Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

3.1K 489 1K

(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 11

124 13 74
By Cliffhouse

„Ich versteh die Welt nicht mehr! Warum wolltest du denn so schnell weg? Fast habe ich gedacht, du willst ihm eine Abfuhr erteilen. Findest du ihn jetzt nett oder nicht?"

Als sie durch die Gänge der Bibliothek eilten, warf Joella ihr einen prüfenden Blick zu.

Kira stöhnte. „Mann, Joella, ich habe ihm keine Abfuhr erteilt! Ich habe ihm ja sogar meine Adresse gegeben. Ich wollte nur wegen meinem übermotivierten Bodyguard schnell weg. Wenn der ihn hier angetroffen hätte, hätte er ihn womöglich gelyncht!"

Joella grinste. „Und dich noch dazu! Er klang ziemlich aufgebracht!" Sie lachte leise vor sich hin. „'Bodyguard kommt Schutzperson abhanden' -, das wäre doch mal ein toller Artikel im Trierer Wochenspiegel!"

„Da denkt jeder erst mal daran, dass die Schutzperson umgebracht wurde." Kira rümpfte missbilligend die Nase.

„Keine Sorge, du wirkst noch recht lebendig", kicherte Joella. „Ein bisschen miesepetrig, aber lebendig. Was wollte dein Bodyguard eigentlich? Er war ganz schön in Fahrt!"

Im Vorbeilaufen kickte Kira eine zerknüllte Papiertüte, die auf dem Boden lag, ein paar Meter weiter durch den Gang. „Ihm passt meine Selbstständigkeit nicht, das ist alles. Sicher wird ihm bald einfallen, mir eine Fußfessel zu verpassen!"

Joella lachte. „Du übertreibst! So schlimm kann er ja gar nicht sein!"

„Hast du eine Ahnung, er ist absolut nervig. Es gibt ja Helikoptereltern ...", brummelte Kira leise. „Jetzt weiß ich, dass es auch Helikopterbodyguards gibt."

Sie hatten die Eingangstür der Bibliothek erreicht. Kira zögerte. Wer verpflichtete sie, diesem Bodyguard zu gehorchen? Entschied sie das nicht selbst? Sie wandte sich zu Joella um. „Ich soll ihn treffen, jetzt gleich, auf dem Platz unten. Wahrscheinlich hält er mir dann die nächste Standpauke." Sie seufzte.

Joella linste durch die Glastür nach draußen. „Ich glaube, ich sehe ihn. Er steht da drüben bei dem Baum, oder?!" Sie zeigte auf eine große Gestalt mit Schiebermütze, die wartend unter einer Platane stand.

Kira grummelte als Antwort etwas Unverständliches.

Als sie ins Freie traten, hatte es aufgehört zu regnen. Die Sonne schien auf den durchnässten Platz und ließ die sattgrünen Blätter der Bäume aufleuchten. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel.

Joella warf Kira einen aufmunternden Blick zu. „Es wird schon werden! Ich verziehe mich dann jetzt mal lieber ..."

„Ist wohl besser, ja", brummte Kira. „Könnte ja sein, dass ich eine Genehmigung einholen muss, wenn ich mich mit einer Freundin treffen will."

Joella kniff die Augen zusammen. „Was Albiel wohl zu deinem Freund Lian sagen würde?", flüsterte sie.

Kira spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Lian ist nicht mein Freund!", brummelte sie und ärgerte sich, weil ihre Stimme so gereizt klang. „Ich kenne ihn ja gar nicht", fügte sie möglichst gleichgültig hinzu und nahm sich zum wiederholten Male vor, ihre überbordenden Gefühle besser in den Griff zu kiregen.

„Gut genug, um eifersüchtig zu sein, habe ich den Eindruck." Joellas Nase kräuselte sich und ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie gab Kira einen liebevollen Klaps auf die Schulter. „Weißt du, auch wenn ich ihn sympathisch finde, würde ich ihn dir nie wegnehmen. So gut solltest du mich kennen."

Kira nickte verlegen. „Das weiß ich. Du bist nur immer so - ... ach, vergiss es. Danke."

Mit einem „Take it easy! Dein Aufpasser wird dir schon nicht den Kopf abreißen" verschwand Joella um die Ecke.
*

Albiel erwartete sie mit gerunzelter Stirn.

„Wie soll ich meiner Arbeit nachkommen, wenn du hier ein Versteckspiel mit mir spielst?", war das Erste, was er sagte.

„Ich mag Versteckspielen!", murmelte sie trotzig.

