in eine Spalte an der Plattform gestopft.

Ich musste ein bisschen daran herum zerren bis ich es heraus bekam.

Es zeigte mich wie ich lachend neben dem frisch bebarteten Reiter posierte mit dem Filzstift zwischen die Zähne geklemmt und wild flatternden Haaren.

Suche gegenüber von Konsumfallen.

Ich lächelte. Der hier war leicht.

Ich steckte das Foto in die Jackentasche, direkt neben das andere.

Er hatte diese Spur gelegt für den Fall, dass einer von uns beiden eine Kurzschlussreaktion hatte.

Ich musste lächeln. Er war schon wieder schlauer gewesen als ich.

Ich stapfte mit großen Schritten aus dem Brunnen und leerte meine Stiefel aus.

Es war ein bisschen ekelig in den nassen Stiefeln zu rennen. Es machte bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch und ich hinterließ eine Spur nasser Fußstapfen auf dem Weg zu dem Touristenramschladen in dem wir die Sofortbildkamera gekauft hatten.

Dort angekommen wandte ich mich der gegenüber liegenden Hauswand zu. Ich erinnerte mich an dieses Versteck.

Es war zwischen zwei Hauswänden.

Auf dem Foto stand diesmal mehr drauf. Ein ganzer Text.

Höchstwahrscheinlich ist es jetzt schon ziemlich spät.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. 21:31 Uhr. Die Suche nach dem Foto bei dem hässlichen, nackten, schnurrbärtigen Mann hatte mich ziemlich viel Zeit gekostet.

Ist es Nacht? Dann geh und schlaf dich erst einmal aus.

Den nächsten Hinweis findest du nur am Tag. Um exakt 10. Uhr morgen früh weisen die Zeiger darauf.

Enttäuscht starrte ich das Foto an. Als wenn ich jetzt einschlafen könnte.

Trotzdem machte ich mich mürrisch auf den Weg nach Hause.

Ich fühlte mich wie ein Kind, dem das Eis weggenommen worden war.

Ich wurde den Gedanken nicht los, dass er das alles geplant hatte. Das er geahnt hatte, das etwas derartiges passieren würde und er ganz bewusst dafür gesorgt hatte, dass wir wieder zusammen finden würden, dass er nicht bereit war uns beide aufzugeben.

Ich hielt diesen Gedanken fest und machte ihn zu meinem Mantra.

Er würde mich ganz sicher nicht so leicht loslassen. Das passte nicht. Also würde ich die Hoffnung nicht loslassen.

Zu Hause stellte ich meine Gummistiefel mit Zeitung ausgestopft unter die Heizung.

Meinen Regenmantel hängte ich darüber. Dann verfrachtete ich mich selber unter die warme Dusche.

Als das Wasser auf meine verspannten Schultern prasselte fing auch mein Kopf endlich an sich zu entspannen und die Kopfschmerzen, die mich seit dem morgen plagten, verschwanden langsam.

Ich wusste nicht wie lange ich unter dem warmen Strahl gestanden hatte, aber Tatsache war, dass am Ende kein warmes Wasser mehr kam.

Ich schlüpfte in einen frischen Schlafanzug und legte mich ins Bett.

Es war bereits 23:17 Uhr und meine Familienmitglieder lagen bereits in tiefem Schlummer.

Ich stellte mir einen Wecker um 8:30 Uhr und hoffte inständig rechtzeitig wach zu werden und dann auch gleich aufzustehen.

Um 10 würden immerhin irgendwelche Zeiger auf den nächsten Hinweis zeigen.

Wieso diese Zeiger mir nachts nicht den Weg zeigen konnten verstand ich zwar nicht, aber ich hatte ja bereits gelernt, dass alle seine Hinweise wichtig waren und man sie lieber befolgte.

Ich fiel in einen unruhigen Schlaf.

______

Hallo ihr Lieben!

Juhu Kapitel zehn ist fertig!!!

Den Besuch von Junia gab es in der Urprungsversion von 12 Tage April nicht, aber ich finde er passt hier super rein.

Junia hat als die coolste beste Freundin der Welt definitiv noch einen Ehrenauftritt verdient.

Weil ich sneaky war und eine Romanze angedeutet habe, habe ich jetzt allerdings leider slber ganz furchtbar Lust die Geschichte von Junia und Jasper zu schreiben.

Jasper als einzelner Charakter spukt schon ein bisschen länger in meinem Kopf herum. Er hat nur nie zu einer Geschichte gehört/gepasst. Schön, dass er jetzt hier ein zu Hause gefunden hat!

Einen schönen Abend euch ♥♥♥


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