Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

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(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 15

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By Cliffhouse

„Jetzt noch die gerösteten Haselnusssplitter dazu, die Kugeln in den Kokosflocken rollen - und fertig sind die leckersten Dattel-Energy-Balls, die es gibt!", rief Joella begeistert. Seit zwanzig Minuten stand sie schon in Kiras Küche und hantierte mit Rührschüsseln, Mixer und verschiedenen duftenden Ingredienzien.

Kira saß am Tisch und atmete genießerisch den Geruch von Honig und gerösteten Nüssen ein. „Das riecht echt himmlisch!", sagte sie anerkennend.

„Es wird auch himmlisch schmecken, wirst du gleich sehen! Schließlich ist das eins meiner persönlich kreierten Number-One-Rezepte!" Joella strahlte über beide Backen.

Kira legte die Dattelkugeln in eine eigens dafür ausgesuchte, hübsche Dose und rieb dann gedankenverloren die Hände aneinander. Als ihre Freundin vor ein paar Monaten erklärt hatte, dass sie ab sofort Veganerin sei und sich nur noch pflanzlich ernähren wollte, hatte sie erst milde gelächelt, es dann als vorübergehende Laune abgetan, um später dann erstaunt Joellas Vorträgen zu lauschen. Joella hatte sich in die pflanzliche Ernährung vertieft, als studiere sie Ernährungswissenschaften und nicht Kunstgeschichte. Sie war begeistert von ihrem Steckenpferd. Jede Menge Bücher hatte sie zum Thema gelesen. Seither wollte sie ihr ständig beweisen, dass rein pflanzliche Gerichte nicht nur aus seltsamen, undefinierbaren Bohnengerichten bestanden, sondern es haufenweise bücherfüllende, leckere Rezepte gab, die dazu noch gesund waren. Kira hörte sich lange Vorträge über Mikronährstoffe, tierisches Eiweiß und Methan in der Atmosphäre an und merkte immer mehr, dass sie eigentlich über die vegane Ernährungsweise kaum etwas gewusst, sondern nur jede Menge Vorurteile gehabt hatte, die sich als unbegründet herausstellten.

„Was hast du denn?", fragte Joella auf einmal. „Du reibst seit mindestens fünf Minuten deine Finger aneinander, als würdest du damit ein Feuer entfachen wollen!"

Kira sah auf. „Oh. Manchmal ist es mir gar nicht bewusst. Ich habe auf einmal wieder dieses Prickeln in den Fingern ... oh Gott."

„Wieso oh Gott? Ich dachte, du hättest es nicht mehr?"

„Das ist es ja. Ich hatte es nicht mehr. Wenn ich es jetzt wieder spüre, kann das nur eins bedeuten: der Phönix muss in der Nähe sein! Die Frage ist: will ich das oder will ich das lieber nicht?"

„Hattest du nicht gesagt, das Prickeln kommt und geht? Also geht es logischerweise auch wieder!" Grinsend sah Joella sie an. „Oder es ist Lian daran schuld", fügte sie lapidar hinzu. „Du bist so verliebt, dass es bei dir einfach überall prickelt!"

Als Lians Name fiel, stieß Kira hörbar die Luft aus.

„Aha. Hab ich ins Schwarze getroffen?!"

Kira horchte in sich hinein. War es so? War sie verliebt, hundertprozentig, Hals über Kopf und mit ganzem Herzen? Oder war das Schwarze, von dem Joella sprach, nur Grau? Vielleicht pendelten ihre Gefühle ja auch gerade zwischen Nebelgrau und Anthrazitgrau. Wenn sie ehrlich war, konnte sie es selbst nicht so genau sagen.

„„Ach ... ich weiß nicht ...", begann sie vorsichtig, nach Worten suchend. „Ich weiß nur, dass ich ständig an ihn denken muss. Und dass ich ihn mag. Er ist blitzgescheit, er ist witzig, er ist frech, er ist selbstbewusst, und dann doch wieder manchmal auf charmante Art plötzlich schüchtern."

„So viel?", fragte Joella lächelnd.

Kira lachte. „Ja, vielleicht sogar noch etwas mehr", gab sie zu.

Joella hob jubelnd die Arme und drehte sich einmal um sich selbst. „Uuuh, ich wusste es!", rief sie. Es war ja auch an der Zeit! Ich habe schon gedacht, du würdest zum Verlieben immer nur die Schaltjahre nehmen!" Breit lächelnd ging sie zum Esstisch und schob sich eine Dattel-Energy-Kugel in den Mund. „Göttlich!", sagte sie und Kira war sich nicht sicher, was genau sie jetzt meinte.

