Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

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(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 27

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By Cliffhouse

Betroffen schaute er sie an. „Ich war schon immer ...", begann er, schlug dann aber den Blick nieder und brach ab. Von seiner früheren selbstzufriedenen, frechen Art war nichts mehr zu spüren. „Ich bin ein Idiot", murmelte er fast unhörbar.

So verletzlich wie er plötzlich wirkte, hätte sie in einem plötzlichen Reflex am liebsten seine Hand genommen, zog sie jedoch im letzten Moment zurück. „Das bist du wirklich ...", brummte sie und versuchte, das kleine Gefühl, das in ihr leise flatternd mit den Flügeln zu schlagen begann, zu verdrängen. Spinnst du?, mahnte sie sich selbst, die Brandblasen und den benebelten Kopf hast du nicht von ungefähr! Er hat mitgeholfen, dich an den Käfig zu hängen!

Ich wusste nicht, dass ein federleichter Vogel Tonnen wiegen kann!", brummte sie und bewegte ihre Arme, die sich, von dem Gewicht des großen Feuervogels befreit, anfühlten, als würden sie gleich davonschweben. Gleichzeitig schmerzte jeder einzelne Muskel darin. Sie stöhnte.

„Gib mir Phoe!", sagte sie dann.

Lian rührte sich nicht. Ein von der Zeit losgelöster Moment entstand. Sie wusste, wenn er ihr Phoe jetzt nicht gab, würde sie ihm nie wieder auch nur das kleinste bisschen Vertrauen schenken können. Kalter Schweiß brach ihr aus und lief ihren Rücken hinunter. Sie sah ihn an und wurde sich des Moments plötzlich überdeutlich bewusst. Sie spürte den Rand der Kapuze an ihrer Stirn, das unangenehm feuchte Rinnsal von Schweiß am Rücken, roch den Geruch der sich verflüchtigenden, umherwabernden Rauchschwaden und war plötzlich von fieberhafter Unruhe ergriffen. Ein paar Sekunden verstrichen, die ihr sehr lange vorkamen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf.

Lian kniff die Augen zusammen. „Vertraust du mir nicht?", fragte er.

Sie sah ihn an. Sah in seine grünen Augen, die sie so gut zu kennen geglaubt hatte.

„Nein", sagte sie dann bestimmt und zog die Kapuze des schwarzen Hoodies ein Stück weiter in die Stirn. „Jetzt gib ihn mir schon!" Auffordernd streckte sie die Arme aus.

Er seufzte und legte ihr Phoe zurück in die Arme. „Ich bin wohl selbst schuld", brummte er missmutig.

Erleichterung rann an ihr herunter wie kühles Wasser.

„Was ist mit dir? Kommst du nicht mit?", fragte sie und blickte ihn nervös an.

„Dein Bodyguard und Simeon sind wahrscheinlich nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Für sie bin und bleibe ich ein Scuro. Mach dir keine Sorgen, ich schlag mich schon durch. Nun geh schon! Du schaffst das."

Sie presste kurz die Lippen zusammen, überlegte. Irgendwie gefiel es ihr nicht, dass er hier einfach so verschwinden wollte. Wenn jemand gesehen hatte, wie er ihr geholfen hatte, schwebte er vielleicht in Lebensgefahr. Hatte er das verdient? Die Antwort war ja. Die Frage war, ob sie das wirklich wollte.

Langsam zog sie mit einer Hand das Messer aus ihrem Gürtel, während sie mit der anderen Phoe festhielt.

„Du wirst es besser gebrauchen können als ich", sagte sie und reichte es ihm.

Wortlos nahm er es an sich.

Dann lief sie los, Phoe an sich gepresst.

Lians vertrauten Geruch in der Nase, schaute sie sich mit klopfendem Herzen nach der nächsten Treppe um. Sein Hoodie umgab sie wie warm und weich, und obgleich sie wusste, dass dies eine äußerst trügerische Sicherheit war, mummelte sie sich schutzsuchend in ihn hinein.

