Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

3.1K 489 1K

(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 37

15 5 0
By Cliffhouse

Die sechs Männer schleppten sie mehr als sie sie führten den Raum hinaus und durch eine roséfarbene, marmorverkleidete Eingangshalle, in der mehrere antike, zur Perfektion gemeißelte weiße Statuen standen. Es konnte nur ihr benommener, einer Ohnmacht naher Zustand daran schuld sein, dass es ihr vorkam, als würden die lächelnden marmornen Grazien, an denen sie vorbeikam, sie mit einem Anflug von Mitleid betrachten.

Es ging eine steinerne Treppe hinunter in ein Kellergewölbe, das nach Feuchtigkeit und Weinfässern roch. Die Wände, aus natürlichen, ursprünglich ockerfarbenen und nun recht schmutzigen Feldsteinen, trugen eine niedrige, gewölbte Decke und strahlten eisige Kälte aus. Ihr schwindelte. Der Boden aus gestampfter Erde schien unter ihren Füßen nachzugeben wie Wackelpudding. Oder waren es ihre Beine, die sie zwar noch vorwärtstrugen, sich aber schwankend instabil und unzuverlässig anfühlten?

Sie bekam es nur halb mit, als die Männer vor einem dunklen Gitter anhielten. Da war das Klirren eines Schlüsselbunds, dann wurde eine quietschende Tür aufgestoßen. Sie bekam einen derben Stoß in den Rücken, stolperte nach vorne und fiel hin. Ihre Hände waren noch immer auf den Rücken gefesselt. Hinter ihr rastete das Schloss der Gittertür ein, sie hörte es kaum. Ächzend sah sie auf.

Ein großer, schmaler Mann, etwa um die Fünfzig und in eine lange, weiße Tunika gehüllt, kam auf sie zu. Um seinen Hals lag eine feine, goldene Kette, an seinen Handgelenken klimperten Armreife.

Hinter ihm tauchte Joella auf und stürzte zu ihr. „Kira! Du bist verletzt!", rief sie so laut an ihrem Ohr, dass Kiras Benommenheit ein Stück weit wich.

Joella. Erleichterung erfasste sie. Ihre Freundin war eingesperrt wie sie, aber Himmel, immerhin war sie am Leben! Anscheinend war sie sogar in besserer Verfassung als sie selbst. Das merkte sie daran, dass ihre Freundin eifrig an den Tüchern an ihren Händen herumfummelte und sich dann direkt daran machte, ihre Fesseln zu lösen. Der Mann, der bei ihr war, näherte sich. Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch.

„Na, da haben wir ja noch so ein hübsches Herzchen!", rief er und klang recht zufrieden. „Korbinian denkt auch an alles, sogar daran, diese Eintönigkeit hier unten und meine Langeweile zu befriedigen!"

Verwirrt von der unbeschwerten, sorglosen Stimme, die in der feuchtkühlen Schwärze des Verlieses deplatziert wirkte, sah sie auf.

Kleine, wissbegierige blaue Augen schauten sie mit unbefangenem Blick an. Ein von schütteren, weißen Haaren gekröntes Haupt, ein Gesicht mit einem energischen Mund und einer überlangen, gebogenen Hakennase und mehreren scharfen Falten, die von der Nase zum Mundwinkel verliefen - er erinnerte sie auf irritierende Weise an den Cäsar aus Asterix und Obelix. Im Gegensatz zu diesem hatte dieser Mann hier jedoch weiterhin einen akkurat geschnittenen schwarzen Kinnbart. Sie riss die Augen auf. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Weiße Haare und ein rabenschwarzer Bart! Wie war es möglich, dass sein Haupthaar so aschblond war, dass man hätte denken können, es sei gefärbt, wohingegen sein Bart aber eine tiefe Schwärze aufwies? Seine Haare schienen ja beinahe zu leuchten! Es war absurd und unbegreiflich, doch hier handelte es sich augenscheinlich um Lucius Verus ...

„Kira, das ist Lucius Verus", sagte da schon Joella. „Lucius, das ist meine Freundin, von der ich dir erzählt habe."