„Hm, nur weiß ich nicht so, ob Lian dasselbe für mich empfindet", sagte sie leise. „Weißt du, er ist so zurückhaltend ..." Insgeheim erhoffte sie sich einen Rat von Joella. Die aber rief nur: „Ha, das ist das Los aller Neu-Verliebten. Immer dieselbe Frage. Fühlt er, was ich fühle? Will er, was ich will? Willkommen im Club ..." Sie zuckte die Achseln und schob eine zweite Dattelkugel in den Mund.

Es war nur ein kleiner Trost. Irgendwie gab es so viele Zweifel in ihr. Sie fragte sich, ob es anderen auch so ging. War nur sie es, die sich bei jedem von Lians Worten den Kopf zerbrach, die ständig träumend auf seine Hand in ihrer und einen Kuss wartete? Natürlich wusste sie, dass Lian ihre gemeinsamen Momente mochte, das auf jeden Fall, und immer wieder, wenn sein Blick nachdenklich auf ihr lag und ihr ganz warm vor Glück wurde, hatte sie auch das sichere Gefühl, dass er sie ... ja, ... mochte. Doch im nächsten Augenblick waren da wieder Momente, in denen er verschlossen und unnahbar wirkte und sie nicht verstand, was in ihm vorging. Seine seltsamen Sätze, sein zeitweiliges merkwürdiges Verhalten, - sie fragte sich ständig, woran es liegen mochte.

Zum Beispiel schrak er jedes Mal auf, wenn irgendwo eine Tür ging, und dann irrlichterten seine Augen im Raum umher, um festzustellen, wer da gerade eingetreten war. Wenn sie draußen unterwegs waren, ging sein Blick oft wie suchend nach oben, dabei interessierte er sich, wie sie wusste, weder für Flugzeuge noch für Vögel.

Immer wieder kam es vor, dass seine Verschlossenheit ihr einen Stich versetzte. Außerdem machte es sie wütend. So gerne hätte sie ihm geholfen, so gerne hätte sie gewusst, was ihn plagte. Doch sie wusste, dass es nichts brachte, nachzufragen. Er war stur wie ein Esel.

So hatte er seine Geheimnisse und sie ihre. Immer wieder fühlte sie sich versucht, ihm von dem Phönix und ihrem verflixten Bodyguard zu erzählen und davon, dass sie einerseits hoffte, einen Schlussstrich unter den Vogel und die mit ihm verbundene Verantwortung ziehen zu können, andererseits aber auch die Befürchtung hatte, dass er nie mehr auftauchen würde und sie Albiel deshalb für eine sehr lange Zeit noch als Schatten hinter sich hatte.

„Und dein Bodyguard?", fragte Joella da, als hätten sie eine gedankliche Beste-Freundinnen-Verbindung. „Wie lange willst du den noch aushalten? Du könntest ihn doch als Stalker bei der Polizei melden! Dann würden sie ihn aus dem Verkehr ziehen ..."

Kira zögerte. „Simeon hält große Stücke auf ihn, - warum auch immer. Immerhin hat er mich am Flughafen vor diesem Typ beschützt."

Im selben Moment schraken sie durch ein dumpfes Geräusch am Dachfenster auf.
*
Er fand eine Parklücke, von der aus er direkten Blick zum Eingang der Martinsanlage hatte. Zehn Minuten später kam Kiras Freundin auf einem grünorange angemalten Fahrrad angeradelt. Sie stellte ihr es bei den überdachten Fahrradständern ab und verschwand dann im Gebäude. Beruhigt zog er eine Sonnenbrille und die Zeitung vom Vortag heraus und begann mit der Observation. Die Zeitungsblätter auf dem Lenkrad ausgebreitet, musste er von außen wie ein sich langweilender Ehegatte wirken, der auf seine Frau wartete, die gerade beim Frisör war oder ihren Gymnastikkurs hatte. Der Nachmittag verging, zäh und träge, doch außer ein paar jugendlich wirkenden Studenten sah er niemanden eintreten. Alles war gut. Nichtsdestotrotz unterdrückte er hin und wieder sein Bedürfnis, hochzugehen, um sich zu vergewissern, dass es den Mädchen gutging. Doch Kira hatte ihm erst gerade sehr direkt klargemacht, dass sie seine ständige Wachsamkeit satt hatte ... Also würde er sie aus dem Verborgenen beschatten und die beiden jetzt in Ruhe da oben ihren Tee trinken lassen, verdammt nochmal!
Das langgezogene Dach des Wohnheims war von seinem Standpunkt aus nicht zu sehen und als Joella abends aus der Tür trat, fuhr er mit dem Gefühl, dass ein ereignisloser Nachmittag vergangen und alles in Ordnung war, zum Hotel zurück.
*

