Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

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(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 23

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By Cliffhouse

„Kooperiere einfach, dann wird dir nichts geschehen", sagte Lian und sah ihr mit so starrem Blick in die Augen, als sei sie eine Schlange, die es zu bändigen galt.

„Du weißt nicht, was du da tust, Lian! Lass dich nicht von ihnen benutzen!", flehte sie.

„Lass mich meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich nehme jetzt den Phönix mit." Er hatte es in einem Tonfall gesagt, als sei auch sein Inneres plötzlich vereist.

„Du bist ein Mistkerl!", stieß sie hervor. Alle möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf, sie wollte ihn mit Lichtblitzen durchlöchern, ihm ihre Faust ins Gesicht rammen, ihn mit Schimpfwörtern überschütten ... oder aber ihren Tränen freien Lauf lassen. Doch sie konnte Phoe mit seinem verletzten Flügel unmöglich fallenlassen. Also stand sie bewegungslos da. Die Scuros waren bei ihrer Beschimpfung drohend vorgerückt, griffen jedoch nicht zu ihren Waffen. Logisch, sie hatte ja auch den Phönix, den sie lebend brauchten.

Sie ließ sich den Vogel ganz erbärmlich und unspektakulär von Lian aus den Armen nehmen. Ihre Augen brannten vor Zorn. Auch nun konnte sie sich nicht auf ihn stürzen oder ihn mit Feuerblitzen traktieren, der Bastard wusste genau, was er machte. Solange er den Phönix vor sich hielt, war das wie ein Schutzschild für ihn.

„Bindet ihr die Hände wieder auf dem Rücken zusammen", wandte er sich an die Scuros. Diese, dienstbeflissen wie übermotivierte Angestellte mit Aussicht auf baldige Beförderung, beeilten sich, seinem Befehl nachzukommen und branden ihr grob die Hände wieder auf den Rücken.

Heller Zorn überwältigte sie. Sie überlegte, die Scuros anzugreifen, egal, was dann auf sie zukam, irgendwie musste sie sich doch zur Wehr setzen!

„Du hast keine Chance gegen uns, wir sind zu viele. Also versuch es erst gar nicht, du machst es dir dadurch nur noch schwerer", sagte Lian, als hätte er in ihren Augen gelesen, was sie vorhatte.

„Ihr werdet damit nicht durchkommen!", keuchte sie.

„Du auch nicht", presste er zwischen den Lippen hervor. „Kooperiere einfach."

„Mistkerl! Außerdem wiederholst du dich!"

„Du auch. Und ich bin kein Mistkerl. Ich erfülle nur meine Aufgabe."

Der sekundenlange Moment Empathie, den sie in seinen Augen gelesen hatte, war augenblicklich wieder verschwunden.

„Denkst du etwa, ich lasse mich von euch brav wie ein Lamm zur Schlachtbank führen? Mit dem beklagenswerten Phönix, den ihr, verdammt noch mal, komplett aus dem Spiel lassen solltet, weil das hier Tierquälerei ist? Denkst du daran, hm?" Sie wusste, dass sie sich wie ein in die Enge getriebenes Opfer verhielt. Das Schlimme daran war: sie war eines.

Lian entfernte sich.

"Ist jetzt die Audienz beendet oder wie?", rief sie ihm aufgebracht hinterher. Sie wollte ihn aufhalten, ihm klarmachen, dass er hier einer Sekte oder Ähnlichem aufgesessen war, dass er sich endlich von ihnen abgrenzen sollte, sie wollte ihm Fragen stellen, sie wollte einfach nur, dass er bei ihr blieb! Doch sie wusste mit bitterer Gewissheit, dass er ihr nicht zuhören würde. Er hatte sich von ihr abgewendet. Er lief mit dem Phönix einfach weg.

Nur kurz wandte er den Kopf. „Man wird sich um dich kümmern. Du kannst etwas essen und trinken. Ruh dich aus." Es klang, als würde alles unabänderlich einer bestimmten Ordnung folgen, als hätten weder er noch sie Einfluss darauf. Seine Resignation traf sie mehr als die Information, dass sie sich ausruhen sollte. Wofür ausruhen? Dafür, dass sie bald zuschauen sollte, wie man Phoe umbrachte, um einen Dunkelvogel aus ihm zu machen?