„Reizend. Ganz reizend. Eine Lichthüterfrau. Es ist mir eine besondere Ehre", sagte Lucius lächelnd, während er eine beringte Hand galant auf seine Brust legte und sich leicht verbeugte. „Leider habe ich nicht das Vergnügen, dir angemessene Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Wir müssen mit dieser Zelle, der Pritsche und einem Krug Wasser vorliebnehmen."

Sie starrte auf den Ring an seinem Finger. Eine eingravierte goldene Flamme. Es war ein Lichthüterring. Im selben Moment fielen ihr die Initialien ein, die auf der Karte unter Simeons Schreibtisch in Pompeji gestanden hatten. 'Lieber Simeon. Meine Suche ist hier beendet, ich hoffe, du hast mehr Glück. L. V.'. Lucius Verus war der unbekannte Schreiber! Natürlich, deshalb war die Karte so alt. Er musste sie Simeon vor etwa hundert Jahren mit der Post von Trier nach Pompeji geschickt haben. Zusammen mit Simeon Romano hatte er nach Phönixen gesucht.

Sie starrte ihn an. „Sie sind Lucius Verus ...", sagte sie immer noch ungläubig.

„Richtig, mein Täubchen, so ist es. Wie er leibt und lebt." Wieder verneigte er sich.

Er sah aus wie fünfzig, aber ihr war klar, dass er eher Simeons Alter haben musste. Er hatte eine Überdosis Phönixlicht abgekriegt und war unsterblich. Es war ... unmöglich. Sie schluckte. Aber was hielt sie sich hier mit Belanglosigkeiten auf! Wichtig war jetzt nur eins! Hilfesuchend wandte sie sich an Joella. „Joella, wir müssen hier raus!! Er hat Phoe zur Cavea mitgenommen!"

„Ich habe keine Ahnung, wie ich hierherkomme, Kira. Ich bin so froh, dass du da bist! Wer hat Phoe zur Cavea genommen?"

Lucius breitete gleichmütig die Arme aus. „Es kommt, wie es kommt."

Kira fluchte. „Seid ihr noch ganz bei Trost? Wir müssen RAUS hier! Während wir hier plaudernd herumstehen, ist Korbinian schon dabei, Phoe zu einem Dunkelvogel zu konvertieren!"

Joella sah sie an, als wache sie nach Volltrunkenheit am Abend mit Kater am Morgen auf. Verwirrt fasste sie sich an ihre Wunde an der Stirn. „Wusste ich doch, dass Korbinian da mit drinhängt!", sagte sie langsam. „Er muss mich niedergeschlagen haben. So wie Lucius wurde ich von ihm gefangengenommen, soviel ist klar. Nur ... ach, es ist alles diffus in meinem Kopf ... wie komme ich hierher? Lucius sagt, wir sind hier im Imperium Nigrum. Auch wenn ich nicht allzu viel davon gesehen habe ... Außer dieser Zelle natürlich. Und wieso in aller Welt hat Korbinian den Feuervogel??"

Kira hatte Lust, sie zu würgen. „Weil DU ihn hierher gebracht hast!"

„Ich? Spinnst du? Das würde ich nie tun!"

„Auch im alten Rom haben Frauen oft miteinander gestritten ..." Mit vor dem Körper überkreuzten Armen und neugierig interessiertem Blick blickte Lucius, der es sich auf der Pritsche bequem gemacht hatte, zu ihnen herüber.

„Du wurdest MANIPULIERT, Joella!" Kira hatte es fast geschrien. Sie hatte das untrügliche Gefühl, hier die Einzige zu sein, die bei klarem Verstand war. Die Verzweiflung packte sie. Sie mussten hier raus! Phoe war in Gefahr! Die Welt war in Gefahr!

Joella war schlagartig verstummt. Betroffen sah sie sie an. „Oh mein Gott! Irgendwie hatte ich einen Filmriss ... Wie bin ich hierher gekommen? Ich kann mich nur vage an Jonathans Bus erinnern ..."

„Du bist mit Phoe hierher gefahren, Joella. Die Details erspare ich dir lieber."

„Aber wie ...?"