„Was war das jetzt?" Entgeistert sah Kira sah zu Joella hinüber. Die war blitzschnell aufgesprungen, und stand jetzt sichtlich angespannt unter dem Dachfenster und schaute nach oben. Mit zittrigem Finger wies sie hinauf

„Äh, ich glaube, da ist ...", sagte sie und ihre Stimme klang belegt, „... ein Vogel, äh ... also, wahrscheinlich ... dein Phönix ... draußen auf dem Dach." Langsam drehte sie sich zu Kira um und ließ dann ihren Arm sinken.

„Was?" Ein entsetztes Stöhnen entwich Kira. Noch ehe sie Joellas Satz ganz verarbeitet hatte, war sie schon aufgesprungen, stand nun neben ihrer Freundin und starrte mit aufgerissenen Augen nach oben.

Draußen auf dem leicht geneigten Dach, knapp über ihren Köpfen, lag mit kraftlos nach unten hängenden, pitschnassen Flügeln der Feuervogel. Sein Gefieder war zerzaust, der Kopf mit dem langen, schmalen Schnabel auf das Fensterglas des Dachfensters gesunken. Er lag dort regungslos, mit geschlossenen Augen.

„Oh Gott", entfuhr es Joella. „Lebt er noch?"

„Das will ich doch schwer hoffen", japste Kira und versuchte, das nervöse Flattern in ihrem Magen auszublenden. Es gelang ihr nicht. Hilfesuchend packte sie Joellas Schulter. „Ich will keinen sterbenden Phönix auf dem Dach!", krächzte sie, schluckte und setzte kläglich hinzu: „Ich will aber auch nicht schuld daran sein, wenn er stirbt."

Benommen sah sie zu, wie Joella sich hektisch im Zimmer umsah, als gäbe es dort jemanden, der das Problem regeln könnte. Dann blieb der Blick ihrer Freundin auf ihr liegen.

„Warum guckst du mich so komisch an?" Das dumpfe Unwohlsein in ihr verstärkte sich.

„Hilf mir, ihn da runterzuholen, Kira! Wenn du mir deine Fingernägel in die Schulter krallst, bringt das nichts!" Schon war Joella im Begriff, das Dachfenster vorsichtig ein Stück nach oben zu stemmen. Es war ein altes Fenster und bei dem knarzenden Geräusch hatten sich die Augen des Feuervogels schreckgeweitet geöffnet. Instinktiv zog er seinen Kopf zurück. Zu mehr war er ganz offensichtlich nicht fähig.

„Immerhin ein Lebenszeichen von ihm", rief ihre Freundin. „Jetzt komm schon, los, hilf mir! Ich schaffe das nicht allein!"

„Verdammt, verdammt, verdammt, ich will das nicht!" In wilder Hast und mit einem Ansatz von Panik, die auf dem besten Weg war, bald in Hysterie umzuschlagen, zerrte Kira einen Stuhl über den Dielenboden und platzierte ihn polternd unter dem Dachfenster.

„Pass doch auf! Nicht dass er Angst kriegt!" Joella stand immer noch da, reckte die Arme nach oben und hielt das Fenster auf. „Jetzt steige schon auf den verdammten Stuhl!", rief sie befehlerisch.

Kiras Puls raste. „Ich soll ihn da runterholen?", entfuhr es Kira. „Das kann ich nicht! Ich habe eine Vogelphobie!" Ihre Stimme hörte sich an wie ein Piepsen.

„Natürlich kannst du! Oder siehst du sonst jemanden, der es machen könnte? Nein. Also MACH schon, ich kann das Fenster ja nicht ewig aufhalten!"

