Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

3.3K 489 1K

(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 14

82 11 19
By Cliffhouse

Mammina liebte es, Gäste zu haben. Eine Anwesenheit derselben entzündete in ihr stets ein fröhlich-wirbelndes Dauerfeuer, und sie plauderte dann höchst vergnügt und über Stunden im dunklen Akzent ihrer sizilianischen Heimat, stellte charmant-interessierte Fragen und bot lächelnd Kaffee, Kekse und Kuchen an. So ähnlich war es auch, als sie Lian das erste Mal nach Hause brachte. Es war ähnlich, aber doch wieder auch ganz anders.

Fairerweise musste man sagen, dass es nur alle paar Schaltjahre mal vorkam, dass Kira männlichen Besuch mit nach Hause brachte. Deshalb wunderte es sie auch nicht, dass Mammina die Neugierde ins Gesicht geschrieben stand, als Lian mit ihr zur Haustür hereinschneite. Es war eine recht spontane Entscheidung gewesen, einfach weil das Haus ihrer Eltern als Ausgangsort für den Petrisberg, auf den sie laufen wollten, ideal lag. Kira hatte Mammina schon von ihm erzählt, nicht allzu viel, nur dass er an der gleichen Uni wie sie studierte und sie sich manchmal verabredeten und ihre Mutter hatte sie mit einem Blick bedacht, der ein so hohes Maß an Interesse zeigte, dass Kira direkt zu einem anderen Thema gewechselt hatte.

Wenn Sie gedacht hatte, dass sie an diesem Nachmittag nur ganz kurz in ihrem Elternhaus vorbeischauen könnte, um es Lian zu zeigen, hatte sie nicht mit der sizilianischen Beharrlichkeit ihrer Mutter gerechnet.

Das ganze Haus wurde vom unwiderstehlichen Duft der Apfeltaschen durchzogen, die Mammina gebacken hatte, und schlussendlich ließen sie sich von ihr breitschlagen und machten es sich draußen unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse gemütlich.

Lian blickte sich neugierig um, warf einen Blick auf den weitläufigen Garten mit dem kleinen Teich, dem Vogelhäuschen und der verschlissenen Hängematte unter der alten Weide und schien zu mögen, was er sah. Kurz meinte sie, einen Anflug von Traurigkeit in seinen Zügen zu lesen, dann war der Moment aber schon wieder vorbei und er fragte Mammina, die sich eine Weile zu ihnen setzte, grinsend, ob Kira als Kind hier im Garten alles umgegraben hatte.

„Schlimmer als ein Maulwurf war sie!", lachte Mammina. „Obwohl sie einen eigenen Sandkasten hatte, hatte sie, als sie neun Jahre alt war, die fixe Idee, dass unter meinem Gemüsegarten ein Schatz vergraben war. Ich musste höllisch aufpassen, dass sie meine Radieschen und die Salatköpfe leben ließ. Irgendwann hat sie eine Buddel-Ecke gekriegt und war zufrieden ... Auch wenn sie nur alte Glasscherben und hübsche Steinchen gefunden hat, war sie glücklich." Mamminas fröhliches, unbezwingliches Lachen klang durch den Garten.

Kira machte einen Schmollmund. „Zwar habe ich keine Münze gefunden wie im Garten von der Nonna, aber der alte Schuh vom Hausmeister und das Maulwurfgerippe waren auch sehr spannend!"

Lian sah interessiert auf. „Du hast eine alte Münze gefunden?"

Kira nickte stolz. „Ja, in Sizilien. Und zwar eine richtig alte! Ich hab' mich wie ein Schneekönig gefreut damals!"

Mammina gluckste. „Ein Schneekönig in Sizilien? Die deutsche Sprache ist lustig. In Sizilien freut man sich nicht wie ein Schneekönig. Da weiß man nicht mal, was das ist. Wir haben da andere Assoziationen! Du bist und bleibst ein Wirbelwind, mia cara. Eine Scirocco-Prinzessin, die schon immer wusste, was sie will."