„Ich will mich nicht ausruhen!", schrie sie. „Ich will hier raus! Raus aus diesem verdammten Loch, raus aus dieser Gruft mit all diesen dubiosen Maschinen! Das ist das Einzige, was ich will!" Und dann, leiser: „Lian, du kannst mit all dem hier doch nicht einverstanden sein!"

Er drehte sich nicht um. Bei jedem seiner Schritte, mit dem er sich weiter entfernte, hallte es stählern. Das Geräusch dröhnte schmerzhaft in ihren Ohren.

Sie konnte nicht mehr. Sie war mit den Nerven am Ende. Wohin brachte er den Phönix? Sie lehnte sich an die Wand hinter ihr, sie war kalt, und ließ sich langsam mit dem Rücken daran heruntergleiten, bis sie schließlich den harten Untergrund unter sich spürte. Ihre hinter dem Rücken gefesselten Hände waren klamm, und als sie die Finger so gut es eben ging bewegte, schnitt ihr das Seil schmerzhaft in die Handgelenke. Bei dieser Grabeskälte hier unten hole ich mir sicher eine Erkältung, dachte sie und schalt sich selbst anschließend direkt einen Trottel. Sie ahnte, dass die Zukunft nicht nur eine harmlose Erkältung für sie bereithielt.

Es dauerte keine zehn Sekunden und die vier Scuros hatten sich vor ihr aufgebaut, breitschultrig und großmäulig. „Los, hoch mit dir! Herumgammeln kannst du auch woanders!"

„Ich würde sehr gerne woanders herumgammeln! Das wollte ich nur mal klarstellen", entfuhr es ihr.

„Jetzt wird sie auch noch frech!" Rabiat zog einer sie an der Schulter hoch. Sie stolperte.

„Rotzlöffel! Magnus wird dir den Kopf waschen, wirste schon sehen. Er findet ja sowieso, dass du ..."

„Rede nicht so viel, Ron!", unterbrach ihn ein anderer. „Wir müssen noch alles vorbereiten, die Geräte einstellen, den Vogel vermessen,... Bringen wir die Göre zum Käfig."

Kurz streifte Kira der Gedanke, dass Albiel sie schon wieder niedermachen würde, wenn er sie jetzt sähe. Ohne den Phönix, gefesselt, hilflos und von Scuros umringt. „Typisch, keinerlei Eigeninitiative!", würde er sagen und unverschämt mit den Augen rollen. Egal, ihr Ziel war, hier mit dem Leben davonzukommen, das wäre doch schon mal etwas. Und Chancen hatte sie, denn wenn sie sie hätten töten wollen, hätten sie es sicher schon längst gemacht.

Ein Geräusch unten in der kreisförmigen Halle drang zu ihnen herauf und sie reckte den Kopf.

Lian war unten angekommen. Er stand am Käfig, betrat ihn mit Phoe im Arm und sie sah voller Entsetzen zu, wie er den Vogel an einer eigens dafür vorgesehenen Halterung fixierte. Der arme Phoe stieß wilde Schreie aus und flatterte wild mit dem unverletzten Flügel. Kira spürte einen Knoten im Magen. War dies das Ende des Phönix'? Hatte sie versagt und die Scuros würden ihn jetzt gleich auf irgendeine verquere, kranke Art mit ihren Geräten und Kabeln umbringen? Verzweifelt versuchte sie, eine gedankliche Verbindung mit Phoe herzustellen, doch sie konnte ihre Gedanken ja kaum selbst sortieren und spürte auf Seite des Vogels nur helle Aufregung, Schmerz und Angst.

Da verlor sie die Beherrschung. Während sie hier stand, gefesselt und in Schach gehalten von diesen fiesen Kerlen, quälte Lian dort unten den Phönix!

„Lass ihn sofort los!", brüllte sie zu ihm hinunter und erschrak selbst über die Lautstärke ihrer Stimme. Durch den zylinderartigen Bau der Halle wurde sie um ein Vielfaches verstärkt. Der Feuervogel kreischte besorgniserregend, während er in seinen Fesseln hing. Es war schrecklich, mitanzusehen, wie er erfolglos versuchte, Lians Griff zu entkommen.