Unter Aufbietung all ihrer Kräfte und mit zusammengebissenen Zähnen zwang sich Kira, auf den Stuhl zu steigen. Der Stuhl war wacklig, zudem stand sie dort auf Augenhöhe mit dem Phönix, beziehungsweise mit diesem Vogel, der irgendwann einmal ausgesehen hatte wie der Phönix. Das hier sah eher aus wie die gelbbraune Nachbildung eines gestrandeten Wischmopps. Ihr war schwindelig. Wenn ich jetzt ohnmächtig vom Stuhl falle, ist uns auch nicht geholfen, dachte sie mit einem letzten Rest Trotz. Neben ihr drängelte Joella. Ihre Stimme drang mit dem Nachdruck einer Sirene nur allmählich zu ihr durch: „Anstarren hilft nicht, jetzt ist gezielte Aktion gefragt! Kira, beweg dich!"

Kiras Hände verkrampften sich, dann begann sie mit hölzernen Bewegungen den Anweisungen zu folgen, die Joella jetzt mit dem Maulwerk eines verrückt gewordenen Feldwebels von sich gab. „Schieb die Hand unter seinen Bauch, los, mach schon, zieh ihn zu dir, ganz langsam, ja so. Und jetzt leg die andere an seinen Kopf, stütze ihn. Heb ihn ganz vorsichtig runter! Sachte!"

„Aaaargl", röchelte Kira, als sie den schlaffen Vogelkörper vom Dach zog, sich die schmutzigen, zerzausten Federn mit dem Lufthauch bewegten und sie wusste, dass sie ihn jetzt an sich ziehen musste. Ihr brach der Schweiß aus. „Ich kann das nicht!", presste sie noch einmal hervor. Das Gefühl der Panik drohte sie zu überwältigen.

„Doch. Kannst du." Das kam wieder von Joella. Patzig hatte es geklungen. Und keinen Widerspruch duldend. „Nimm ihn, steig vom Stuhl, langsam, leg ihn auf den Boden!"

Gehorsam gab Kiras Gehirn Joellas Befehle weiter und mit der Stimme ihres Feldwebels im Nacken begann sie dessen Anweisungen auszuführen, nicht perfekt oder besonders effizient, sondern eher so wie eine unbeholfene Marionette.

Später wusste sie nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, aber irgendwie war es ihr wohl gelungen. Trotz ihrer wackelweichen Knie, dem ebenso wackeligen Stuhl und dem Gefühl, sich vor Überforderung gleich übergeben zu müssen. Als sie mit dem schmutzigen Federvogel in den Armen und butterweichen Knien endlich auf dem Dielenboden stand, sah sie aus dem Augenwinkel, wie ihre Freundin langsam das Fenster nach unten zog.

Schwer atmend ließ sie sich auf den Stuhl fallen, auf dem sie eben noch gestanden hatte. Sie war mindestens so erschöpft wie der Vogel, der am Boden vor ihr lag. „Oh Gott!", stöhnte sie. Alles in ihr fühlte sich schwach und zittrig an. Ihre Hände prickelten mit einer Intensität, als hätte sie in zehn Ameisenhaufen gefasst. Prickling-pickling-back-again, dachte sie resigniert und fragte sich abwesend, ob dieser Spruch von einer Essiggurkenwerbung stammte, die sie irgendwo irgendwann einmal gelesen hatte.

Da lag der Feuervogel jetzt, auf dem dicken Teppich von Ikea. Sein schmutzstarrendes Brustgefieder hob und senkte sich schwach in regelmäßigem Rhythmus. Alles in allem sah er nur noch halbwegs lebendig aus. Und überhaupt nicht so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. „Mach ihn da weg, ich will ihn nicht in meinem Zimmer haben!", krächzte sie.

Joella hatte sich zu dem Phönix hingekauert und betrachtete ihn voller Anteilnahme. „Der Arme, er sieht in etwa so erledigt aus wie ich nach einem Tausendmeterlauf", sagte sie leise und ohne im Geringsten auf Kiras Bemerkung einzugehen.

„Nur dass er mindestens tausend Kilometer hinter sich hat ... Das ist das Tausendfache deines läppischen Laufs", warf Kira halblaut von hinten ein.

„Was ich vor allem erstaunlich finde, ist dass er dich gefunden hat! Schließlich hatte er kein eingebautes Navi, das ihm gesagt hat „In 50 Kilometern rechts abbiegen, Zielperson ist noch 264 Kilometer entfernt"!"

„Das stimmt allerdings."

Joella drehte sich kurz zu ihr um. „Glaubst du, er ist wirklich die ganze Strecke geflogen?"