„Korbinian hat dir ein Serum verpasst, das dich zu seiner Marionette gemacht hat. Du hast gemacht, was er wollte." Kira verzog das Gesicht.

„Oh mein Gott! Ich habe doch hoffentlich niemanden umgebracht?" Schockiert starrte sie Kira an, plötzlich blass geworden.

„Nein, das hast du nicht."

„Dem Herrn im Himmel sei Dank ... Aber dann ..." Sie wurde blass. „Dann bin ich ja Schuld, dass Korbinian jetzt Phoe hat!?"

Kira nickte. Dann wandte sie sich hastig an Lucius. „Wie kommen wir hier raus?"

Lucius wies auf das Gitter. „Durch die Tür?", sagte er fragend.

„Herrgott!" Gab es hier irgendwo erwachsene, vernunftgesteuerte Personen, mit denen man zielführende Gespräche führen konnte? Sie hatte hier mit einer von dem Serum noch ganz wirren Joella zu tun und einem, wie es schien, von Geburt an wirren alten Römer. Wütend rüttelte sie an den Gitterstäben. Dann trat sie einen Schritt zurück. „Ich schieße es jetzt für uns auf!" Einer musste hier ja die Entscheidungen treffen! Sie ballte die Hände zu Fäusten, so nah beieinander, dass es einen einzigen, starken Lichtstrahl entstand und feuerte ihn direkt auf das Schloss ab.

Es gab ein lautes, metallisches Geräusch und das Eisen der Tür sprühte rotglühende Funken. Sonst passierte nichts.

Wie vor den Kopf gestoßen sah Kira sich nach den anderen um. „Scheiße! Das müsste doch funktionieren!"

Lucius Verus stand auf und fuhr sich mit unerschütterlicher Gelassenheit durch die aschgraue Mähne. „Korbinian hat mit Schwarzmagie ein spezielles Schloss entwickelt. Deshalb sind hier auch keine Wachen. Er weiß, dass wir hier nicht rauskommen, denn dafür bräuchte es die Kraft von mindestens zwei Lichthütern", sagte er beinahe gelangweilt.

„Verdammt!" Kira starrte ihn fassungslos an. „Sie haben doch damals experimentiert und magische Kräfte gekriegt! Sie sind derjenige, der uns hier rausbringen müsste!"

Lucius seufzte. „Dafür müsste ich eine Phönixfeder haben. Oder noch besser den ganzen Vogel. Nur Federn verhelfen mir zu Feuer, Blitz und Flammen ... Tut mir leid." Er ließ sich auf die Pritsche plumpsen, die dies mit einem gequälten Quietschen quittierte.

„Verdammter Mist!" Kira erinnerte sich. Er brauchte Phönixfedern. Phoe war aber schon zur Cavea gebracht. Sie waren hier zum Nichtstun verdammt, bis die Welt in Flammen aufging!

„Äh, warum hast du das nicht gleich gesagt, Lucius?" Joella sah den exzentrischen Römer in der weißen Tunika an und kramte in ihren Hosentaschen. Dann zog sie eine winzige Feder heraus. „Ich habe mir eine in die Tasche gesteckt, weil ich sie hübsch fand." Sie betrachtete die zerfledderte Feder betrübt. „Nur sieht sie jetzt leider nicht mehr so schön aus."

„Alle Götter seien gelobt! Eine Phönixfeder!!!" Lucius strahlte vor Freude. Eifrig nahm er ihr das, was nicht mehr viel Ähnlichkeit mit einer Feder hatte, aus der Hand, und umfasste es so vorsichtig, als hielte er ein verletzliches Küken in den Händen. „Das ist unsere Rettung!", sagte er und schloss andachtsvoll die Augen.