„Ski-Rocko?", fragte Lian verständnislos.

„Der Scirocco ist ein Wüstenwind aus der Sahara, der zum Mittelmeer weht", erklärte ihm Kira. Aber Mammina übertreibt gern, ich bin weder Wind noch Prinzessin."

Lian hatte kurz einen Ausdruck in den Augen, als würde er widersprechen wollen und Kira hätte gerne gefragt, ob er den Wind oder die Prinzessin meinte. Aber Mammina schaute schon wieder so komisch, so dass sie lieber nichts sagte und noch einen Schluck von der frischen Aqua e Limone nahm.

Die Atmosphäre war locker und entspannt, hin und wieder flogen Schmetterlinge vom helllila blühenden Sommerflieder vorbei und Mammina begann von Sizilien zu erzählen.

Nichtsdestotrotz stellte Kira fest, dass in der überschwänglichen Gastlichkeit ihrer Mutter heute etwas Zurückhaltend-Behutsames lag und es in ihren Augen immer wieder argusäugig aufflackerte. Sie merkte, wie Mammina ihre mütterlichen Tentakeln über Lian gleiten ließ, als sie ihn nach seinem Studium und seinem Berufswunsch fragte. Es war, als spüre sie, dass da mehr als bloße Freundschaft zwischen ihm und ihrer Tochter war. Wahrscheinlich würde sie gerne auch noch seine inneren Werte und Überzeugungen in Augenschein nehmen, durchzuckte es Kira, die sich von ihrer Mutter zunehmend beobachtet fühlte. Mamminas Einbildungskraft konnte manchmal so überreizt sein wie die einer vor einem Mauseloch liegenden Katze, das wusste sie. In Pompeji hatte sie absurde Ängste um sie ausgestanden – und jetzt überlegte sie wahrscheinlich, ob Lian Verbindungen zur Mafia oder aber ein Serienmörder oder beides war. Kira fragte sich ob Joellas Mutter wohl auch so reagierte, wenn sie Jungs mit nach Hause brachte. Sie konnte es sich nicht vorstellen.

„Wir müssen jetzt wirklich los", sagte sie deshalb nach einer Weile ungestüm und stand auf. Lian folgte ihr bereitwillig. Sie würde ihn später fragen, ob er die Fragen ihrer Mutter als sehr nervig empfunden hatte.

„Wollt ihr vielleicht noch ein paar Apfeltaschen mitnehmen? Lian kann sie mit mir zusammen in der Küche einpacken, das ist schnell gerichtet!", flötete Mammina, und Lian warf Kira einen etwas überforderten Blick zu.

Grazie, Mammina, aber wir haben uns schon dumm und dusselig daran gegessen!" Kira lachte, verspürte jedoch auch einen Anflug von Ungeduld. Mammina war unmöglich! Merkte sie nicht, dass sei es mit ihrer herzlichen Leutseligkeit etwas übertrieb und sie loswollten?

Der Petrisberg lag östlich der Stadt. Die Sonne strahlte warm von einem blassblauen Himmel, an dem hübsche kleine Schleierwölkchen wie gemalt hingen, als sie den Fußweg hinaufliefen, der sich zwischen Weinbergen und Schafweiden den grünen Hügel hinaufschlängelte. Der milde Duft von Ginster und gemähtem Gras lag in der Luft. Sie ließen das Amphitheater hinter sich und liefen scherzend und lachend immer weiter bergan.

„Mit welcher markanten Eigenschaft würdest du deine Mutter beschreiben, wenn du nur eine einzige nennen dürftest?", fragte Lian mit einem Augenzwinkern.

„Puh ... was stellst du eigentlich für verflixt schwierige Fragen?", entgegnete Kira. Auch wenn sie sich beschwerte – genau genommen liebte sie solcherlei Fragen.

„Wahrscheinlich Neugier, würde ich sagen", grinste sie.

„Dann hast du das Forschenwollen vielleicht von ihr, oder?"

