12 Tage April

By minemarei

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April hat es nicht leicht. Da reicht es nicht, dass sie durch ihren Namen jedes Jahr zum Opfer zahlreicher Ap... More

Vorwort
Widmung
Der erste Tag
Der zweite Tag
Der dritte Tag
Der vierte Tag
Der fünfte Tag
Der siebte Tag
Der achte Tag
Der neunte Tag
Der zehnte Tag
Der elfte Tag
Der zwölfte Tag
Danksagung
Zusätzliches Material
Das Uhrwerk
April Updates und YouTube

Der sechste Tag

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By minemarei


Tag Nummer 6 oder Händchenhalten ohne Körperkontakt

Am Ostermontag dem sechsten April begannen die Frühjahrsferien offiziell, inoffiziell zählte jeder das Wochenende irgendwie immer schon dazu.

Ich tat das zumindest, denn zwei Tage mehr Ferien, waren zwei bessere, bereichertere und lebensqualitätsmäßig hochwertigere Tage.

Ich saß in meinem Bett und die Sonne schien durch mein Fenster. Die Staubpartikel schwirrten glitzernd in der Luft herum. Das Ganze hatte eine magische Atmosphäre und ich genoss das Gefühl nirgendwo zu spät zu sein und nirgendwo hin zu müssen. Nicht mal die Sonne hatte mich aus meiner inneren Ruhe reißen können, als sie mir ekelhaft warm ins Gesicht geschienen und mich so aus meinen Träumen gerissen hatte. Die waren allerdings sowieso ein wenig verquer gewesen, deshalb war ich sogar fast froh über die Unterbrechung gewesen. Das hatte sich jedoch geändert, nachdem ich einen Blick auf den Wecker geworfen hatte und dummerweise feststellen musste, dass es erst halb acht war. Definitiv zu früh, um an einem Ostermontag aufzustehen!

Also hatte ich die Geheimniskiste aus ihrem Versteck geholt und geöffnet.

Jetzt schwelgte ich seit einer Stunde in Erinnerungen und war mit mir und der Welt ziemlich zufrieden. Was selten genug vorkam und deshalb versuchte ich auch Jede Minute in vollen Zügen auszukosten.

Gerade hielt ich ein Ahornblatt in der Hand, dass ich an meinem sechsten Geburtstag von meiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Sie hatte es als sie mit mir schwanger war in einem dicken Wälzer über Schwangerschaftsvorsorge gepresst. Sie hatte mir später mal gesagt, dass sie das Buch nie gelesen, aber einfach behalten hatte, weil man darin so herrlich Blätter pressen konnte. Aber so war meine Mum einfach. Sie hatte immer ein Ding für gute Buchpress-Bücher gehabt.

Als ich mit 12 das erste Mal ein furchtbar dickes, schweres Biologiebuch mit nach Hause gebracht hatte, um für die Hausaufgaben darin zu lesen, war es bereits am selben Abend verschwunden, weil meine Mutter ein paar Gänseblümchen darin gepresst hatte.

In dieser Hinsicht war meine Mum vermutlich mehr Teenager gewesen, als ich jemals sein würde und ich vermisste sie ganz furchtbar. Jetzt bereute ich, dass ich mich ständig beschwert hatte sie wäre nicht „erwachsen" genug und ich müsse die ganze Verantwortung für Mika und Torben übernehmen. Meine Mum war ein wenig verplant gewesen, das stimmte schon, aber sie war auch fürsorglich und liebevoll und hatte sich damals wie ein Löwe vor mich geschmissen, als Angelina Parker behauptete ich hätte ihr im Bastelunterricht das T-Shirt mit Ölfarbe beschmiert, obwohl sie es selbst gewesen war und nur Angst vor der Reaktion ihrer Eltern hatte.

Ich vermisste meine Mum und das würde ich ihr niemals sagen können. Wir würden niemals gemeinsam auf meinem Bett liegen und über Jungs reden und auch niemals zusammen nach Ballkleidern gucken gehen.

Seufzend legte ich das Ahornblatt zur Seite. So schön es auch war in der Vergangenheit zu schwelgen. Irgendwann musste man doch loslassen, um nicht für immer in ihr festzustecken.

Ich nahm seine Briefe in die Hand und las sie mir der Reihe nach noch einmal durch.