Kira dachte schon, er würde jetzt eine Art meditierende Gebet anstimmen. Da ging auf einmal, von seinen zum Nest gewölbten Händen ein Leuchten aus. Eine Lichtkugel, die sich intensivierte und größer wurde. Gleißend helle Strahlen drangen zwischen seinen Fingern hindurch, und er öffnete die Hände leicht und die wabernden Ranken aus Licht wanderten wirbelnd an seinen Armen aufwärts, sie umschlangen seinen Körper wie wild zuckende Schlangen. Ein Ruck ging durch Lucius hindurch, er warf den Kopf nach hinten und stieß ein leichtes Lachen aus, eine Mischung aus genussvollem Auskosten und Fröhlichkeit. Dann verglühte das Leuchten langsam irgendwo mitten in seiner Brust und er öffnete die Augen. „Ah", machte er. „Das tut gut. Es ist jedes Mal ein erhebendes Gefühl. Ein Gefühl wie ich es ansonsten nur von Wein und schönen Frauen kenne. Berückend in dem Maße, wie es jedes Mal wirkt."

Er sah Kira mit frischer Tatkraft an. „Dann lass mich dir mal helfen, meine Liebe ..." Er stellte sich neben sie. „Dann wollen wir mal ... Auf Drei: unus, duo, tres!"

Bei Drei vereinten sich ihre beiden hell flammenden Lichtblitze und schossen krachend auf das Schloss der metallenen Gittertür. Rauch stieg auf. Als er sich verzogen hatte, klaffte in der Tür anstelle des Schlosses ein melonengroßes Loch.

„Bitte, die Damen!", sagte Lucius galant und bedeutete ihnen, vor ihm hinauszutreten.
*

Sie kamen unbeschadet durch den Gewölbekeller, ohne auf Wächter gestoßen zu sein.

„Gibt es hier noch einen zweiten Ausgang?", fragte Kira Lucius angespannt.

„Alle Wege führen zum Licht", gab Lucius zum Besten und Kira überlegte, dass er sich eigentlich gut mit Albiel verstehen müsste. Sie hatte eine höllische Angst, den Wachen über den Weg zu laufen und ihr sank der Mut, wenn sie nur daran dachte, dass sie draußen noch ein gutes Stück Weg vor sich hatten, um zur Cavea zu gelangen.

„Wenn ich irgendeine Wache sehe, schieße ich ihr ein Loch in den Kopf", stieß sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

„Tu das, tu das", erwiderte Lucius. „Vielleicht geht ihnen dann ja ein Licht auf. Außerdem würde es mich etwas entschädigen für die lange Zeit der Dunkelheit, die man mir zugemutet hat."

„Wie lange waren Sie da drin eingesperrt?", fragte Kira ihn mit einem mulmigen Gefühl. Bilder von greisenhaften, skelettartigen Gefangenen mit schlohweißem, langem Haar tauchten in ihr auf. Womöglich hatte Lucius mehrere Jahrhunderte im Verlies dahinvegetieren müssen? Sie bekam eine Gänsehaut.

„Also mehr als drei Wochen waren es sicher! ... Ich hätte dem Hurensohn eins mit der Bratpfanne übergehauen, wenn ich gewusst hätte, dass er plötzlich mit Chloroform hinter mir in der Küche steht."

„In welcher Küche?", fragte Joella, die um die Ecke linste, in beiläufigem Ton. Sie wirkte nicht überrascht. Allem Anschein nach hatten sich die Beiden schon über Lucius' diverse Affairen unterhalten.

„Na, die Küche meines Lofts in Rom natürlich. Herrlich eingerichtet übrigens. Mit Baldachin über dem Bett, bodentiefen, vergoldeten Fenstern und Sicht über den Tiber. Aber nun gut, das tut jetzt nichts zur Sache ..." Er räusperte sich und wurde dann erneut von seiner Wut auf Korbinian gepackt. „Die Kanaille muss sich einen meiner Zweitschlüssel besorgt haben, unter Umständen von einer meiner Verflossenen." Er warf Kira und Joella einen um Verständnis heischenden Blick zu. „Ich muss gestehen, dass ich nicht mehr weiß, wer inzwischen alles einen solchen Schlüssel hat. Hin und wieder habe ich eine neue Flamme, wenn ihr wisst, was ich meine."

Kira hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie war fokussiert auf die schmale Tür an der Seite, die ihrem Orientierungssinn nach aller Wahrscheinlichkeit nach hinaus führte. „Lucius, kennst du einen Weg in die Cavea?", fragte sie Lucius Verus.