„Ein Scheusal bist du, Lian!", schrie sie. „Du quälst den Feuervogel, das merkst du doch! Du bist ein verdammter Bulldozer, der alles niedermäht, was er vor der Schnauze hat! Lass ihn los!!!" Sie schluchzte. Die Wände warfen ihre Stimme zurück. Es hatte geklungen, als hätte sie in eine Schlucht gerufen. Zu allem Überfluss fühlte es sich auch so an, als stehe sie an einem Abgrund. Im wörtlichen und bildlichen Sinn.

Als plötzlich das laute Quietschen der Eingangstür zu hören war, riss sie den Kopf herum.

Magnus war eingetreten. Die Hände in die Seiten gestemmt und mit ausdruckslosem Lächeln betrachtete er die Szenerie. Hinter ihm schob sich eine ganze Legion Scuros vorbei. Es mussten an die fünfzig sein. Ein Knoten hatte sich in ihrem Hals gebildet.

„Was zur Hölle ist hier los?"

In dem roten Nebel ihres Zorns war ihr klar, dass ab sofort jeder weitere Schritt desaströs für sie sein konnte. Magnus' Bereitschaft zur Gewalt kannte sie schon, mit einem gezielten Schuss wäre Kira Kronenberg nur noch ein lebloser Körper unter der Erdoberfläche. Diese verdammten Katakomben wären ihr Grab. Wie passend.

Die Scuros hatten sie gepackt und sie versuchte wütend, sich von ihnen loszureißen, trat um sich und teilte Hiebe mit den Ellbogen nach rechts und links aus. Es war nichts zu machen, die Scuros waren so zahlreich, dass sie sich wie Flüssigkleber um sie drängten und so bald jede kleinste Bewegung verhinderten. Unten gebärdete sich der Feuervogel so wild, dass Lian einen Schritt zurücktrat. Er sah erschrocken aus.

Magnus betrachtete Kira mit kaltem Blick und stieß ein verächtliches Grunzen aus. Dann rief er zu seinem Neffen hinunter: „Lassen wir sie eben zu dem Phönix, Lian! Soll sie ihn beruhigen! Wenn diese Göre denkt, sie könne dem Phönix liebevoll den Flügel halten und hier tierärztlichen Notdienst spielen, kann sie das ruhig tun." Seine Stimme triefte vor Spott.

Von Scuros eskortiert wurde sie nach unten geführt. Mit jedem Schritt, den es die Wendeltreppe hinunterging, hatte sie nur einen Gedanken. Nämlich die Fesseln abzuwerfen und ein Feuerwerk aus explodierenden Blitzen anzurichten, bis die Scuros sich alle am Boden wanden und sie im ausbrechenden Chaos mit Phoe verschwinden könnte. Okay, vielleicht war das ein wenig unrealistisch, aber sei's drum.

Sie wurde von ihrer Eskorte zum Käfig gebracht, in dem Lian gerade die letzten Vorkehrungen traf und die letzten Bänder an Phoe festzog, immer darauf achtend, seinen Schnabelhieben auszuweichen. An seiner Wange prangte eine blutende Schramme, wie sie zufrieden feststellte.

Trotzig sah sie ihm entgegen. „Man muss auch einstecken können, wenn man Tiere quält, was?", warf sie ihm wütend an den Kopf, während die Scuros, die dicht hinter ihr standen, sie an den Armen zurückhielten.

„Ich habe kein Mitleid von dir erwartet", murmelte er verbissen.

Einige Sekunden lang standen sie sich gegenüber und blitzten sich an wie zwei wütende, zum Angriff bereite Tiger. Phoe war mit Kiras Auftauchen still geworden und reckte den Hals nach ihr.

Kira straffte die Schultern. „Binde mich los und gib ihn mir!"

„Dich losbinden? Damit du hier Kleinholz aus allem machst? Für wie doof hältst du mich?"

„Willst du eine ehrliche Antwort darauf?"

„Nein, eigentlich nicht, vielen Dank. Ich weiß, dass du wie die Axt im Walde wüten würdest ..." Lian zog die Mundwinkel leicht nach oben. „Auch wenn du gerade eher einer stumpfen Axt gleichst, schließlich bist du gefesselt."