Es tat gut mich mit etwas zu beschäftigen, dass ganz aktuell war und nicht in unmittelbarer Verbindung zu meiner Mutter stand.

Jetzt wo ich wusste was es mit seinem Rätsel auf sich hatte, fragte ich mich wie ich so blind hatte sein können.

Wenn man sich vorher ein bisschen mit ihm unterhalten hatte war es eigentlich offensichtlich, was er damit sagen wollte. Ich war ein bisschen genervt von mir selber. Eigentlich hatte ich mich immer für einen Menschen mit guter Menschenkenntnis und schneller Auffassungsgabe gehalten, aber das konnte ich mir ja wohl abschminken.

Genauso wie diesen Tag, wenn ich noch länger im Bett liegen blieb.

Seufzend erhob ich mich und nahm mein nächstes Ziel in Angriff. Frühstücken!

Ganz ohne Stress und Gehetzte. Nur ich und mein Erdnussbuttersandwich mit Nutella oben drauf und das sterbende Basilikum, dass trotz meiner liebevollen Rettungsversuche langsam Kurs auf den Pflanzenfriedhof unseres Komposthaufens nahm.

Ich stand gerade in der Küche, beschloss auch Mika ein ultimatives Snikerssandwich zu machen und genoss es um fast 12 Uhr noch in meinem ausgeleierten Mickeymouse Schlafanzug rumzulaufen (hatte die Hose da etwa ein Loch in der Kniekehle?), als mein Vater den Kopf in die Küche steckte.

"April was tust du denn da?", fragte er völlig irritiert und es schien langsam aber sicher zu seinem Lieblingssatz zu werden.

"Brunch.", antwortete ich ungerührt und strich mit einem Messer Erdnussbutter auf das zweite Sandwich. Beim Gedanken an Brunch lief mir sofort das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht sollte ich ja gleich noch Rührei machen und eine Dose Baked Beans öffnen.

"Aber wir müssen in 20 Minuten los! Sonst erwischen wir den Bus nicht mehr und Granny meuchelt uns mit ihrer Gartenschere, weil wir ihr den perfekten Mittagstee runiniert haben."

Ich erstarrte. Fuck!

Nicht mal in den blöden Ferien konnte ich mal rechtzeitig irgendetwas hinbekommen. Wie konnte ich nur den Ostermontag bei Granny vergessen? Oder hatte man mir etwa wieder einmal einen Familientermin einfach nicht mitgeteilt?

Das wars dann wohl auch mit meiner morgendlich mittäglichen Entspannung.

Entspannung? Pfff... wer braucht die schon? Mit traurigem Lächeln sah ich ihr dabei zu wie sie fröhlich durch unseren Garten davon hüpfte und aus meinem Leben verschwand.

Ich schüttelte den merkwürdigen Gedanken ab und raste mit Lichtgeschwindigkeit in mein Zimmer. Dort schnappte ich mir ein paar beliebige Klamotten aus dem Schrank, denn wer hatte schon Zeit auf ein abgestimmtes Outfit zu achten, wenn man auch einfach aussehen konnte als sei man in sämtliche verfügbare Farbtöpfe des Baumarktes gefallen? Ich fuhr mir mit den ebenfalls bunt lackierten Fingernägeln schnell durch die Haare, dann raste ich wieder nach unten.

Meine Familie stand schon Abmarsch bereit im Flur. Ich warf einen schnellen Blick in den Spiegel und knirschte mit den Zähnen. Meine roten Haare sahen aus wie ein wahnwitziger Waldbrand, mit anderen Worten furchtbar wie immer, aber ich hatte keine Zeit mehr sie irgendwie aufzuhübschen, also zog ich einfach eine Mütze drüber (auch auf die Gefahr hin, dass ich später eine verfilzte Matte auf dem Kopf haben würde), als wir im Lauftrab Richtung Bushaltestelle marschierten.

Ich war sauer. Auf mich und auf mein ultimatives Snickerssandwich, das nur halb mit Erdnussbutter bestrichen und deswegen trocken und irgendwie spröde, wie alte Radiergummis schmeckte.

Hinzu kam noch, dass wir zu der anderen Bushaltestelle in der Nähe gingen, weil dort die Linie abfuhr die uns mitten in die Pampa direkt vor London befördern würde. Ich hatte also nicht einmal den Hauch einer Chance ihn zu sehen und vielleicht unauffällig Blickkontakt herzustellen. Was meinen Tag ja definitiv sowas von gerettet hätte. Bye, bye gute Laune vom Morgen.