„Muss wohl so sein", brummte Kira. „Wenn er nicht gerade marschiert oder per Anhalter bei einem Flugzeug mitgeflogen ist ..."

„Armer Vogel!" Joella streckte mitfühlend eine Hand nach dem Feuervogel aus."

„Pass auf, der arme Vogel könnte gleich nach dir hacken!"

„Hast du gesehen, in welchem Zustand er ist?", ereiferte sich Joella. „Er würde es ja nicht mal schaffen, nach einer vorbeifliegenden Mücke zu schnappen!" Ganz sanft strich sie dem Phönix mit einem Finger über die flaumigen Federn am Kopf.

„Vielleicht lohnt es sich bei einer Mücke nicht für ihn. Hinsichtlich der Eiweißmenge wäre da dein Finger schon lohnender."

„Ach, Unsinn!" Joella machte eine wegwerfende Handbewegung, die Kira als offenkundiges Zeichen dafür nahm, dass ihre Freundin ihren Kommentar nicht ganz ernst nahm.

„Auch wenn er pitschnass ist und seine Federn sicher schon einmal in besserem Zustand waren, finde ich ihn wunderschön", sagte Joella ganz vertieft und fügte nachdenklich hinzu: „Ich habe es ja nicht ganz geglaubt, aber er ist echt golden. Armer Vogel, er besteht ja nur noch aus Haut und Knochen!"

„Jetzt mal langsam, ein paar Federn hat er auch noch."

„Kannst du jetzt mal deine flapsigen Bemerkungen lassen? Komm her, er tut dir nichts!"

Kira rührte sich nicht. „Danke, aber ich bleibe lieber, wo ich bin."

*

Erst gegen Abend, als es draußen zu dämmern begann, schien der Phönix ganz allmählich aus seinem Koma aufzutauchen. Er wandte vorsichtig den Kopf hierhin und dahin und bewegte kraftlos seine Flügel.

Joella streckte ihm Sonnenblumenkerne auf der offenen Hand hin, doch er verhielt sich ängstlich und zuckte vor ihr zurück. Er drehte den Hals nach Kira und sah ganz so aus, als interessiere er sich für sie, was umso merkwürdiger schien, als diese sich immer noch schutzsuchend hinter ihrer Freundin versteckte.

„Ich glaube, er gibt tatsächlich dir den Vorzug", sagte Joella verständnislos und hielt Kira, die ihr vorsichtig über die Schulte lugte, auffordernd die Tüte mit den Sonnenblumenkernen hin.

„Keine Chance!" Kira schüttelte entschieden den Kopf. „Eher streichle ich einen Elefanten! Glaubst du übrigens, er hat Flöhe?"

„Und wenn schon! Lieber habe ich hier einen Vogel mit fiesen Flöhen als einen Fiesling mit lärmendem Grölen!"

„Woher hast du diesen Spruch? Ich weiß ja echt nicht, wer hier einen Vogel hat!", seufzte Kira.

Schlussendlich stellten sie das Schälchen mit den Sonnenblumenkernen, den Haferflocken und einem Rest gehackter Nüsse vor dem Phönix auf den Boden, gaben noch ein Wasserschälchen dazu und schauten dann zu, wie er endlich ganz allmählich anfing, zaghaft ein paar Kerne aufzupicken.

Kira behielt den Feuervogel fortlaufend im Auge, sah zu, wie er immer wieder zu ihr hinüber linste und nach ein paar Krümeln gleich wieder entkräftet den Kopf sinken ließ, und wagte sich dann ein paar Zentimeter näher an ihn heran. Ihre Gefühle pendelten zwischen heillosem Schrecken, Ratlosigkeit und einer winzigen Spur Neugier.

Seine Federn waren schon etwas getrocknet und Im Großen und Ganzen sah er wieder mehr aus wie ein Vogel und nicht mehr wie ein durchgeschütteltes Federkissen. Er wurde zusehends munterer und schaffte es alsbald, sich aus eigener Kraft auf die Beine zu stellen und ein paar ungelenke Schritte zu machen.

„Er läuft! Er läuft!", jubelte Joella begeistert.

„Reg dich ab, er ist kein Kleinkind, das seine ersten Schritte macht!", murmelte Kira.

Als der Feuervogel dann begann, auf unsicher langen Beinen in ihre Richtung zu staksen, wich sie zurück. „Stopp, Vogel, bleib stehen!", rief sie in leicht panischem Tonfall.