Albiel schnaubte ärgerlich. „Du musst das schon etwas ernster nehmen. Denn du bist zu groß, als dass ich dich an die Hand nehmen könnte, damit du keine Dummheiten machst!"

Kira schaute ihn gereizt an. Jeder wollte sie gerade bevormunden. Ihre Mutter, die ihr nicht zutraute, dass sie es als Archäologin gut hinkriegen würde, Joella, die dachte, sie müsse ihr in Sachen Liebe unter die Arme greifen und dieser verflixte Bodyguard, der dachte, sie könne keine zehn Schritte ohne ihn tun.

„Nur damit Sie mich jetzt nicht gleich wieder aus den Augen verlieren...", sagte sie säuerlich, „ich werde jetzt mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Sollte ich dabei von zwielichtigen Personen belästigt werden, von Scuros, Bodyguards oder sonst jemandem, werde ich es Ihnen direkt melden. Vielleicht sollte ich meine Tagesprogrammpunkte ja gleich in zweifacher Ausfertigung abliefern, für Sie und Simeon?" Wütend blitzte sie ihn an.

Der Leibwächter hatte die Augen angestrengt zusammengekniffen. Augenscheinlich hatte es ihm die Sprache verschlagen. Kopfschüttelnd brummte er: „Gegen so viel Widerspenstigkeit ist anscheinend kein Kraut gewachsen." Mit einem kurzen Blick prüfte er die Umgebung. Dann seufzte er: „Zum Glück ist Romano bald hier."

Kira sah verblüfft auf. „Wie bitte? Romano kommt auch noch? Obwohl der Phönix nicht hier ist? Die Welt ist wohl verrückt geworden! Oder hat der alte Mann etwa Sehnsucht nach seiner Porta?" Die letzte Frage hatte sie ohne zu überlegen hinzugefügt.

Da packte Albiel sie unvermittelt am Arm und schaute ihr scharf ins Gesicht. „Was weißt du über die Sache?", zischte er. Seine Nasenflügel bebten.

Seine Reaktion kam so überraschend, dass sie beinahe mehr Verwunderung als Schrecken fühlte. In was für ein Wespennest hatte sie da wieder gestochen?

„Ich weiß nichts über 'die Sache'. Welche Sache?", fragte sie irritiert.

Albiel, der immer noch ihren Arm festhielt, ließ sie jetzt verlegen los. „Entschuldige", sagte er gepresst, schaute sie aber immer noch misstrauisch an.

Es gab hier eindeutig etwas, was man ihr verheimlichte. „Könnte es sein, dass man mir hier etwas verschweigt?", sagte sie gereizt. „Ich weiß, dass Simeon eine Postkarte von der Porta hat. Ich dachte, wir streben eine bessere Kooperation an! Also dann ... Was hat Simeon mit der Porta zu tun?"

Es schien, als ärgere sich Albiel, etwas ausgeplaudert zu haben. „Das soll er dir selbst erklären, wenn er hier ist", brummte er. „Bis dahin wäre es für uns beide besser, wenn du tust, was ich dir sage." Er sah sie grüblerisch an und fügte dann hinzu: „Du bist durch eine vorübergehende Wirrnis mit dem Phönix verbunden, eine Art Versehen des Schicksals. Aber damit müssen wir jetzt klarkommen. Ich hoffe, schon bald wird sich klären, wer der eigentliche Hüter ist. Du scheinst mir als Hüterin doch etwas zu starrköpfig und unaufgeschlossen zu sein." Er schien selbst verwirrt.

Was für ein schwieriger Charakter!, dachte Kira. Sie fühlte sich auf einmal nur noch unwahrscheinlich erschöpft. Dieser bescheuerte Bodyguard schaffte es immer wieder auf verdammt treffsichere Art, dass sie sich schlecht fühlte. Sie war also für ihn eine 'Art Versehen des Schicksals'? Sie hatte schon schmeichelhaftere Bezeichnungen für sich gehört.

„Na, dann sind wir ja schon zu zweit", sagte sie leise. „Dass ich eine Hüterin bin, glaube ich nämlich auch nicht. Ich bin weder eine Hüterin für Kühe, noch für Schafe, noch für Phönixe. Ich bin ich. Und deshalb gehe ich jetzt auch nach Hause!" Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging. Vor allem auch, weil sie ihm nicht die Genugtuung geben wollte, dass er die Tränen sah, die sie nur mit Mühe zurückhielt.
*

Zuhause stieß sie wütend die Tür zu ihrem Studentenzimmer auf, knallte sie hinter sich zu und pfefferte ihre Jacke auf den Boden neben der Garderobe. Dann verkroch sie sich ins Bett, schlang die Arme um ihre angezogenen Beine und starrte mit zusammengepressten Lippen und angespanntem Kiefer in die Luft. Sie versuchte, die Tränen zurückzudrängen, war jedoch nicht besonders erfolgreich. Es war ein Mist mit diesen Emotionen.