Ihr Puls hämmerte wie ein überschnelles Uhrwerk, während sie ein paar Stufen hocheilte und einen schmalen Steg entlangging. Sie schlang die Arme fest um Phoe und versuchte, das schwache Leuchten seiner Federn mit den überlangen Ärmeln zu verdecken

Unter sich hörte sie, wie Korbinian nach Verstärkung rief, weiter drüben nahm sie Einschläge von Blitzen wahr. Simeon und Albiel nehmen die Scuros weiter aufs Korn, gut!, dachte sie erleichtert. Als sie dann jedoch die in gekrümmten Positionen daliegenden Körper passierte, manche noch mit einem überraschten Blick in den offenstehenden Augen, verflog das Hochgefühl, das sie eben noch verspürt hatte und ihr wurde schlecht. Schnell wandte sie sich ab und lief weiter.

Es hatte etwas von einem verrückt-fanatischen Lauf durch ein Feuerwerk. Fortwährend zischten Blitze durch das Dunkel, knallten auf Eisen- und Stahlträger, prallten auf Wände und Armschienen oder fuhren mit der Härte und Präzision von fiesen Laserstrahlen in Muskeln und Gliedmaßen. Schreie gellten durch die Halle, Körper sackten zusammen, krümmten sich, manche blieben liegen. Blutige Spuren zogen sich als grausige schwarze Flecken über den Boden und sie schauderte. Lieber nicht so genau hinsehen, dachte sie und hielt dann verzweifelt nach Albiel und Simeon Ausschau. Die ansteigenden Stufen vor ihr lagen im Dämmerlicht, weiter oben verschwanden sie in gänzlicher Schwärze. Keuchend stieg sie höher. Phoe in ihren Armen wog zentnerschwer.

Als sie auf dem gefühlt hundertsten Treppenabsatz ankam, entdeckte sie den Bodyguard. Er kauerte hinter der Balustrade des übernächsten Geschosses und nahm gerade ein paar Scuros weiter unten ins Visier. Zwei Lichtblitze, die er abschickte, durchzuckten die Luft und trafen die Scuros mit solch akkurater Präzision, dass diese wie gefällt zu Boden gingen. Unwillkürlich musste Kira schlucken. Simeon und Joella waren nirgends zu sehen.

Über einen stählernen Steg lief sie weiter, das Metall klapperte unter ihren Schuhen. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr daran, dass das Geländer zu dünn war. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug.

Urplötzlich tauchte ein Trupp Scuros vor ihr auf.

Sie mussten von einer der seitlichen Eisentrassen herübergekommen sein. Es waren vier an der Zahl. Der Vorderste hatte sie erspäht und gab den anderen ein Zeichen. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg. Zwei Männer wandten sich nach rechts, es sah ganz so aus, als wollten sie sich Albiel vorknöpfen. Die zwei anderen kamen auf sie zu.

Sie fühlte sich plötzlich so schwach, als hätte ihr jemand die Energiezufuhr abgestellt und unterdrückte ein Wimmern. Kurz musste sie an den Filmausschnitt eines Dokumentarfilms denken, den sie kürzlich gesehen hatte: ein Erdmännchen, dessen Weg von mehreren Schakalen abgeschnitten wird und das im heißen Wüstensand nach einem Schlupfloch Ausschau hält. Sie fühlte sich wie das Erdmännchen: winzig, schwach und ausgeliefert.

Als ihr warnender Ruf durch das Dunkel gellte, sah sie noch, wie ihr Bodyguard den Kopf herumriss. Gerade noch rechtzeitig, um den Angriff der beiden Scuros abzuwehren. Er hob den Arm zum Feuern. Im nächsten Moment wurde ihr durch die anderen zwei Scuros, die mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht auf sie zukamen, die Sicht genommen.

Mit einem Arm hielt sie den Phönix und schleuderte mit dem anderen einen Lichtblitz ab. Er war nicht von herausragend kraftvoll, aber immerhin breit wie eine Männerhand. Doch sie hatte keine Zeit, Genugtuung über ihre Geschicklichkeit und Kraft zu empfinden, denn der Scuro riss reflexartig den Arm hoch, um die Wucht des Blitzes, der ihn mitten in die Brust getroffen hätte, abzufangen. Er taumelte. Dann fuhr er sie wutschnaubend an: „Wenn du denkst, deine Streicheleinheiten könnten einen Scuro umlegen, hast du dich getäuscht!"

Sie schaffte es, einen zweiten und dritten Schuss abzugeben, weniger stark, noch verzweifelter. Einer traf den zweiten Scuro an der Schulter, doch ihre Hoffnung, dass er durch die Verletzung von ihr ablassen würde, erlosch direkt, als er etwas Unverständliches knurrte und weiter auf sie zulief. Als der Erste eine Pistole hervorzog, wusste sie, dass sie verloren hatte. Schniefend zog sie die Luft hoch. Schritt für Schritt kamen die Scuros näher.