„Dich muss als Baby irgendwann mal ein Vogel attackiert haben", meinte Joella kopfschüttelnd und versuchte, den Feuervogel mit Sonnenblumenkernen auf ihrer ausgestreckten Hand zu sich zu locken. Der jedoch machte nur zwei weitere wacklige Schritte auf Kira zu und ließ sich dann zu ihren Füßen nieder.

Joella schob die Unterlippe vor. „Hey, Phönix, da werde ich ja direkt eifersüchtig. Du hast da etwas nicht begriffen. Kira mag dich nicht, sie schafft es ja nicht einmal, dir zu fressen zu geben."

Kira brummte etwas Unverständliches.

„Was hast du gesagt?", fragte Joella zuckersüß.

Als Antwort ließ Kira nur ein widerwilliges Grunzen hören und warf dem Phönix ein paar Kerne hin.

„Das zählt nicht."

„Du bist echt nervig!" Kira kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, starrte Joella bitterböse an und machte ein paar Schritte auf den Feuervogel zu. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ihr Mund war plötzlich trocken. Im Zeitlupentempo streckte sie die Hand aus und hielt dem Feuervogel auf der offenen Handfläche ein paar Kerne hin. Ohne zu zögern pickte dieser die Kerne auf. Selbst überrascht, dass ihr nichts passiert war, blickte sich Kira beifallheischend zu Joella um. Eine Welle von Zufriedenheit durchströmte sie.

Ihre Freundin applaudierte leise. „Oha, er frisst dir ja wortwörtlich aus der Hand!"

„Wem musst du jetzt applaudieren, na?", sagte Kira mit einem gänzlich unbescheidenen, breiten Grinsen. „Wer ist hier ein Star? Er oder ich?", posaunte sie fröhlich heraus.

„Er."

Kira zog eine Grimasse. „Hast du eine Ahnung! Du weißt gar nicht, wie schwer das gerade war!"

Joella verdrehte die Augen. „So schlimm wird es nicht gewesen sein. Aber glaubst du mir jetzt, dass er kein fleischfressender Velociraptor ist?"

„Ich gebe zu, dass ich vermutlich dazu neige, ihm gegenüber etwas impulsiv zu reagieren."

„Impulsiv? Hysterisch passt besser, würde ich sagen!"

„Mensch, ich hatte halt noch nie einen Phönix!"

Der Phönix stolzierte mittlerweile wie eine etwas kleinere Ausführung eines Storches im Zimmer herum, pickte hier an den Fransen des Teppichs und dort am schwarzen Kabel der Stehlampe, um schließlich unter dem Dachfenster stehenzubleiben und seine Flügel auszubreiten, als wolle er sie zum Trocknen an die Leine hängen.

Kira beäugte ihn argwöhnisch. „Er wird jetzt nicht anfangen, hier herumzufliegen, oder?"

„Reg dich ab, das wäre kein Weltuntergang. Überleg dir lieber mal, wo er hier heute übernachten soll. Wir könnten ihm ja aus deiner Bettdecke eine Art Nest bauen!"

Kira stieß einen entsetzten Schrei aus. Dann atmete sie tief ein. „Ich weiß, dass du das absichtlich machst, aber allein die Vorstellung ist schreckenerregend!"

Joella hatte sich hingekniet und war schon dabei, die Kommode nach einem alten Bettlaken zu durchsuchen. „Das haben wir gleich", brummelte sie vor sich hin. Triumphierend zog sie dann ein geblümtes Laken heraus und hielt es hoch. „Das müsste gehen. Mit den kleinen Blümchen darauf wird er sich wie auf einer Blumenwiese fühlen!"

Kira ließ ein Stöhnen hören. „Eine Blumenwiese für den Phönix, okay ... Dann hoffen wir mal, dass er auf deiner Blumenwiese tief und fest schläft heute Nacht! Wenn er hier nachts nämlich wie ein Hamster herumraschelt, tue ich kein Auge zu."

„Darf ich dich daran erinnern, dass dein Pönix tausend Kilometer überwunden hat, - einzig und allein um dich zu sehen!? Und du denkst nur an deinen heiligen Schlaf ..."

Sie seufzte. „Wenn du das sagst, hört es sich an, als sei ich unverhältnismäßig egoistisch ..."

„Hm, nun ja ..."

„Eigentlich hat es ja auch etwas Positives, dass er jetzt da ist. Denn morgen früh kann ich gleich zur Grünen Oase gehen, Albiel eine Nachricht hinterlassen und er kann ihn dann direkt nach Italien liefern."