Irgendwann hieb sie mit immer noch verweinten Augen gegen den Bettpfosten. Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgedreht. Und zwar vor den Fund des Phönix-Eies. Dann wäre die verdammte Mauer einfach eine harmlose Mauer aus Steinen, Staub und Basalt geblieben und und sie hätte sie nicht im Traum mit einem Phönix in Verbindung gebracht. Am besagten Abend wäre sie unbesorgt zur abendlichen Feier gegangen, hätte vielleicht etwas zu viel getrunken und sonst wäre nichts passiert.

Die Zeit kam ihr in den Sinn, als sie noch klein war und im Sandkasten ihrer sizilianischen Oma gespielt hatte. Zu ihrem Haus, einer alten Villa aus der Gründerzeit mit schmucken Säulen am Eingangsbereich, Rundbogenfenstern und dunkelgrünen Fensterläden, gehörte ein großer, parkähnlicher Garten, in dem verborgen unter den hängenden Zweigen eines alten Mandelbaums ein Sandkasten lag. Ihre Nonna hatte ihn in weiser Voraussicht für ihre Enkel anlegen lassen. Sie erinnerte sich, wie sie hier im flirrenden Licht des Sommers, das zwischen den länglichen, glatten Blättern des Mandelbaums hindurchfiel, als Siebenjährige gegraben hatte, im kindlichen Gefühl der Zeitlosigkeit, bis sie unter dem Sand auf das Erdreich gestoßen war. Sie hatte voller Neugier weitergegraben, immer tiefer und sie erinnerte sich noch immer lebhaft an die Erregung, die sie gepackt hatte, als sie auf die schimmernde Münze gestoßen war. Es war eine abgegriffene, antike Kupfermünze und ihre Oma hatte gemeint, sie könne sie behalten. Fortan war sie aufs Graben versessen gewesen. Der Wunsch, Archäologie zu studieren, war geboren.

Als Joella anklopfte und den Kopf zur Tür hereinschob, um nachzufragen, wie das Treffen mit ihrem Leibwächter denn gelaufen sei, saß Kira immer noch verzagt und flügellahm auf dem Bett. Sie hatte sich in ihre hellrosa gemusterte Decke eingemummelt und hielt den Blick gesenkt, um ihre Tränen zu verbergen.

„Huch, was ist denn mit dir passiert?" Mit ein paar Schritten war Joella bei ihr.

Als Kira versuchte, mit Ausflüchten zu antworten, sah ihre Freundin sie mit hochgezogenen Brauen an. „Was hat Albiel zu dir gesagt, dass du so am Boden bist?", fragte sie streng und setzte sich neben sie.

Unwillig presste Kira die Lippen zusammen. Ihre Freundin konnte manchmal furchtbar hartnäckig sein, wenn sie etwas wissen wollte.

„Ach, er ist übellaunig gewesen, wie so oft", brummte sie. Sie hatte keine Lust, darüber zu reden.

Doch Joella gab nicht auf. „Aha. Und sonst?"

KIra gab ein trauriges Schnauben von sich. „Und sonst? Weißt du, was er gesagt hat? Willst du es wirklich wissen? Er hat mich als Versehen des Schicksals bezeichnet. Und er meint, ich sei starrköpfig, unaufgeschlossen und was weiß ich noch alles. Ich hätte mitschreiben sollen ..." Sie zog schniefend die Nase hoch.

Joella schaute empört auf. „Was für ein Kotzbrocken!", schimpfte sie. „Was erwartet er denn? Dass du eine schwerterschwingende Samurai-Kämpferin bist? Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!"

„Vor allem scheint er mich nicht leiden zu können."

„Nächstes Mal gehe ich mit! Und dann sage ich ihm meine Meinung! Einen Bodyguard hat man doch, damit er einen beschützt, auf einen gut achtgibt und man sich besser fühlt. Nicht umgekehrt! Meiner Meinung nach hat dieser Kerl seinen Beruf verfehlt!"

Kira nickte nur. „Er macht mich so wütend", sagte sie leise.
*

Ein paar Tage vergingen. Der Bodyguard, der seinen Beruf verfehlt hatte, blieb auf Abstand und Kira kam es sogar vor, als versuchte er ganz bewusst, sich zurückzuhalten und ihre Privatsphäre mehr zu respektieren. Er näherte sich ihr nicht, weder um ihr Botschaften zu überbringen, noch um sie wegen weiterer Fehler zu maßregeln.