Mit aufgerissenen Augen blickte Kira auf die Mündung der schwarzglänzenden Waffe. Sie war starr vor Entsetzen. Irgendwo hinter der Pistolenmündung, an den Grenzen ihres Bewusstseins, nahm sie eine Bewegung wahr. War das etwa Albiel? Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Die erzürnten Gesichter der Scuros, mit ihren unnatürlich großen Pupillen, die kaum noch Weiß im Auge übrigließen, schoben sich wieder in ihr Blickfeld.

„Dumme Göre, nur Scherereien haben wir mit dir! Schluss mit den Spielchen, jetzt wir sind am Drücker!", fauchte der eine.

Der andere, der seinen Finger direkt am Abzug hatte, strich mit dem Daumen grinsend darüber. „Wir sind am Drücker, ganz genau", wiederholte er hämisch. Seine Kinnlade malmte dabei wie ein Wiederkäuer.

Zitternd presste Kira Phoe an sich.

Als im nächsten Moment zwei grelle Lichtblitze von hinten in die zwei Männer fuhren und ihre Körper so leicht aufrissen wie das Fruchtfleisch einer Orange, wusste sie, dass sie Albiel zu Dank verpflichtet war.

Die zwei Scuros verdrehten die Augen und sanken auf das metallene Gitter der Trasse. Die Blitze hatten sie von hinten regelrecht zerschnitten und gaben den Blick nun auf blutiges Gedärm frei.

Schnell wandte Kira sich ab. Krampfhaft versuchte sie, das Gefühl aufsteigender Übelkeit zu unterdrücken. Schnell, an etwas anderes denken! Weiter Himmel, Strand, Meer, Urlaub ... Doch es brachte nichts, der azurblaue Himmel in ihrer Vorstellung wurde von schwarzen, krakeelenden Rabenvögeln bevölkert und am Strand lagen von den anrollenden Wellen überspülte, aufgeschnittene Leichen. So viel zu Ablenkung und Selbstbeeinflussung des Vorstellungsvermögens. Weiß der Geier, sie hatte noch nie einen Toten so unmittelbar vor sich gesehen! Und jetzt gleich zwei auf einmal. Jetzt würgte sie doch.

Als sie wieder aufsah, eilte Albiel mit langen Schritten auf sie zu. Sie stand immer noch da wie erstarrt.

Albiel war nur noch knapp einen Steinwurf oder besser gesagt Lichtwurf entfernt und bei ihr wollte sich gerade der Hauch eines Gefühls von Erleichterung einstellen, als sie sah, wie sich plötzlich seine Augen weiteten. Seine ganze Körperhaltung drückte alarmierte Habachtstellung aus. Er fixierte einen Punkt hinter ihr, und sie wollte den Kopf herumreißen, doch es war schon zu spät. Im Bruchteil einer Sekunde verstand sie, wieso Albiel so erschrocken ausgesehen hatte. Sie erfuhr es auf eine sehr schmerzhafte Art und Weise, als sich von hinten ein Arm um ihren Hals schlang und sie zurückriss. Ein würgendes Gurgeln entwich ihrer Kehle.

Als sie das fiese Lachen hinter sich hörte, wusste sie, dass es Magnus war. Ihr erstickter Schrei klang beinahe wie ein Schluchzen. Ein Messer blitzte auf und einen Wimpernschlag später drückte Lians verdammter Onkel ihr die Klinge an die Kehle.

Seinen ekelhaft warmen Atem im Nacken, rang sie um Luft. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Dieser Mann war wie eine Viper. Heimtückisch, hinterhältig, schleichend, gefährlich. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

„So, meine Liebe, Korbinian erwartet dich schon ungeduldig", zischte er und bei seinem feuchten Speichelsprühregen an ihrem Ohr hätte sie kotzen können. Sie keuchte.

Die Frage ist, ob er sich erst dich oder den Vogel vorknöpfen wird. Wolltest uns wohl vorenthalten, dass du eine Lichthüterin bist, hm? Hältst dich wohl für besonders schlau?"