Sie versuchte, den mörderischsten Blick aufzusetzen, den sie auf Lager hatte. Dass er sie nicht losband und Phoe beruhigen ließ, machte sie wahnsinnig.

Bei ihrem Schlagabtausch hatten sie nicht gemerkt, dass Magnus hinzugetreten war.

„Schluss mit dem Geplänkel!", herrschte er beide an. Dann wies er auf den Käfig. „Legt ihr Handschellen an. Sechs Mann stellen sie hinter den Käfig, sie kann den Feuervogel von dort aus durch die Gitterstäbe ruhigstellen. Soll sie doch zuschauen, wie aus ihrem goldenen Vögelchen ein prächtiger, mächtiger Dunkelvogel wird! Der mächtigste, größte Rabenvogel, der je existiert hat!"

„Stecken wir sie doch zu dem Phönix in den Käfig!", wurden Stimmen unter den Scuros laut.

„Im Käfig drin will ich sie ungern, nicht dass sie noch unsere Berechnungen durcheinanderbringt", winkte Magnus ab. Dann rieb er sich die Hände. „Korbinian wird zufrieden sein."

Kira horchte überrascht auf. Korbinian? Simeon hatte diesen Namen erwähnt. Das war doch dieser römische Lichthüter zu Zeiten Marc Aurels, der auf Abwege geraten war und dann zu den Anführern der Scuros mutiert - ... oh Gott.

„Korbinian, der Abtrünnige?", krächzte sie. Ihre Knie waren auf einmal butterweich.

Magnus' Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich sehe, du hast schon von ihm gehört", sagte er langsam.

„Aber ...", stotterte sie. „Ist der nicht schon lange tot?"

Magnus' Lachen gab ihr den Rest. „Korbinian hat so seine Methoden, um am Leben zu bleiben. Er ist ein ehemaliger Lichthüter. Lichthüter sterben erst, wenn ihr Phönix oder aber seine Nachkommen sterben. Korbinians Feuervogel ist ihm schon vor langer Zeit abhandengekommen. Er geht davon aus, dass das Phönix-Ei, das du netterweise ausgegraben hast, das Ei seines Feuervogels war."

„Korbinian ist der Lichthüter meines Phönix'?" Die Verzweiflung hatte sie gepackt.

„So nehmen wir an. Du bist vermutlich ein unterlaufener Lapsus in der Zeit. Nach den neuesten Erkenntnissen unserer Wissenschaftler gab es durch das im Vulkangestein eingeschlossene Ei eine Art Doppelbesetzung. Es war nicht klar, ob der Phönix nun lebte oder gestorben war. Weswegen eventuell eine neue Passantenstelle besetzt wurde. Die du eingenommen hast, als du das Ei ausgegraben hast."

„Keine Ursache", bemerkte Kira verwirrt. Fassungslos schaute sie ihn an. Lapsus in der Zeit, Doppelbesetzung ... Er hörte sich ja fast an wie Albiel! Wurde sie hier etwa schon wieder als 'Versehen des Schicksals' bezeichnet? Phoe gehörte diesem Korbinian, dessen Ziel es war, aus ihm seinen persönlichen Dunkelvogel zu machen? Alles sträubte sich in ihr dagegen. Sie würde ihm Phoe nicht überlassen.

„Warum ist der Phönix dann nicht zu Korbinian, sondern zu mir geflogen?", fragte sie, ohne überhaupt eine Antwort zu erwarten.

„Korbinian war nicht in dieser Welt, so einfach ist das. Er war bei sich zu Hause, im Imperium Nigrum. Das Tor dorthin ist geschlossen!"

„Eine andere Welt? Gibt es jetzt etwa auch noch eine andere Welt? Gottverdammt, reicht es nicht allmählich?" Sie hatte es beinahe geschrien, so sehr war ihr der Schock in die Glieder gefahren

Magnus betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene.

„Wo soll dieses Imperium Nigrum sein? Geht man da durch eine Tür im Kolosseum in Rom?"

„Das musst du nicht wissen, mein Schätzchen. Dank dir wird Korbinian nun endlich die Macht erhalten, die ihm seit Menschengedenken zusteht! Männer, packt sie!"