Das war bisher der einzige Lichtblick gewesen, aber mein Vater behauptete steif und fest, die Abfahrt an der anderen Bushaltestelle würde uns ganze Fünf Minuten aka einen Busstop ersparen.

Das war natürlich komplett gelogen, ich hatte die Zeit mal gestoppt!

Ich saß also schmollend auf meinem Sitz und kaute lustlos an meinem Sandwich herum, dass nach längerer Überlegung vielleicht doch eher nach Gummisohle schmeckte. Wie lange zum Teufel hatten wir diese Packung Toastbrot denn bitte schon rumstehen?

"Wieso fahren wir da eigentlich hin?", fragte Mika aufgeregt. Er war immer aufgeregt wenn wir zu Granny fuhren. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie die Zwillinge und mich viel zu sehr Verwöhnte, aber sie war auch unsere Granny und durfte das. Das war ein Granny-Privileg, über das ich mich ganz sicher niemals beschweren würde.

So lautete jedenfalls ihre Erklärung. Ich glaubte eher, dass sie es liebte Leute zu bekochen und betüddeln, denn meinen Vater verhätschelte sie genauso.

Dabei schaffte sie es aber trotz aller Liebe eine gewisse Strenge beizubehalten.

Ich wollte irgendwann mal so werden wie meine Granny, herzlich und gütig, aber trotzdem mit Durchsetzungsvermögen und Schmiss. Meine Granny war vermutlich die coolste Person auf diesem Planeten mit ihren Geschichten von der Flucht vorm Krieg und ihren Krav Maga Kenntnissen.

Aber ich wollte mich nicht von den positiven Gedanken an meine Granny aufmuntern lassen. Ich wollte jetzt verdammt nochmal schmollen und Junia per Handy Nachrichten vorjammern, wie furchtbar alles doch war. Trotzig steckte mir die Stöpsel meiner Kopfhörer in die Ohren und ließ mich einfach ein bisschen von entspannender Akustikmusik berieseln.

Mika und Torben hüpften auf ihren Sitzen herum und nervten die alten Damen mit denen wir im Bus saßen.

Mein Vater war kurz vor einem Nervenzusammenbruch und ich, ich war immer noch beleidigt, weil mir niemand rechtzeitig Bescheid gesagt hatte und ich mal wieder nichts auf die Reihe bekommen hatte.

Als der Bus hielt, an der einzigen Bushaltestelle im gesamten Dorf, waren wir alle froh endlich aus dem stickigen, staubigem Ding rauszukommen. Mika war inzwischen völlig ausgeknockt und Torben hatte mehr Energie als jemals zuvor. Die unausgeglichene Kräfteverteilung zwischen den beiden machte mir manchmal echt ein bisschen Angst. Torben konnte einem von Zeit zu Zeit wirklich wehtun, weil er nicht realisierte, wie stark er eigentlich war und nicht selten war Mika derjeinige, welcher die Hiebe zu spüren bekam.

Wir stapften durch die noch feuchte Erde zum kleinen Cottage meiner Granny. Torben rannte brüllend voraus und kickte grölend einen Stein vor sich her. Mika hing entkräftet an meiner Hand und brauchte offensichtlich ein Stück Kuchen. Mein Dad strich sich müde übers Gesicht und ich runzelte besorgt die Stirn. Er arbeitete viel zu viel.

Das Cottage meiner Granny tauchte vor uns auf und ich war ein bisschen sehr erleichtert, dass wir es ohne irgendwelche großen Zwischenfälle erreicht hatten.

Als kleines Kind hatte ich immer stundenlang den alten Dachboden nach irgendwelchen Geheimnissen durchforstet und tatsächlich auch so einiges gefunden. Irgendwann kannte ich allerdings jeden einzelnen Winkel und konnte jede Spinnenwebe aus dem Kopf zeichnen und der Dachboden hatte seine Anziehungskraft verloren.

Das war bei mir immer so. Ich war furchtbar neugierig, aber wenn ich dann alles herausgefunden hatte, war es mir meist zu langweilig.

Inzwischen verbrachte ich dort nur noch dann Zeit wenn die Welt mir komplett zu viel wurde und ich eine Pause von meiner Familie brauchte, um mich selbst ein wenig zu entschleunigen.