„Nein, Liebes, nicht wirklich. Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es aber mehrere Wege, die dorthin führen. Korbinian hat einmal verlauten lassen, dass-"

„Pst, da ist jemand auf dem Hof!", zischte Joella da.

Kira merkte, wie die Angst in ihr hochstieg.

Lucius, der sich hinter Joella gestellt hatte, schielte ebenfalls ums Eck. „Holla, das ist ja eine Rockträgerin!", rief er. „Ich kenn sie. Ein nettes Kind. Ich habe ihre Bekanntschaft gemacht, weil sie mir oftmals das Essen in die Zelle gebracht." Er stieß einen durchdringenden Pfiff aus und trat einen Schritt aus dem Schatten heraus auf den Hof.

Kira, zu Tode erschrocken, wollte ihn am Ärmel zurückziehen, doch da eilte Lucius schon winkend auf das Mädchen zu, das dort, in Schürze und Haube wie eine Küchenkraft, einen Eimer mit Essensabfällen über den Hof trug. Sie blickte verwundert auf. „Der Gefangene!", sagte sie erschrocken.

Kira war es ein Rätsel, was Lucius vorhatte. Was sie über ihn wusste, reichte aber, dass sie beunruhigt stehenblieb. „Herrgott, was hat er vor?", fluchte sie leise vor sich hin. Joella hob die Schultern. „Lucius kommt mir auch manchmal etwas extravagant vor."

„Extravagant? Wohl eher kopflos! Sie könnte doch gleich Alarm schlagen!"

Als sie wieder aufschauten, sahen sie, dass Lucius den einen Arm um die Dienerin gelegt hatte. In dem anderen trug er den Eimer.

„Alter Charmeur!", kicherte Joella.

Als Lucius zurückkam, strahlte er. „Man sollte immer ein paar nette Worte mit dem Personal wechseln. Das ist sehr wichtig."

„Und? Wie hilft uns das jetzt weiter?"

Lucius duckte sich und raunte ihnen verschwörerisch zu: „Es gibt da einen unterirdischen Schacht, in dem auf Wagons Essen für die Wissenschaftler in der Cavea befördert werden. Gleich neben der Küche."

Kira starrte ihn überrascht an. „Und das hat sie Ihnen freiwillig erzählt?"

Lucius tat empört „Nein, natürlich nicht. Es war ein Austausch an Gefälligkeiten. Küsse gegen Informationen ..." Er schlenkerte vergnügt mit dem leeren Zinkeimer, den er für die Bedienstete geleert hatte.

„Küsse gegen Informationen", kicherte Joella. „Das muss ich mir merken."

Die Küche war leicht zu finden. Sie mussten nur dem Geruch gebratener Gänse und Kohlroulade nachgehen. Auf dem Weg dorthin erledigte Lucius einen der Köche, der unvermittelt im Gang auftauchte, mit dem leeren Zinkeimer, den er der Magd abgenommen hatte. Scuros waren nirgends zu sehen. Sie ließen den Koch liegen und schlichen an der zweiflügeligen Küchentür vorbei bis zu einer großen Luke an der Wand.

„Hier muss es sein", brummte Lucius und schob den Riegel zurück. Dahinter wurde ein breiter, dunkler Gang mit Schienen sichtbar. Auf den Schienen stand eine Art Zugmaschine und dahinter mehrere mittelgroße, offene Transportwagen.

„Na also", sagte Lucius zufrieden und schlüpfte schon hindurch. Nachdem sie sich noch einmal umgeblickt hatten, folgten die Mädchen ihm in das dämmrige Licht des Schachts.
*

„Das nenne ich eine lobenswerte Organisation", bemerkte Lucius bewundernd. Nachdem er es geschafft hatte, den Dieselmotor anzuwerfen, saß er vorne auf der Zugmaschine und musste laut rufen, um sich im Rattern der Räder verständlich zu machen. „Die Cavea ist sicher Meilen entfernt und doch werden die Mitarbeiter mit Essen versorgt! Ein gutes System, das muss man ihnen lassen."