Bevor sie über diesen Wahnsinn weiter nachsinnen konnte, wurde sie schon von den Scuros, dienstbeflissen und stumm wie Lakaien in einem Schwarz-Weiß-Film, grob gepackt und hinter den Käfig gezerrt.

Zu sechst hielten sie sie fest, als sie ihre Handgelenke mit schwarzen, lederähnlichen Bändern auf der Rückseite des Käfigs an das Gestänge banden. Es waren dieselben Bänder, mit denen auch der Phönix an die Gitterstäbe gefesselt war. Sie kannte diese Gewebeart nicht, es schien weder aus Kunststoff noch aus Leder zu sein. Diese Irren hatten wohl immer noch Angst, dass sie Lichtblitze schleudern würde. Womit sie nicht ganz Unrecht hatten. Sie würde hier alles in Schutt und Asche legen, wenn sie könnte.

Die Scuros hatten sich im Halbkreis um den Käfig aufgestellt. Mit geduldigen Mienen warteten sie nun wohl darauf, dass sich ihr verqueres, metaphysisches Weltbild bald in Form eines Dunkelvogels offenbaren würde.

Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von Phoe entfernt. Es müsste doch möglich sein, diese Bänder mit einem gezielten Lichtblitz zu durchtrennen!, überlegte sie. Allerdings könnte sie sich dabei selbst verletzen, worauf sie nicht sehr erpicht war. Einen Versuch ist es wert, dachte sie, schloss die Augen und konzentrierte sich.

Dann öffnete sie sie wieder. Sie schaffte es nicht. Genauso gut könnte sie sich selbst ein Messer in die Hand rammen.

Vor ihr bewegten sich Phoes seidenweiche, goldene Federn sachte bei jedem Lufthauch. Seine Nähe half ihr, nicht aufzugeben. Nie hatte sie sich dem Feuervogel verbundener gefühlt. Nie hatte sie sich wehrloser gefühlt.

„Onkel Magnus, muss sie wirklich an den Käfig gebunden sein? Wollten wir nicht nur den Phönix, um ihn ...?", war Lians zittrige Stimme von der anderen Seite des Käfigs aus zu hören. War er immer noch da?

Magnus winkte gelangweilt ab. „Gefesselt am Käfig ist sie am besten aufgehoben, so wird sie uns keine Scherereien machen", sagte er lapidar und fügte dann bestimmend hinzu. „Wir wollen für Korbinian Ankunft kein Risiko eingehen. Er wäre überaus verstimmt, sollte er hier ein Fiasko wie vorher am Lichtschacht erleben."

„Aber der Käfig ist für Phönixe konstruiert! Wir haben noch nie Menschen daran festgemacht. Wir wissen nicht, was passieren wird ...", versuchte es Lian noch einmal.

„Das fällt nicht in deinen Kompetenzbereich, mein lieber Neffe", sagte Magnus mit schneidender Stimme.

Lian verstummte. Er stand da wie ein geprügelter Hund. Hatte er sich die Sache anders vorgestellt? Durch die Gitterstäbe des Käfigs hindurch starrte sie ihn an und hoffte, ihr angeketteter Körper war ihm Vorwurf genug. Sie durchbohrte ihn mit Blicken, stumm und anklagend. Sollte er doch sehen, wie sehr sie ihn verachtete für das, was er getan hatte. Wie er da an der offenen Tür des Käfigs stand, die Lippen zusammengepresst und mit verschleiertem Blick! Moment, waren das etwa Tränen? Weinte er? Sie verdrängte den kurzen Moment Empathie, der in ihr aufgestiegen war. Schließlich geschah es ihm Recht.

Ihre Wut auf ihn half ihr, die Nerven zu bewahren und nicht selbst weinend zusammenzubrechen. Wobei dies, angebunden wie sie war, auch schwer möglich war.

Sie gab keinen Laut mehr von sich. Es brachte nichts, außerdem wollte sie Phoe nicht noch mehr erschrecken. Der Vogel war in eine Art Schockstarre verfallen und genau wie sie verstummt. Imperium Nigrum, ratterte es in ihrem Hirn. Was zum Henker, sollte das sein?


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