Meine Granny saß mit ihrer besten Freundin Gretchen aus Deutschland am Cafetisch in der Gartenlaube und sie tranken Tee.

Granny hatte einen fantastischen Erdbeerkuchen gebacken mit Zutaten aus der Region und Gretchen hatte ihre weltberühmten Scones mit Füllung mitgebracht.

Ich hatte lediglich in Granny's Küche die Clotted Cream für die Scones gerührt und dabei versucht nichts in Brand zu stecken. In der Hinsicht war ich wie der Bruder von Carly aus dieser furchtbaren Nickelodeon-Sendung ICarly, der es schaffte unter Wasser etwas in Brand zu setzten. Jap. Definitiv ich.

Mein Vater hatte unsere alte Keksdose mit den Resten der Kekse von gestern gefüllt, auch wenn diese Ausbeute eher mager ausfiel, da Mika und Torben mitten in der Nacht eine plötzliche Heißhungerattacke gehabt hatten und fast alle Kekse verputzt hatten.

Trotzdem waren am Ende alle irgendwie mehr oder weniger glücklich.

Alle außer mir. Ich war irgendwie immer noch traurig, auch wenn ich mir nicht genau erklären konnte warum. Vielleicht hatte ich doch zu lange in Erinnerungen geschwelgt und hing jetzt für den Rest des Tages tatsächlich in der Vergangenheit fest. Hoppla.

Nach dem Kuchenkränzchen im Garten verkroch ich mich auf den Dachboden und zog eines der alten Bücher meines Opas aus einer der staubigen Kisten.

Anschließend ließ ich mich auf meinen Lieblingsplatz fallen. Ein riesiger Schrank in dem ich mir als ich so klein war, dass ich mich noch im Schrank ausstrecken konnte, eine Art Höhle aus Kissen und Decken und einer zurecht geschnittenen Matratze gebaut hatte. Inzwischen musste ich die Beine anziehen, um hinein zu passen und es war lange nicht mehr so bequem, wie damals.

Ich kuschelte mich in meine Lieblingsdecke und begann zu lesen.

Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Ein Buch das so abgelesen war, dass man teilweise die Buchstaben nicht mehr ganz erkennen konnte.

Es war das Buch das ich immer las, wenn es mir aus unerfindlichen Gründen schlecht ging.

Mein Opa hatte sich überall Dinge an den Rand geschrieben, zu den Charakteren und der Handlung und er hatte sich seine Lieblingsstellen markiert. Auch meine Mutter hatte Dinge in die Geschichte geschrieben und ganz furchtbare Eselsecken in die Seiten gemacht. Diese Büchermörderin!

Ich liebte dieses Buch abgöttisch.

Als ich 13 Jahre alt gewesen war hatte ich es als Ratgeber genutzt und Nächte lang wach gelegen um die Kommentare am Rand zu analysieren und auszuwerten. Ich hatte es immer dabei und man hatte mich fast nur noch mit dem Buch vor der Nase angetroffen. Junia hatte eine ähnliche Beziehung zu Dantes „Inferno" gehabt. Allerdings war das während ihrer sehr kurzen Goth-Phase gewesen und sie war davon in ein derart negatives Gedankenloch gefallen, dass ich ihr das Buch irgendwann weggenommen hatte.

Es hatte lange gedauert, bis ich es dann wahrscheinlich geschafft hatte loszulassen und zu akzeptieren, dass man Dinge die einmal geschehen waren einfach nicht mehr ändern konnte und die einzige Chance um nicht durchzudrehen weiter zu leben und nicht zu viel darüber nachzudenken war.

Ich liebte meine Mum und ich liebte meinen Großvater und sie liebten mich auch, dass war alles das wichtig und entscheidend war.

Manche Dinge kann man nicht für immer festhalten. Man geht kaputt wenn man es nicht schafft weiter zu leben.

Mein Vater hatte das viel früher als ich erkannt, deshalb war das Verhältnis zwischen uns damals etwas angespannt gewesen. Er hatte versucht mich aus meinem Loch rauszuziehen und ich hatte das fälschlicherweise als Geringschätzung meiner Mum gedeutet. Irgendwann hatte ich ihm sogar vorgeworfen er sei doch insgeheim froh, dass sie tot sei.