Tränen der Wut und der Verzweiflung schossen ihr in die Augen. „Ich halte mich für gar nichts. Ihr macht mich zu etwas, das ich nicht bin. Lasst mich gehen!", brachte sie gegen die drückende Klinge an ihrem Hals hervor. Dass man sie so kurz vor der nahenden Rettung geschnappt hatte, war einfach nur frustrierend. Das Leben war ungerecht und unfair noch dazu. Wenn sie das bis jetzt noch nicht kapiert hatte, wusste sie es spätestens jetzt. „Ihr seid doch alle komplett verrückt!", spuckte sie. „Ihr mit euren verqueren Theorien! Ich bin nicht euer Heilsbringer, den ihr lynchen könnt, sobald ihr sein Licht angezapft habt!" Ihre Stimme klang wie die eines greinenden Kindes. Nur vielleicht etwas zorniger.

„Haha", lachte Magnus amüsiert. „Heilsbringer, das trifft es gut! Das Püppchen hat Humor. Der Heilsbringer, der uns den Phönix und den Sieg bringt! Korbinian vincet!"

„Für wen haltet ihr mich eigentlich? Ich kann keine Wunder vollbringen, ich bin doch nicht Jesus! Und Phoe ist nicht der Heilige Geist!" Wut brodelte in ihr. Wut und Angst. Eine allumfassende, nackte Angst. Das Sprechen fiel ihr schwer mit diesem verdammten, scharfen Teil Metall am Hals. Sie hoffte immer noch, dass Albiel irgendetwas einfallen würde und versuchte, zu ihm hinüberzublinzeln.

Magnus lachte polternd. „Phoe? Du hast ihm einen Namen gegeben? Das ist ja ganz herzallerliebst!" Er grinste hämisch und verschlagen. „Dein Phoe hat meiner Meinung nach tatsächlich etwas vom Heiligen Geist", warf er ein. „Er ist die Kraft, die alle Völker einen wird. Und zwar unter unserem Oberbefehlshaber Korbinian ..."

„Ich rühre keinen Finger für euch!"

Er ruckelte einmal an der Klinge. Sie dachte, er sei wütend. Dann erst verstand sie, dass er lachte. Unhörbar und fies. Er stand da hinter ihr und lachte! Schon fuhr er fort: „Ich fange an zu begreifen, warum mein Neffe so Spaß mit dir hatte. Nicht nur hübsch bist du, sondern auch recht amüsant." Sie konnte sich sein süffisantes Grinsen dabei vorstellen. Die Ratte! Lian hatte also Spaß mit ihr gehabt? Eine ohnmächtige Wut ergriff sie. „Ich hoffe, er hat sich die Zähne an mir ausgebissen!", schleuderte sie hervor und versuchte gleichzeitig, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Wieder stiegen Erinnerungen in ihr hoch. Wie Lian sie auf die Insel abgeseilt hatte, wie er sie in den Herrengärtchen angesehen hatte, sein Lachen, als er gemerkt hatte, dass sie Angst vor Vögeln hatte ... Der Mistkerl!

Aber ohne ihn würde sie immer noch in Fesseln liegen. Warum hatte er ihr geholfen? Weil er ihren und Phoes Tod nicht auf dem Gewissen haben wollte? Aus Mitleid? Sie konnte auf sein verfluchtes Mitleid gut verzichten! Eine Träne rollte ihre Wange hinunter, und sie war froh, dass Magnus hinter ihr stand und es nicht sehen konnte.

Ihr Puls raste. Sie verfluchte sich dafür, das Messer nicht behalten zu haben. Auch wenn sie Phoe im Arm hielt, hätte sie sich doch damit irgendwie wehren können. Magnus' Klinge drückte gegen ihren Hals und nahm ihr den Atem.

Und Albiel? Er hatte sich keinen Zentimeter vom Fleck gerührt. Warum tat er nichts? Verflucht, er war ein Bodyguard!! Konnten die nicht auch im schlimmsten Fall noch eine Jokerkarte aus dem Ärmel ziehen? Doch er stand reglos da, mit versteinerter Miene. Seine Augen schienen vor Anspannung zu brennen. Oder war es Hass?

„Da ist ja auch der werte Herr Leibwächter!", spottete Magnus. „Misch dich bloß nicht ein, Albiel, wenn dir das Leben dieser jungen Dame etwas bedeutet!" Erneut begann er zu lachen, ein perfides Lachen, das sich heimtückisch auf sie niedersenkte. Vor Erschütterung blieb ihr die Luft weg. Er kannte Albiel?

