Kapitel 30

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Der Himmel einer sternklaren Nacht lag über ihnen, mit einem Vollmond, der rund und weiß wie eine Reiswaffel alles in ein fahles Licht tauchte. Simeon, Jonathan, Lian und Joella waren ausgestiegen und leise zu Kira getreten, die die Augen nicht von Phoe ließ. Nur Albiel war im VW-Bus am Steuer geblieben.

Der Phönix lag wie ein sterbender Schwan in ihren Armen. Vielleicht hatte das milchig weiße Mondlicht, das auf sein Gefieder schien, diese Assoziation bei ihr ausgelöst, sie wusste es nicht. Phoes Blick, immer noch unstet und schwankend wie ein Rohr im Wind, ging erschöpft ins Dunkel. Doch sein Herzschlag schien kräftiger zu werden, sie spürte es unter ihren Händen. Er plusterte sich auf, als versuche er auf diese Weise, noch mehr Mondlicht abzubekommen. Die Federn seines Brustkleides hoben und senkten sich, seine bernsteinfarbenen Augen wurden klarer.

Als er sich leicht schüttelte, wusste Kira, dass er es geschafft hatte. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Seine Federn begannen zart zu leuchten. Bald war das schimmernde Goldgelb des Phönix' zurück.

Sie fand es nicht ganz unlogisch. Die meisten Schöpfungsmythen begannen mit Mond und Sonne, mit der Erschaffung des Universums. Der Phönix war ein Mythos, er zog Energie aus Mond und Sonne, der Mond war so heilsam und wichtig für ihn wie das Feuer der Sonne.

„Du bist ein lebender Mythos!", flüsterte sie ergriffen und legte ihre Hand behutsam auf seinen flaumweichen Kopf. Da erst merkte sie, dass sich auch Ihre eigenen Verletzungen zurückgebildet hatten. Erstaunt wendete sie ihre Hände hin und her. Die Brandblasen an den Handflächen waren beinahe vollständig verschwunden. Der Schmerz war weg.

Die geschwungenen Linien von Federn und Ranken hingegen schimmerten wieder stärker auf ihrer Haut. Allem Anschein war sie als Lichthüterin so eng mit dem Phönix verbunden, dass der Mond ähnlich auf sie wirkte.

Sie wandte sich zu den anderen um. „Meine Hände sind wieder heil!", sagte sie leise und wies auf ihre Handflächen. „Die Verbrennungen sind weg!"

„Das ist in der Tat erstaunlich!" Simeon war herangetreten. Seine buschigen Augenbrauen waren nach oben gerutscht. „Ganz erstaunlich!", wiederholte er.

„Nur die schwarzen Streifen an seinen Flügeln sind geblieben", stellte Joella fest.

„Die wird er wohl immer behalten", brummte Simeon. „Es ist ein Trauerrand, der uns an diesen Tag erinnert und uns wachsam bleiben lässt."

„Jeder von uns hat mit seinen eigenen Trauerrändern zu kämpfen", kam es da hinter ihnen von Albiel. Sein Blick lag auf dem Phönix und wanderte dann zu Lian.

„Was meint er?", flüsterte Joella neben Kira. „Er hat doch gar keine Federn."

„Ich glaube, du kannst das nicht verstehen. Du bist eine der Wenigen hier, die keine Trauerränder hat." Kira knuffte sie freundschaftlich in die Seite. „Du bist hier sozusagen unser bunter Papagei!"

„Wenn das eine Anspielung auf meinen Kleiderstil sein soll, bin ich jetzt beleidigt."

„Nein, soll es nicht", kicherte Kira und freute sich, als Joella im Weglaufen „Häh, die haben doch alle einen Schuss weg!" murmelte. Sie ging zum Lieferwagen. Simeon folgte ihnen.

Als Kira ihre sich entfernenden Schritte auf dem Schotter vernahm, überfiel sie eine jähe Beklemmung. Verdammt! Sie werden mich doch hier nicht mit Lian allein lassen!, durchzuckte es sie. Was erwarteten sie? Dass sie hier im Mondlicht miteinander eine Art Ich-hab-dich-ja-trotzdem-lieb-Gespräch abhielten? Nein, so einfach war das nicht! Sie hatte ihm nichts zu sagen!

Lian stellte sich still neben Kira und sie rutschte unwillkürlich ein Stück von ihm ab.

„Geht es dem Phönix wirklich besser?", fragte er leise. Seine Stimme klang müde und leer.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now