Aber all diese Dinge hatten uns zu dem gemacht was wir jetzt sind und Veränderungen sind nichts Schlechtes. Man verändert sich kontinuierlich und das ist gut so. Wenn man sich nicht verändern würde was sollte dann bitte jemals aus einem werden?

Ich blätterte vor, bis zu der Stelle an der Mr. Darcy Elizabeth seine Liebe gesteht und ihr einen Heiratsantrag macht.

Mein Opa hatte an den Rand geschrieben, dass sie eine verbohrte Persönlichkeit sei, die sich ihre Meinung bildet, nach dem sie eine Person nur ein Wort hat sprechen hören und die sich von dieser Meinung nicht mehr abbringen lässt.

Er hatte auch geschrieben, dass sie sich dadurch fast die beste Chance ihres Lebens hätte entgehen lassen.

Seitdem ich diese Worte gelesen hatte versuchte ich allem und jedem ohne Vorurteile gegenüber zu treten und mich nicht von den Meinungen anderer beeinflussen zu lassen. Was natürlich nur in wenigen Fällen tatsächlich klappte. Unvoreingenommen zu sein war echt furchtbar schwer.

Ich wurde ein bisschen sentimental, als ich über die krakelige Handschrift strich.

Wie gern hätte ich ihn jetzt hier gehabt. Er war gestorben als ich 9 Jahre alt gewesen war und ich wünschte mir manchmal wahnsinnig doll mit ihm über seine ganzen Bücher zu reden.

Ich wusste, dass er geschrieben hatte. Über mich als ich noch klein gewesen war. Er hatte eine Art Ergebnistagebuch geführt und er hatte sogar den Stammbaum unserer Familie soweit man konnte in die Vergangenheit verfolgt und niedergeschrieben. Granny sagte er hatte auch eine Biographie geschrieben, aber sie wusste bis heute nicht wo er sie versteckt hatte.

All diese Dinge hatte ich erst nach seinem Tod herausgefunden und das machte mich heute noch ziemlich traurig. Viele Dinge findet man über eine Person erst dann heraus, wenn sie gestorben ist und dann kann man sie nie wiedersehen und mit ihr darüber reden.

Man sollte Interesse an den Vorlieben und Bedürfnissen seiner Mitmenschen zeigen, solange man noch konnte.

Ich las weiter.

Wie immer übersprang ich die Zeit in der Elizabeth wütend über Mr. Darcy war und kam gleich zum Punkt, an dem sie begann sich in ihn zu verlieben. Diese ewige hin und her war ja nicht auszuhalten!

Besonders gut gefiel mir wie immer das Ende.

Ein Ende wo alle ihre Fehler einsehen, daraus lernen und dann weiterleben als bessere Menschen war eben einfach schön. Schön zum Träumen, denn im echten Leben kam es ja doch immer alles ganz anders und die meisten Menschen waren einfach verbohrte Arschlöcher, die niemals irgendetwas einsahen.

Ich klappte das Buch zu und starrte aus dem Fenster.

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Scheiß auf die uneinsichtigen Arschlöcher.

Ich warf einen Blick auf die Uhr und erhob mich seufzend. Wie immer hatte ich mich in die Seiten ziehen lassen und überhaupt nicht realisiert, wie viel Zeit vergangen war. Ich schob das Buch in meine Tasche und sammelte noch ein paar andere zusammen.

Ich dankte meiner Granny, dass sie hier oben alte Stoffreisetaschen lagerte, die niemand mehr benutzte, denn so konnte ich jedes Mal eine Unmenge an Büchern mitnehmen und zu Hause verschlingen. Ich hatte zwar jedes einzelne Exemplar vom Dachboden bereits gelesen, aber so hatte ich auch die Möglichkeit ein paar von meinen eigenen hier einzulagern und lief nicht Gefahr eines Nachts von einem Berg Bücher begraben zu werden. Das war tatsächlich einmal fast passiert und ich verspürte nicht das Bedürfnis das Ganze jemals noch einmal zu wiederholen.

Ich stopfte die Reisetasche mit Büchern voll und schleppte sie dann zwei Geschosse nach unten, wo meine Familie gerade dabei war sich voneinander zu verabschieden.

Meine Granny blickte mich kurz an und zog mich dann an sich.