„Was für eine Freude, dich wiederzusehen, Albiel! Hast du also doch überlebt! In welchem Loch hattest du dich versteckt?", rief Magnus. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus und Hohn.

Ein eisiger Schreck fuhr ihr in die Glieder. Nie hatte der Bodyguard davon erzählt, dass er einen der Scuros kannte! Und dazu auch noch einen der Anführer. Fassungslos starrte sie ihren Leibwächter an, dessen maskenhafte Züge in den immer wieder aufzuckenden Lichtblitzen geisterhaft und unnatürlich wirkten. Was war zwischen den beiden Männern vorgefallen? Ihre Gedanken rasten. Albiel hatte nie etwas erzählt, natürlich nicht. Als ihr Leibwächter hatte er stets eine neutrale Rolle gehabt, er war in gewisser Hinsicht ohne Vergangenheit und Zukunft. Sein Dasein hatte in ihren Augen einzig und allein in der Bewältigung seiner Aufgabe bestanden, sie zu schützen. Er war ihr immer vorgekommen wie ein Profi, ein gut funktionierendes Schattenwesen, das stets hinter ihr war, sich Hüllen aus den verschiedensten Verkleidungen zugelegt hatte und zu Jähzorn neigte. Hatte er selbst einst womöglich zu den Scuros gehört, zu dieser Hassorganisation? Hatte er deshalb immer so finster und oft unnahbar gewirkt? Weil er den Ballast der Vergangenheit mit sich herumtrug? Sie hatte ihm nie Fragen gestellt, was sie nun bereute. Die kalte Klinge des Messers drückte so fest an ihren Hals, dass sie ihr Blut an der Stelle pulsieren fühlte. Ihr schwindelte.

Magnus stieß ein Geräusch aus, das dem Grunzen eines Schweines nicht unähnlich war. „Mein Herz hat vor Überraschung einen Sprung gemacht, Albiel, als ich dich vorhin von unten gesehen habe! Wer hat dir beigebracht, Blitze zu schleudern wie ein Lichthüter? War das Simeon? Hm ... so viel also zum Zusammenhalt von Familienbanden ..." Seine Stimme klang beängstigend leise, als er fortfuhr: „Du hast dich gegen mich gestellt! Gegen mich und die Gemeinschaft der Scuros! Du bist ein elender Verräter und hast den Tod verdient! Und diesmal kommst du nicht davon ..."

Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt. Ihr Blick irrlichterte panisch nach einem Ausweg. Sie wollte hier weg! Sie wollte all das hier nicht hören! Wo war Simeon? Wo war Joella?

„Gerade du sprichst von Familienbanden, Magnus? Mit dir will ich nichts gemein haben! Und jetzt lass das Mädchen los! Lass sie aus dem Spiel!"

Weiter entfernt war eine Serie von Schüssen zu hören, wahrscheinlich hielt Simeon dort gerade Korbinian in Schach. Kira war einer Ohnmacht nahe. Nur mit Mühe hielt sie Phoe fest.

„Denkst du etwa, dass ihr so durchkommt, Albiel? Du und Simeon?", rief Magnus. „Wie hast du ihn aufgetrieben? Mit einer Anzeige im Stil von 'Hilfe, wer rettet mich vor meinen eigenen Leuten? Oder hat er dich gefunden?"

„Simeon ist der Einzige, der in all diesem Klamauk einen kühlen Kopf bewahrt."

„Ach was! Was redest du von kühlem Kopf daher! Eins sag ich dir, Albiel, Feuer werden brennen! Mit dem Phönix werden wir uns stärker werden als je zuvor! Wir sind zu mächtig für die Lichthüter geworden! Wie viele sind sie eigentlich noch? Neben den Scuros sind sie mickrige Glühwürmchen in der Nacht! Lichthüter? Pah, eine aussterbende Dynastie ist das! Und das Mädchen hier, diese Lichthüterin, die dachte, sie könne sich als Passantin durchmogeln? Sie hätte den Feuervogel vorhin besser im Käfig gelassen! Korbinian wird sie in Stücke hacken vor Wut!"

„Lass sie in Frieden, sie ist unschuldig." Albiels Stimme klang jetzt matt und abgekämpft.