In die Vorlesungssäle kam er sowieso nicht mit ihr. Es hätte auch ziemlich befremdlich auf die anderen Studierenden gewirkt, wenn da dieser Hüne von einem Mann gesessen und so getan hätte, als würde er interessiert in sein Notizbuch kritzeln. So wurden die Vormittage an der Uni für Kira zu einer ihrer liebsten Tageszeiten. Es war direkt befreiend für sie, dazusitzen und so zu sein wie alle anderen. Der Schein von Normalität tat ihr gut. So unaufmerksam und albern sie vorher in den Vorlesungen hin und wieder gewesen war, so konzentriert hing sie jetzt an den Lippen der Professoren. In der Fokussierung auf die Sache fand sie die Ruhe, die sie gerade so dringend brauchte.

Manchmal dachte sie an Lian. Eigentlich spukte er ihr immer wieder im Kopf herum. Seine ruhige, entschlossene Art, sein Lachen, seine blitzenden Augen ... Die große Mehrheit der Jungen, die sie kannte, waren meist nur an Joella interessiert. Bei ihm jedoch hatte sie das Gefühl gehabt, dass sein Interesse und sein Augenmerk wirklich auf ihr lagen.

Nichtsdestotrotz hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, dass er auftauchen würde.

Es war um die Mittagszeit und sie war gerade dabei, die letzten Happen ihrer selbstgemachten Lasagne zu verspeisen, als es an der Tür klingelte. Sie lud nicht oft Freundinnen ein, weil ihr Zimmer klein war und man sich, sobald sich mehr als drei Personen darin aufhielten, in etwa so beengt vorkam wie in einem Taubenschlag. Lieber traf sie sich außerhalb mit ihnen. Das Läuten an der Tür kam für sie deshalb recht überraschend.

Als sie öffnete und Lian vor ihr stand und sie mit seinen dunklen Augen und einem Lächeln ansah, begann ihr Herz ungestüm zu klopfen.

„Hey!", begrüßte sie ihn freudig, auch wenn eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf sich mahnend bemerkbar machte und sie zu Zurückhaltung anhielt. Ein bisschen hörte diese sich an wie die von Joella, die eine ausgefeilte Taktik hatte, wenn sie sich für einen Jungen interessierte. Nicht gleich zu begeistert sein!, besagte diese Taktik.

Zur Hölle mit Joellas Methoden!, sagte sie sich und bat ihn mit einem breiten Lächeln herein. „Komm rein, komm rein, total schön, dass du vorbeikommst!"

Er grinste. „Ich habe gedacht, ich schaue mal, ob die Adresse, die du mir gegeben hast, auch stimmt."

„Warum sollte sie nicht stimmen?", fragte sie gespielt empört, während sie die Reste der Lasagne wegräumte. „Denkst du etwa, ich schicke Leute, die zu mir wollen, in die Wüste?"

Er sah sie verblüfft an. Dann lachte er. „Ja, genau das habe ich gedacht. Ich habe gedacht, diese Kira ist eine, die Leute in die Wüste schickt."

Sie kniff die Augen zusammen. „Um was in der Wüste zu tun genau?"

„Naja, um dort etwas auszugraben natürlich." Er überlegte kurz. „Und nur wer Gefahren, Hitze und Wüstentreibsand trotzt und mindestens die Maske von Tutanchamun oder eine ausgegrabene Axt oder einen altertümlichen Tontopf mitbringt, hat die Aufgabe gemeistert und darf die Wüstenprinzessin sehen!"

Sie lachte vergnügt. Seine Fantasie war süß. „Und was hast du für mich in der Wüste gefunden? Einen Tontopf?", fragte sie und schaute ihn neugierig an.

Er nestelte in seiner Tasche herum und zog eine Packung Schoko-Bons hervor. „Noch besser! Ich habe dir den Inhalt des Tontopfs mitgebracht!" Feierlich drückte er ihr die Packung Schoko-Bons in die Hand. „Eine Grabbeigabe, die auf wunderliche Weise noch nicht abgelaufen ist."

Sie lachte leise und schaute fasziniert auf die kleinen Grübchen, die sich rechts und links von seinem Mund gebildet hatten.

„Wow, das heißt, ich darf jetzt Schoko-Bons essen, die dreitausenddreihundert Jahre alt sind?"

Er nickte fröhlich.

Die Schokolade schmeckte besser als erwartet, etwas zu süß vielleicht, aber es war ja bekannt, dass schon die Ägypter Süßes mochten.