„Hm, keine Ahnung, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Mammina erforscht eher die menschliche Psyche, glaube ich."

Lian kräuselte die Nase. „Ups, dann hoffe ich mal, dass ich den Test bestanden habe", brummte er.

„Und mit welcher signifikanter Eigenschaft würdest du mich bezeichnen?", fragte Kira mit einem verschmitzten Seitenblick.

„Ich schaffe es nicht, dich auf eine einzige runterzuschrauben. Aber ich glaube, ich sehe dich in etwa so wie deine Mutter dich sieht." Ein verschmitzter Blick traf sie.

Enttäuscht sah Kira ihn an.

„Du bist eine Scirocco-Prinzessin: hübsch, quirlig und sehr zielstrebig. Ein heißer Feger, wenn man es mit den Worten des Windes beschreiben will." Er schaute sie mit einem Blick an, in dem außer Schalk auch die Unsicherheit stand, ob sie diese Formulierung guthieß.

Sie konnte nicht anders, lachte fröhlich und wies auf ihn. „Was bist du dann? Der Wüstenprinz, der Scheherazade rettet?"

Je höher sie stiegen, desto leichter und munterer wurde ihr Gespräch. Sie hätte stundenlang so laufen können, in dieser schönen, vertrauten Landschaft und neben diesem Jungen, den sie immer mehr mochte.

Der Aussichtspunkt lag mitten in den Weinbergen und sie liefen, bis sie den allgemeinen Trubel und kleinere Gruppen von Touristen hinter sich gelassen hatten und setzten sich oberhalb eines Weinbergs auf die steinerne Brüstung. Unbekümmert ließen sie die Beine baumeln und sahen hinunter.

Man hatte einen tollen Blick von hier oben auf die Stadt, hinter sich das blaue Band der Mosel durchs Tal windete.

Direkt unter ihnen lag tief unten das Amphitheater. Es wirkte von hier aus winzig. Mit dem mittigen grünen Rasen in der Mitte erinnerte es Kira an das Pappmaché-Modell, das sie einmal davon in der Grundschule gebastelt hatte.

Sie machten sich einen Spaß daraus, die bekannten Monumente von Trier zu finden und zu benennen.

Der von Konstantin dem Großen erbaute Petersdom mit seinen hochaufragenden, spitz zulaufenden Turmdächern war am leichtesten zu entdecken. Er ragte majestätisch aus den anderen Gebäuden der Stadt heraus. Nicht weit weg davon konnten sie die Basilika, das Kurfürstliche Palais, das Landesmuseum und die Kaiserbäder lokalisieren. Nur die Porta Nigra war von hier aus nicht zu sehen.

„Schön!", sagte Lian.

Für einen Moment waren beide still. Die breite Mauer unter ihnen reflektierte die Wärme der Sonne, alles wirkte so friedlichl wie ein Postkartenidyll, und irgendwo war das Zirpen von Grillen zu hören.

Kira nahm unwillkürlich einen tiefen Atemzug, als könne sie die traumhaft-verschlafenen Atmosphäre des Nachmittags in sich aufsaugen. Den ganzen Weg über hatte sie sich Lian auf besondere Weise nahe gefühlt und die heitere, friedvolle Stimmung zwischen ihnen, als sie erzählend und lachend nach oben gestiegen waren, schwang auch jetzt noch warm und träge in ihr nach, mit diesem kleinen, sehnsuchtsvollen Glücksgefühl, jedes Mal wenn sie ihn ansah.