„Von wegen unschuldig! Sie hat mindestens vier unserer Männer verletzt und versucht hier gerade, den Phönix zu entführen! Wer uns in die Quere kommt, hat schlechte Karten, das hast du am eigenen Leib erfahren. Ich hätte dir den Bauch aufschlitzen sollen damals! Wie bist du eigentlich davongekommen? Du hättest tot sein sollen! Wir haben deinen Helm unterhalb der Felsen gefunden. Von dir keine Spur. Leider Gottes bist du doch nicht gestorben! Hast dich wohl schnellstens aus dem Staub gemacht, was? Verräter!"

Kira stöhnte auf. Die Klinge an ihrem Hals, die alptraumhaften Informationen, die hier durch die Luft flogen, die unmittelbare, permanente Bedrohung durch Magnus, der sie immer noch festhielt wie in einer Schraubzwinge ... sie würde das nicht mehr lange durchstehen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Zu allem Überfluss sprach ihr Aggressor weiter: „Jetzt wird das Mädchen hier erst mal brav mit Onkel Magnus mitkommen, Korbinian erwartet sie schon sehnsüchtig." Alles was aus seinem Mund kam, war grauenhaft. Der Typ war einfach widerlich.

Albiel hatte sichtlich Mühe, die Kontrolle über seine Emotionen zu wahren. „Dass du dich weiter zu der Organisation bekennst, war vorauszusehen", zischte er erbittert. „Cecilia und ich haben immer wieder versucht, dir klarzumachen, dass sich die Scuros radikalisieren, dass sie nur noch eine Bande aus Verbrechern sind, wir haben versucht, dich zur Besinnung bringen! Aber vergebens, du wolltest nicht hören ... Blindlings bist du diesem Demagogen gefolgt!"

„Verleumde nicht den Zenturio! Korbinian ist ein Ehrenmann! Sein einziges Ziel ist es, den Scuros Gerechtigkeit zu verschaffen!"

Albiel stieß ein ersticktes Keuchen aus. „Du Narr!", stieß er hervor. „Korbinian war schon immer ein Agitator! Er hat die Scuros aufgewiegelt und sie nur für seine Zwecke benutzt! Am Ende blieb uns nur die Flucht." Mit einem gequälten Laut stieß er die Luft aus. „Und dann habt ihr elenden Bastarde sie getötet! Hinterrücks habt ihr sie erschossen! Wer hat den Auftrag dafür gegeben, hm? Der ach so verehrte Zenturio? Wer war es, der sie ermordet hat?" Seine Stimme bebte.

Magnus spuckte Gift und Galle: „Du und Cecilia, ihr wurdet abtrünnig! Ihr seid die Schuldigen!" Kira fragte sich allmählich, zwischen welchen Fronten sie hier gelandet war. War ihnen überhaupt noch bewusst, dass sie hier stand und beinahe verrückt wurde vor Angst? Aber Magnus schrie schon weiter, er führte seine Tirade fort, als säße der Teufel ihm im Nacken. „Cecilia wollte wichtige wissenschaftliche Aufzeichnungen stehlen und du hast ihr dabei geholfen, Albiel! Ihr habt interne Informationen entwendet! Doch wer abtrünnig wird, muss sterben, so ist das eben." Sein Tonfall war auf einmal lauernd.

Albiels Arm war nach vorne gezuckt, als würde er im nächsten Augenblick auf Magnus losgehen. Doch Kira stand nun mal dazwischen. Genau das schien ihm auch klarzuwerden, denn er hielt fast verstört inne.

„Ihr tötet Unschuldige!"

Magnus Stimme wurde eisig. Jede Silbe bohrte sich förmlich in die Luft und hinterließ eine tödliche, erstickende Kälte. „Wegen dir musste ich meine eigene Schwester töten, Albiel! Glaubst du, das habe ich gerne getan?"

„Du?" Albiel gab einen tonlos gurgelnden Laut von sich. „Du hast sie getötet? Du hast deine EIGENE SCHWESTER getötet?" Sein Gesicht war eine verzerrte Maske aus nur schlecht verhülltem Hass.

„Ich führe nur Befehle aus, denn im Gegensatz zu dir bin ich loyal! Und ich stehe zu meinen Taten, wie du siehst. Schau mich an, ich bin kein dreckiger Überläufer wie du! Kein verdammter Verräter!"