„Da, schon wieder! Du tust so, als könne man den Feuervogel einfach als Paket verschnüren und verschicken! Er ist ein L-e-b-e-w-e-s-e-n, er hat G-e-f-ü-h-l-e!" Joella verschränkte die Arme und schaute sie empört an.

Kira zog die Nase kraus. Verlegen fuhr sie sich durch die Haare. „Ich bin schon auch froh, dass es dem Phönix gut geht. Ich bin ja kein Unmensch", sagte sie schließlich. „Aber weißt du, es ist ja nicht nur, dass Vögel nicht gerade zu meinen Lieblingen gehören. Mein Leben wurde durch den Phönix ganz schön eingeschränkt ...!" Nervös trat sie von einem Bein auf das andere. Joellas Vorwürfe trafen sie. Sie gab sich ja wirklich Mühe, dem Feuervogel gegenüber etwas weniger abweisend zu sein. Nur konnte sie nicht leugnen, dass ein gewisses Unbehagen blieb. Wenn sie ganz ehrlich war, erschreckte sie jede Bewegung des Vogels, jedes Flügelschlagen ließ sie zusammenzucken und der Klang seiner Krallen auf dem hellen Laminat bescherte ihr eine Gänsehaut. Nichtsdestotrotz fand sie ihn mit der Zeit tatsächlich etwas weniger abschreckend. Der langbeinige, zerzauste Vogel hatte etwas irgendwie nett Unbeholfenes, und Kira merkte, wie sie begann, ihn auf noch recht diffuse Weise sympathisch zu finden. Und dicke Freunde mussten sie ja wohl nicht werden.

Joella hingegen hatte sich ganz offensichtlich in den Phönix verliebt. „Guck doch mal, wie goldig er ist, - und damit meine ich jetzt nicht nur die Farbe!", rief sie fröhlich. „Wie er den Kopf in die Federn steckt, weil er schlafen will. Sicher ist er hundemüde von seinem Flug."

„Ja, logisch, hundemüde ist er", grinste Kira, der Joellas unabsichtliche Widersprüchlichkeit nicht entgangen war. „Und morgen, wenn er aufwacht, ist er hoffentlich fit wie ein Turnschuh und kann direkt die Rückreise nach Italien antreten! Sie können im Doppelpack verreisen, mein Bodyguard und er. Das nenne ich eine ideale Zukunft!" Ein schwärmendes Lächeln spielte um ihre Lippen.

„Du bist und bleibst unmöglich!", seufzte Joella. „Aber ein bisschen kann ich dich verstehen. Zumindest, was den Bodyguard angeht."

Kira hatte sich dem schlafenden Phönix genähert und betrachtete ihn nachdenklich. „Ich gebe zu, wenn er schläft, sieht er eigentlich ganz nett aus", sagte sie. „Da ist dann, zumindest theoretisch, die Wahrscheinlichkeit geringer, dass er auffliegt und mich mit flatternden Federn und ausgefahrenen Krallen angreift. Trotzdem zweifle ich daran, dass ich heute Nacht schlafen kann. Mit ihm neben mir, ich weiß ja nicht ..."

Joella feixte. „Solltest du heute Nacht Angst kriegen, weil er ein paar Schritte macht, kannst du ja an die Wand klopfen. Ich komme dann und eile dir zu Hilfe, versprochen."

„Idiot!"
*
Mitten in der Nacht wachte Kira auf. Sie hatte ein Geräusch gehört. Ihre Hände prickelten intensiv.
Scheiße!, schoss es ihr noch im Halbschlaf durch den Kopf. Ich habe ja einen Phönix im Zimmer."

Schlaftrunken setzte sie sich im Bett auf. Der Mond schien zum Dachfenster herein und tauchte das Zimmer in ein warmgelbes Licht. So hell war es nachts selten in ihrem Zimmer. War schon wieder Vollmond? Sie war im Bett zurückgewichen und überlegte, ob sie entweder schreien oder Joella durch ein wildes Hämmern an die Wand zu Hilfe holen sollte. Als sie ihren Blick jedoch zum Schlafplatz des Phönix' richtete, wurde ihr klar, dass das Leuchten nicht vom Mond kam. Es war überhaupt kein Vollmond. Durch das Dachfenster fiel nur der fahle Schein der schmalen Mondsichel vor dem Fenster. Das Strahlen, stark und hell, kam einzig und allein von dem Phönix. Es ging ein so stilles, friedliches Leuchten von ihm aus, dass ihr weder Schreien noch An-die-Wand-Hämmern angebracht erschienen. Sehr wahrscheinlich würde der Vogel davon nur aufgescheucht werden und anfangen, kreischend herumzufliegen. No way, sagte sie sich, es stand fest, sie würde weder schreien noch klopfen.