Sie saßen nebeneinander auf der Brüstung und sie war sich seiner Nähe auf verwirrende Art und Weise bewusst. Sein gebräunter schlanker Arm, mit dem er sich auf der Mauer abstützte, lag so dicht neben ihrem, dass die feinen Härchen an seinen Armen sie beinahe berührten und ihr Herz schlug flattrig und schnell. Hatte er sich absichtlich so dicht neben sie gesetzt? Bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz warm im Bauch. Sie hatte heute das helle Kleid mit den schmalen Trägern angezogen, das, dessen Rock sich leicht und luftig bauschte, wenn sie sich drehte und von dem Joella sagte, sie sehe darin wie eine Fee aus. Als sie sich vorhin am Amphitheater getroffen hatten, hatte sie gesehen, wie Lians Blick rasch über sie geflogen war, bevor er sie zur Begrüßung in eine leichte Umarmung gezogen hatte. Das kleine, unmerkliche Zucken seiner Augenlider hatte sie mehr gefreut, als sie sich eingestehen wollte. Sie freute sich immer noch darüber ...

Dachte er jetzt gerade nur an die schöne Aussicht unter ihnen oder fühlte er das Gleiche wie sie?

Plötzlich hielt sie die Stille nicht mehr aus.

„Sieh mal, die Weinstöcke, wie alt sind die wohl?", fragte sie und zeigte mit lang ausgestrecktem Arm auf die knorrigen, in geraden Reihen stehenden Pflanzen, die sich weithin über den Hügelrücken erstreckten.

Lian grinste. „So alt wie du in hundert Jahren?"

Kira zog die Füße unter sich und blickte über die Hügel. „Hundert Jahre sind eine Ewigkeit, finde ich", sagte sie. „Was denkst du, wie sieht die Welt wohl in hundert Jahren aus?"

Lian überlegte ein bisschen. Dann grinste er. „Hm. Elon Musk wird tot sein, die Queen auch, es wird keine Handys mehr geben, sondern in Brillen integrierte Vorrichtungen, man wird auf Knopfdruck Lufttaxis anfordern können und den Eisbären künstliche Eisschollen bauen und die Gesellschaftsordnung wird eine andere sein?"

Kira lachte. „Bis auf den letzten Punkt fand ich das alles ganz kreativ."

Gespielt entrüstet sah er sie an. „Was heißt hier kreativ? Das war komplett ernst gemeint. Und jetzt bist du dran. Erklär mir deine Welt in hundert Jahren! Und ich hätte es gerne mit dem Themenschwerpunkt 'Ernsthaftigkeit' erläutert, bitteschön!"

„Lass mich mal überlegen ..." In Hochstimmung sah Kira ihn an.

„Ja?" Seine grünen Augen blitzten verwegen.

Sie gab einen genervten Ton von sich. „Also ein bisschen Bedenkzeit muss schon drin sein!" Das Gedankenspiel gefiel ihr. „Also ...", begann sie langsam, „zunächst mal glaube ich, dass die Menschen vernünftiger werden." Einen Einwand seinerseits erstickte sie mit einer resoluten Armbewegung im Keim. „Pst, sei still, jetzt bin ich dran. Also ... Die Menschen werden ihren Konsum einschränken, sei werden kapieren, dass es die Erde nur einmal gibt und sie nicht alles aushält. Man wird weniger heizen, es wird keine Dieselmotoren mehr geben und dafür vor allen Fahrzeugen ein 'E', jeder mit Garten wird dazu verpflichtet sein, ein oder zwei Bäume zu pflanzen und Vogelphobien werden heilbar sein." Sie holte Luft. „Habe ich etwas vergessen?" Eins fiel ihr noch ein und ihre Augen leuchteten unwillkürlich auf. „Ach ja, ... und man wird den goldenen Marktplatz in Vineta finden, wo der Wikingerkönig Blauzahn Zuflucht gefunden hat, an der Ostseeküste."

Lian sah sie verblüfft an. Dann lachte er lauthals los. „Herzlich willkommen, schöne neue Welt! Hast du das gerade erfunden?"

Sie lächelte ihn schief an. „Was? Das mit der Vogelphobie oder den Wikingerkönig Blauzahn?"

„Beides."