"Geht's wieder mein Schatz?", fragte sie mich flüsternd. Ich nickte und sie schob mich mit einem prüfenden Blick von sich. So war meine Granny. Merkte immer gleich, wenn etwas nicht stimmte, stellte aber trotzdem keine unnützen und unerwünschten Fragen. Sie nahm einen einfach in den Arm und stopfte einen mit Essen voll, bis es einem wieder besser ging.

Nach der langen und herzlichen Verabschiedung machten wir uns auf den Weg zurück zur Bushaltestelle um den letzten Bus des Tages zu erwischen.

Wir waren sogar so rechtzeitig, dass wir noch fünf Minuten warten mussten, bis der Bus endlich weiter hinten um die Ecke geschlichen kam.

Es war ein besonders hässliches Exemplar, mit abgesessenen Sitzen und ohne die geringsten Ansätze einer Klimaanlage. Dementsprechend muffig roch es auch. Jummy Käsefüße!

Er war komplett leer und der Busfahrer schien sich sehr zu wundern, dass um 17.00 Uhr noch jemand aus diesen entlegensten aller Käffer nach Hause wollte.

Wir schnappten uns vier Plätze neben einander und ich stellte die Tasche auf den Sitz neben mir. Solange niemand sonst im Bus war... Fight me!

Je näher wir der Stadt kamen, desto mehr Menschen stiegen in den muffigen Bus und ich musste die Reisetasche zwischen unsere Füße stellen, was dafür sorgte, dass wir fast keinen Platz mehr hatten, weil das Ding ein Monstrum war. Deshalb schien sich auch niemand zu trauen, sich neben mich zu setzen. Oder aber das lag daran, dass vor dem Sitz auf dem Boden ein unschöner Nasser Fleck war, der allerdings nur aus Wasser bestand, was ich ganz genau bezeugen kann, weil es der Inhalt meiner Flasche war. Ich hatte ihn verschüttet, als der Busfahrer eine Kurve etwas zu sportlich genommen hatte.

Ich war gerade dabei eine etwas bequemere Position zu finden, als sich plötzlich doch jemand neben mich auf den Platz fallen ließ. Ich wollte die Person gerade anschnauzen das ja wohl wirklich noch genug Platz war und er/sie mir nicht zwangsläufig so auf die Pelle rücken musste, als ich die unverkennbare Narbe an seiner Schläfe bemerkte.

Wie auf Kommando lief ich rot an. Feuermelder auf Kommando.

Er lächelte nur mysteriös. Wie immer. Alles war wie immer.

Das versuchte ich auch meinem hochroten Kopf zu sagen, aber der wollte nicht so richtig auf mich hören. Fehlte nur noch, dass ich anfing zu rauchen und wie ein Wasserkessel pfiff.

Ich warf einen schnellen Blick auf meinen Vater, der ganz vertieft in sein Telefon zu sein schien und drehte mich hastig zu ihm um.

Was tust du hier? fragte ich und versuchte die Gebärden möglichst unauffällig und in der Nähe meines Körpers zu machen. Ich hatte dabei das unbestimmte Gefühl nicht so richtig unauffällig zu sein, denn

ein paar Leute guckten mich an, als hätte ich gerade gesagt ich würde gerne an meinen Füßen schnüffeln, während ich laut YMCA mitsang.

Busfahren. war seine Antwort.

Ich verdrehte die Augen und drehte mich wieder weg.

Die ganze Situation war mir mehr als unangenehm. Ich hatte erwartet ihn frühestens morgen wieder zu sehen und war deshalb seelisch nicht auf eine Begegnung eingestellt, auch wenn ich insgeheim darauf gehofft hatte. Meine Hände waren schwitzig, ich sah furchtbar aus und der Staub von Grannys Dachboden hing mir überall an den Klammotten.

Mit einem Mal war ich mir all der Dinge, die heute mal wieder nicht mit mir stimmten in voller Härte bewusst.

Er tippte mir gegen die Schulter.

Ich drehte den Kopf und tat dabei, als müsste ich etwas an meiner Tasche überprüfen.

Bin ich dir peinlich? fragte er, grinste dabei aber frech.

Ich schüttelte den Kopf.

Was ist in der Tasche? Wanderst du aus? wollte er wissen.

Bücher. antwortete ich knapp und beugte mich hinunter um den Reißverschluss aufzuziehen. Ich nahm die Ausgabe von Stolz und Vorurteil heraus in der ich heute Nachmittag noch geblättert hatte und drückte sie ihm in die Hand. Ich wusste selber nicht, warum ich mich so absolut unnötig merkwürdig verhielt. Das war ja noch weniger zum Aushalten als Lizzys hin und her in „Stolz und Vorurteil".