„Sozusagen 'Essen auf Rädern'...", grinste Joella.

Sie und Kira saßen in den leeren Wagons, in denen sicher noch nie Personen transportiert worden waren. Kira hielt sich krampfhaft am metallenen Rand des Gefährts fest, während sie in die zwielichte Dunkelheit hineinfuhren. Nur nach allen paar hundert Metern wurden die Gleise von winzigen Oberdeckenlichtern minimal beleuchtet. Die Wagen waren so niedrig, dass sie mit ausgestreckten Armen leicht die schmutzigen, rechts und links aufragenden ziegelgebackenen Wände hätten greifen können. Kira wusste es nicht so genau, aber die Förderwagen im Kohlebergbau sahen sicher ähnlich aus.

„Für Leute sind diese Wagen bestimmt auch nicht gedacht, hoffentlich hält die Maschine das durch", murmelte sie und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Die kalte Luft des Fahrtwindes fuhr ihr schneidend durch den Pulli.

„Immerhin sind es keine Zugpferde und ist elektrisch", schrieJoella gegen den Fahrtwind an.

„Das ist doch nicht elektrisch, da ist ein Motor vorne drin", erklärte Lucius von vorne, als sei er ein Fachmann.

„Ich meine ja nur, dass wir nicht schieben müssen." Joella kräuselte beleidigt die Nase. „Ich studiere Kunstgeschichte, nicht Maschinenbau."

„Also bei Pferden würde ich direkt wieder aussteigen!", rief Kira ihr zu und schlang die Arme um sich. Der kalte Fahrtwind fuhr wie Nadeln in ihren Pulli. Mittlerweile war ihr richtig kalt.

Der Tunnel fiel etwas ab und sie wurden schneller. Hoffentlich dauerte es nicht mehr zu lange. Kiras Gedanken flogen zu Phoe. Er war Korbinian nun völlig ausgeliefert. Sie versuchte, in sich hineinzuhorchen, zu fühlen, wie es ihm ging. Doch da waren nur der tuckernde Motor der Lok vorne und das gleichmäßige Geräusch der stampfenden Räder über den Gleisfugen.
*

Albiel setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um den nächstgelegenen Weinbauern dazu zu überreden, ihnen seinen Wagen zu überlassen. Er hätte ihn auch kurzgeschlossen und gestohlen, doch der Mann ließ sich breitschlagen, als sie ihm sowohl einen Personalausweis als auch eine nicht unerhebliche Summe an Bargeld in die Hand drückten. Sie hatten schon viel zu viel Zeit verloren und waren noch nicht einmal den Berg hinunter!

Es war ein alter Ford, der schon viele Kilometer auf dem Buckel hatte. Doch es war ihnen egal, zumal sie mit allem vorliebgenommen hätten, wenn es nur vier Räder hatte. Auf Simeons Geheiß fuhren sie los zu den Kaiserthermen, denn dort lag der einzige Eingang zur Cavea, den sie kannten. Hoffentlich kamen sie noch rechtzeitig.

Im Rückspiegel sah erdas angespannte Gesicht seines Sohnes. Albiel wusste, wie es sich anfühlte,wenn das Mädchen, das man liebte, in Gefahr war. Cecilia hätte sicher die richtigenWorte für ihren Sohn gefunden. Er aber schwieg, umfasste das Lenkrad nur festerund drückte aufs Gaspedal.


Continue Reading

You'll Also Like

13.1K 364 17
• Diese Duskwood Fanfiction beginnt einige Monate nach dem alles endlich ein Ende hatte • Hannah und Richy wurden gefunden und beide sind glückliche...
99.9K 9.5K 141
Eigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinburgh plötzlich von einem Geschöpf wie au...
1.6K 317 66
Von klein auf versucht Sahira, ihrem Schicksal zu entrinnen. Sie möchte um jeden Preis verhindern, die traditionelle Rolle der Frau einzunehmen, die...
708 122 26
~ Jeder sollte sein eigenes Schicksal bestimmen können~ Sternenjunges will so schnell es geht die beste Kriegerin des WindClans sein! Doch der WindCl...