Während sie ihn ansah, dachte sie, dass es eigentlich sekundär für sie war, was sie ihm erzählte. Hauptsache, sie konnte dabei in seine grünblitzenden Augen schauen und sich in ihnen verlieren und davon träumen, wie er seine Lippen den ihren näherte ... Manchmal lag so etwas in seinem Blick, so wie gerade, dass sie dachte ...- eine Welle ungestümer, zärtlicher Verliebtheit packte sie, sie fühlte sich ihm so nah, es war kopfverdrehend schön, es nahm ihr den Atem und sie fand kaum noch die Worte für das, was sie hatte sagen wollen. „Harald Blauzahn gab es wirklich", spulte sie verwirrt herunter, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. „Nach der sagenumwobenen Stadt Vineta mit dem goldenen Marktplatz sucht man seit dem sechzehnten Jahrhundert. Der berühmte Blauzahn war um 1000 n.Ch. ein dänischer Wikingerkönig. Er hatte blaue Zähne, deshalb hieß er so, und er wurde von dem Mönch Poppo am Poppostein getauft."

Lian sah sie mit einem so ungläubigen Blick an, dass sie lachen musste und aus ihrem stürmisch-verwirrenden Gefühlschaos herausfand.

„Ich weiß, das hört sich erfunden an", gluckste sie. „Eigentlich habe ich es mir ja auch nur gemerkt, weil es so absolut schräg ist. Das Leben erfindet nun mal die besten Geschichten, oder?"

„Auf jeden Fall", nickte er nachdenklich. „Auf jeden Fall ... Und die Vogelphobie?" Ein aufmerksames Augenpaar lag auf ihr.

Sie kräuselte die Nase. „Die Vogelphobie, hm, die habe ich leider nicht erfunden ... Aber wenn ich mir eine Zukunft ausmalen dürfte, dann würde ich sie mir vogelphobiefrei wünschen. Würdest du dir das nicht auch erträumen?"

Lian nickte etwas zögerlich. „Was wäre dir wichtiger?", fragte er. „Der goldene Marktplatz oder ein Wundermittel gegen Vogelphobie?"

Sie antwortete schnell und ohne zu überlegen. „Ich würde direkt das Wundermittel gegen Vogelphobie nehmen. Für dich und mich und alle Betroffenen."

Da sah Lian sie auf einmal so offen und liebevoll an, dass es ihr wieder ganz warm ums Herz wurde. Still nahm er ihre Hand. „Ich muss keinen goldenen Marktplatz finden, ich habe schon ein Mädchen mit einem goldenen Herzen gefunden", sagte er leise. Sein Händedruck war warm.

Auf einmal suchte Lian mit dem Blick den Boden ab, schien dort etwas entdeckt zu haben und sprang von der Mauer. Verblüfft sah sie zu, wie er ein Gänseblümchen abzupfte und sich dann wieder neben sie auf die Brüstung schwang. Mit zarten Fingern steckte er ihr die Blume ins Haar. „Du bist so unglaublich hübsch!", sagte er leise. Ein sanfter Schimmer lag in seinen Augen.

Ihr war schwindelig vor Glück.

Sie hielt den Kopf immer noch leicht seitlich, weil er ihr die Blume dort festgesteckt hatte, als sie aus dem Augenwinkel Albiel wahrnahm. Der Bodyguard hatte sich hinter einer Gruppe Touristen angestellt, die drüben an dem Fernrohr standen, mit dem man die Hügelrücken in der Ferne sehen konnte, so als warte er darauf, dran zu kommen.

Auf einmal hatte sie das dringende Bedürfnis, mit Lian allein zu sein. Richtig allein. Ohne dass ihr Bodyguard jede ihrer Bewegungen verfolgte und alle möglichen Gedanken dazu anstellte. Im Prinzip waren sich Albiel und ihre Mutter nicht unähnlich.

„Pst!", zischte sie Lian übergangslos zu, der sie verwirrt ansah. „Dreh dich nicht um. Hinter uns steht einer, der mich in 'Archäologischer Feldforschung" immer vollquasselt. Er darf mich nicht sehen. Wenn wir uns eine Stunde Gelaber sparen wollen, sollten wir von hier verschwinden!"