Er lächelte und steckte das Buch in seinen Rucksack.

Den Rest der Fahrt tippte er mich nicht mehr an, aber er hielt meine kleine Hand in seiner großen, während mein Herz mir unter dem Hintern weggaloppierte, wie ein wildgewordener Mustang. Schade, dass ich niemals mit Winnetou befreundet war und deshalb auch nicht wusste, wie man einen wilden Mustang bezwingt.

Es war ein komisches Gefühl, wie wir da so nebeneinandersaßen und Händchenhielten ohne richtig Händchen zu halten.

Gleichzeitig schön und kribbelig, aber auch ein bisschen angespannt und merkwürdig, weil ich einfach so merkwürdig war heute.

Ich hatte bisher ein einziges Mal Händchengehalten und wusste gar nicht so genau ob wir das überhaupt richtigmachten, aber es fühlte sich richtig an, deshalb beließ ich es erstmal dabei.

Fragenstellen konnte man ja später auch immer noch.

Hin und wieder warf ich Blicke zu meinem Vater rüber um zu gucken ob er noch mit seinem Handy beschäftigt war.

Warum ich nicht wollte, dass er mich und ihn zusammen sah, wusste ich nicht. Wahrscheinlich wollte ich einfach keine Fragen beantworten.

Kurz bevor wir an der falschen Bushaltestelle aussteigen mussten, fischte er mit der einen freien Hand einen selbstgebastelten Briefumschlag aus seinem Rucksack und drückte ihn mir in die Hand.

Eigentlich wollte ich dir den erst morgen geben, aber wenn ich dich schon mal hier treffe. seine Hände zischten hektisch durch die Luft, so dass ich mich anstrengen musste um ihnen folgen zu können.

Ich nickte und drückte seine Hand zum Abschied kurz mit meiner.

Dann stieg ich aus. Er blieb an seinem Platz sitzen und betrachtete mich durch die Tür die sich langsam schloss.

Lächelnd wanderte ich hinter meiner Familie durch den nächtlichen Nebel zu uns nach Hause. Vielleicht war der Tag doch nicht ganz so furchtbar, sondern nur ganz krass merkwürdig.

An diesem Abend konnte ich mal wieder nicht einschlafen, weil ich an den morgigen Tag und die Kunstausstellung denken musste.

Ich hatte beschlossen seinen Brief erst morgen zu lesen. Schließlich hatte er ihn mir auch erst morgen geben wollen.

Immer wenn ich die Augen schloss baute sich vor meinem inneren Auge ein Bild von ihm und mir auf, wie wir Hand in Hand durch weiße Hallen mit Bildern an den Wänden schlenderten und ich spürte seine raue Hand wieder in meiner.

Irgendwann um halb 3 in der Nacht gestand ich es mir ein.

Wahrscheinlich verleitete mich mein übermüdetes Unterbewusstsein dazu, aber ich war auf dem besten Weg mich Hals über Kopf in ihn zu verlieben und ich wusste absolut nicht ob ich das gut oder schlecht finden sollte.

Tatsache war, dass es so war und ich nicht wirklich etwas daran ändern konnte auch wenn es mir eine Heidenangst einjagte und ich davon Schlafmangel und Haarausfall bekam. Vielleicht würde er mich mit Glatze und dunklen Augenringen ja nicht mehr interessant finden. Dann musste ich mir über den ganzen Scheiß keine Gedanken mehr machen.

Aber dieses eine Mal wollte ich nicht feige sein und mich auf dem Dachboden verkriechen.

Irgendwann musste man ja mal anfangen zu leben.


________

Oh Gott. Es tut mir Leid!

Ich habe soooooo lange nicht mehr geupdatet, aber ich habe drei Wochen straight für mein Matheabitur gelernt (und trotzdem verkackt) und dann musste ich mich um unglaublich viel Kram für mein Auslandsjahr kümmern.

Interessiert euch das eigentlich? Ich überlege nämlich ein Info-Buch zu meinem Auslandsjahr, wie ich auf meine Organisation gekommen bin und wie der ganze Vorgang eigentlich abläuft zu machen.

Würdet ihr soetwas gerne lesen?

Auf bald!

Jule

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