„Du bist ein Ungeheuer, Magnus! Ein ... Mörder!", ächzte Albiel. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Körperhaltung war auf einmal schlaff wie die eines Hahnes, der in der Hand des Schlächters baumelt.

An Kiras Kehle war noch immer die Klinge, in ihr nur noch blankes Entsetzen.

Albiel schlug die Hände vors Gesicht. Seine Schultern bebten. „Du hast Cecilia umgebracht. Meine Frau, ... deine eigene Schwester. Nie werde ich dir das verzeihen, nie!" Die letzten Sätze hatten dumpf geklungen. So erloschen, als hätte man ihm eben das Licht ausgepustet. Oder war dies schon früher geschehen?

Magnus knurrte gereizt und machte eine abfällige Geste: „Ich gebe nichts auf deine Worte! Cecilia und du, ihr habt die Alten Schriften entweiht! Was für ein Frevel, sie zu stehlen! Hast du meine Schwester dazu angestachelt? Gottlob konnten wir das Buch sicherstellen!"

„Glaubst du immer noch daran, dass die Scuros das Alte Römische Reich wiederherstellen können? Das Neue Römische Reich der Scuros? Armer Irrer! Wärt ihr nur in euren Sümpfen geblieben, es hätte allen weniger Unglück gebracht!"

„Hast du die Geschichte unserer Vorfahren schon vergessen, Albiel? Es war Marc Aurel, der uns vertrieb! Mit diesem Schritt hat er unser Volk beinahe ausgelöscht! Er trägt die Schuld! Er hat unser Volk in die Verdammnis geschickt!"

„Marc Aurel war nicht ohne Fehler. Doch in die Verdammnis hat er euch nicht geschickt. Er wollte euch eine neue Heimat schenken! Aber diese Konversation haben wir schon einmal geführt ..."

„Einem Scuro nimmt man nicht ungestraft die Heimat!" In Magnus' Stimme schwang jähe Empörung mit. „Aber heute hat sich das Blatt gewendet! Wir werden den übermächtigen Dunkelvogel schaffen, dessen Blut uns die Herrschaft bringen wird. Alle Scuros kämpfen dafür, unbeirrt, hingebungsvoll und treu! So wie übrigens auch dein Sohn ..."

Albiel hatte einen Sohn? Und Magnus kannte ihn? Verwirrt schaute sie zu Albiel hinüber und sah, wie er erstarrte. Sein Gesicht, das eben noch vor Zorn gerötet war, wurde aschfahl. „Ich weiß, dass ihr meinen Sohn geködert habt und ich schwöre bei Gott, dass ihr es bereuen werdet. Jeder von euch wird zur Rechenschaft gezogen werden, dafür werde ich kämpfen! Wo ist mein Sohn?", brachte er mit Mühe hervor.

Magnus brach in hämisches Gelächter aus. „Nach deinem Pseudo-Begräbnis habe ich mich aufopferungsvoll um ihn gekümmert. Der Junge war ein braver Bursche, muss ich sagen. Hat den Tod seiner Eltern, die ihn mit diesem tragischen Unfall so schmählich im Stich gelassen haben, als Anlass genommen, sich voll und ganz den Scuros und ihrer Sache zu verschreiben. Er war offen und empfänglich... Du hast mit deinem Verschwinden einen echten Scuro aus deinem Sohn gemacht, Albiel! Er hat verinnerlicht, dass die Lichthüter verruchte Verräter sind, die es auszurotten gilt! Dafür habe ich gesorgt."

Albiel machte eine so wütende, unbeherrschte Bewegung nach vorne, dass Magnus einen Schritt zurückwich und sie mitriss. Kira würgte. Rote Sternchen blitzten vor ihren Augen auf, vielleicht waren es aber auch nur die roten Äderchen in Albiels Augen, der immer näher kam. Sie sah Mordlust darin aufglimmen.

„Du elende Ratte!", presste er heraus. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Er ist nur ein Kind! Ihr hattet kein Recht-"

„Er ist kein Kind mehr, Albiel...", feixte Magnus hämisch. „Dein Junge ist ein junger Mann geworden. Einer der im Übrigen weiß, was er will."

Kira meinte, Albiel sprängen die Augen aus den Höhlen. Es sah aus, als würde er sich gleich ins offene Messer stürzen. „Das wirst du mir büßen!", schrie er. „Elender Bastard! Wo ist Lian?"


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