Lian verzog den Mund zu einem breiten Lachen. „Ein Konkurrent! Dann sollten wir wirklich verschwinden, da stimme ich zu. Was schlägst du vor?"

Plötzlich überkam sie eine unbändige Lust, zusammen mit Lian davonzurennen, durch die Reben und über die Felder, sie wollte dem wachsamen Blick ihres Bodyguards entwischen und die flutende Wirkung des Adrenalins in ihren Adern spüren. Ihre kleine Notlüge würde ihr dazu verhelfen, dass Lian nichts von ihrem Personalschutz mitbekam. Gemeinsam fliehen schweißt zusammen!, dachte sie aus einem plötzlichen rebellischen Elan heraus und stutzte nur einen Moment, weil sie schließlich von Flucht und deren Auswirkung keine Ahnung haben konnte.

Übermütig sah sie Lian an. „Auf mein Zeichen springen wir von der Brüstung und hauen durch die Reben ab. Okay?"

Lian nickte zustimmend. Er spielte das Spiel mit!

Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu, und im nächsten Moment stießen sie sich beide mit den Füßen von der Brüstung ab, sprangen mit einem Satz auf das knisternd trockene Gras unter ihnen und rasten gebückt davon durch die Reben. Während sie an Weinblättern und Reben vorbeisausten, entfuhr Kira ein ausgelassenes Kichern. „Da hinüber, komm!", zischte sie und zog Lian lachend hinter sich her ins nächste Rebenspalier. Im Zickzackkurs rannten sie den Weinberg nach unten, tauchten in den nächsten ein, wechselten die Spaliere in derselben Sequenz wie die bei einer Schuhanprobe im Schuhgeschäft und trieben sich gegenseitig an, als würden sie wirklich verfolgt. Wie die Irren rasten sie immer weiter und Kira ging die Puste aus und sie verfiel in ein verrücktes Lachen, verschluckte sich fast und fand alles wahnsinnig lustig. Schließlich stolperten sie am Rand eines Weinbergs auf einen Hang mit kurzen, gelben Grasstoppeln, Margeriten und ein paar Pusteblumen und ließen sich dort außer Atem auf den sonnig warmen Untergrund fallen. Mit geröteten Gesichtern sahen sie sich lachend an, ihr Atem ging kurz und stoßweise. Langsam beruhigte sich ihr jagender Puls und ihr Atem ging ruhiger. Ihre Augen blitzten sich an. Der Ausdruck in Lians Augen veränderte sich auf einmal, ein weicher Glanz lag plötzlich in ihnen, der in ihrem Magen alles durcheinanderwirbelte. Die hellen Sprenkel in seinen Augen leuchteten goldbraun im Licht des Sommers. Er beugte sich zu ihr und die Welt schien auf einmal nur noch aus Lian, ihrem heißem Atem und dem Duft des Grases zu bestehen.

Als er sie sanft auf den Mund küsste, meinte sie, sie würde gleich losschweben wie die Pusteblumen neben ihr.

Continue Reading

You'll Also Like

31.7K 970 96
Spaßvögel und Klugscheißer werden hier garantiert fündig. P.S.: Ich habe nichts gegen Schwarze, Ausländer, und andere (außer gegen Nazis). Denn: MAN...
1.1K 93 131
Der kleine Junge Allan merkt das er mit 10 Jahren Besondere Fähigkeiten hat.Als die Eltern sah was der Junge kann wurde er 8 Jahre lang von Sir Geral...
401K 15.2K 132
So da mir des öfteren OneShots durch den Kopf geistern und ich mein Profil nicht damit vollballern will, pack ich das was ab jetzt kommt, alles hier...
43.8K 1.7K 32
Melanie genannt Melli ist 19 Jahre alt und macht nach ihrem Abi Urlaub in Barcelona, wo sie nach einer wilden Party eine Nacht mit Samu Haber verbrin...