Leise stand sie auf und tappte auf nackten Fußsohlen zu ihm hinüber. Der Phönix saß reglos, mit geschlossenen Augen und aufgefächerten Flügeln im Mondschein. Eine warmgoldene, phosphoreszierende Aura aus winzigen Sternchen umgab ihn. Die langen goldenen Schwanzfedern mit den seitlichen Federhaaren wippten sanft im Mondlicht. Licht floss über sein, am Vorabend noch so krunkeliges Gefieder, das jetzt glatt und golden schimmerte. Verschwunden war der erschöpfte, flügellahme Vogel mit dem stumpfen, glanzlosen Gefieder. Der Phönix war märchenhaft schön.

„Hey, du!", sagte sie mit verhaltener Stimme und näherte sich vorsichtig.

Er badet im Mondlicht!, dachte sie verzaubert, streckte langsam die Hand aus und ließ sie vorsichtig in den Strahlenkreis hineingleiten. Ihre Finger tauchten ein in die helle, sternenlichtgefüllte Kuppel und sie spürte ein Lichtergefunkel auf ihrer Haut, das, warm und prickelnd, eine Mischung aus Nachthimmel, Eulenruf und perlendem Sekt schien. Es war atemberaubend. „Das ist ja unglaublich!", hauchte sie und zog die Hand wieder heraus, um sie gleich ein weiteres Mal hineinzuschieben. Dasselbe Gefühl, dasselbe Erschauern. Es fühlte sich gut an. Dann war da auf einmal die Ahnung eines Gedankens, der Wunsch nach mehr und sie zögerte, obschon sich die Idee zusehens in ihr festsetzte. Sie wollte mehr von diesem Licht, sie wollte es spüren! Langsam atmete sie ein. Dann tat sie einen Schritt, schob die Arme hinein, drehte sich seitlich und glitt mit der Schulter voran in die in die warm strahlende Kuppel.

Dann war sie darin. Flirrendes Licht umgab sie. Völlig in Bann geschlagen streckte sie die Arme aus und drehte sich, wie verzaubert von dieser so greifbaren Lichterglanz-Magie. In ihrem Inneren fühlte sie deutlich, dass sie in eine neue, ihr unbekannte Welt eingetreten war, in die Welt des Feuervogels, in eine Welt von Magie und Zauber. Ihr Herz pochte hart gegen ihre Brust. Hier gab es eine Kraft, die stark war und die alle ihre Sinne gefangen nahm. Mit leichtem Zaudern richtete sie den Blick auf den Phönix, der in der Mitte der Kuppel am Boden saß. Er hatte immer noch die Augen geschlossen, seinen Kopf leicht zu ihr geneigt, fast wie schlafend. Sie betrachtete ihn neugierig.

Als er dann im selben Moment seine Bernsteinaugen öffnete und sie ansah, stellten sich ihr vor Ergriffenheit die Härchen an den Armen auf. Er schaute sie an, als würde er etwas in ihr kennen!

„Hallo Feuervogel!", flüsterte sie und ging vor ihm in die Hocke. Seine Augen lagen weiterhin auf ihr, ruhig und friedvoll, und die Federn an seiner Brust hoben und senkten sich sanft unter seinen Atemzügen. Er strahlte Frieden aus.

„Was bist du nur für ein seltsames Tier?", murmelte sie, hob dann zögernd die Hand und strich mit den Fingerkuppen langsam über sein Gefieder. Der Phönix hielt still. Er machte weder Miene, plötzlich zu picken oder zu schnappen noch ruckartig aufzufliegen. Kira spürte, wie ihr Herz ruhiger schlug. Seine Federn fühlten sich an wie Seide. Er schien die Berührung zu genießen, plusterte sich leicht auf, schüttelte seine Federn kurz auf und hielt dann wieder still. Glück durchrieselte sie.

In Gedanken versunken sah sie ihn an. „Wir sollten uns einen Namen für dich überlegen", sagte sie leise.

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