Später zeigte sie ihm die Sicht vom Fenster auf die Mosel und die vorbeifahrenden Schiffe, erzählte vom bevorstehenden Trubel des Altstadtfests, das in Kürze ganz in der Nähe des Wohnheims stattfinden würde und fragte ihn, wie sein Studium so war.

„Es ist weniger trocken als die Wüste", sagte er schief grinsend. „Jura zu studieren braucht Selbstdisziplin. Anfangs habe ich allerdings den Stoff des Semesters etwas aus den Augen verloren. Ich fand die Studentenpartys interessanter als Vorlesungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit. Aber diese Anfangsschwierigkeiten gaben sich dann mit der Zeit, als ich kapiert habe, dass ich mich auf den Hosenboden setzen muss und am Ball bleiben musste."

„Wie weit bist du?"

„Ich bin bald mit dem Grundstudium fertig und fange dann mit dem Hauptstudium an. Danach kommt das erste Staatsexamen. Und wie ist die Archäologie so?"

„Sie ist fantastisch. Sie geht in die Tiefe, mehr als ich dachte, und zwar nicht nur, was das Graben angeht. Schon die klassische Archäologie fand ich spannend, die griechischen und römischen Kulturen, ihre Kunst und Architektur, das alles hat mich begeistert. Auch die Ur- und Frühgeschichte war faszinierend, die Römische Kaiserzeit in Barbaricum mit den Gebieten nordöstlichen des Limes, das Imperium Romanum ..." Sie unterbrach sich. „Sag, wenn ich dich langweile, ich komme immer gleich ins Schwärmen, wenn es um Archäologie geht, es ist ganz schrecklich ..." Verlegen schaute sie ihn an, unschlüssig, ob er das alles sterbenslangweilig fand oder nicht.

„Erzähl weiter, so schrecklich ist das gar nicht", sagte er und sie lächelte erleichtert, freute sich und berichtete dann ausführlich vom Kurs über Minoische Kulturen, der ihr Spaß machte, weil die Fresken, Fragmente und Bilder des Grabungsprojekts ins Knossos sie in die früheste Hochkultur Europs entführten und sie sich alles in den lebhaftesten Farben ausmalte.

Wahrscheinlich redete sie zu viel, doch schien es ihn nicht zu stören. Er hörte interessiert zu, stellte Zwischenfragen und schien es tatsächlich spannend zu finden. Er kannte sogar das Buch, das bei ihr im Regal stand und das sie gerade las. Es war ein Roman von Alex Capus, in dem es unter anderem um die Ausgrabungen Anfang des letzten Jahrhunderts in Mykene ging. Sie fand es beachtlich, dass er das Buch als Jura-Student gelesen hatte und nahm es glücklich als Hinweis darauf, dass er wie sie selbst auch, gerne Bücher las.

Auf dem Tisch stand noch eine Schale von Mamminas Zitronenkeksen. Sie bot ihm davon an und er aß gleich drei davon mit sichtlichem Vergnügen, einen nach dem anderen.

„Die sind aber echt sehr lecker!", sagte er immer noch kauend, und als sie zugab, dass ihre Mutter sie gebacken hatte und nicht sie selbst, grinste er und meinte charmant, dass sie sie sicherlich genauso gut hingekriegt hätte.

„Ich denke eher nicht", gestand Kira und gab zu, dass es mit ihren Backkünsten nicht so weit her war. Dann erzählte sie ihm davon, wie sie einmal versucht hatte, eine Biskuitrolle zu backen, die danach wie ein rot-gelb gestreifter Dackel ausgesehen hatte, und er lachte herzlich und meinte, dass es durchaus auch Dackel gäbe, die Ähnlichkeit mit Biskuitrollen hatten.

„Bist du deiner Mutter ähnlich?", fragte er.

„Hm, ja und nein."

„Warum das?"

„Vom Aussehen her sind wir uns ähnlich, das ja. Ich habe ihre zierliche Statur geerbt und auch ihr volles Haar. Bei meiner Mutter ist es tiefbraun, beinahe schwarz und glatt, bei mir kastanienbraun und wellig, so wie bei meiner italienischen Oma."

„Du hast die hellen Strähnen vergessen."

„Da hast du aber genau hingeguckt!", lachte sie etwas verlegen. Lian lächelte.

„Aber du bist anders als deine Mutter?", fuhr er dann dort. „Das wolltest du doch sagen, oder?"

Kira ging zu ihrem Hängesessel, setzte sich hinein und stieß sich von der Bettkante ab. Es gab nichts Entspannenderes als mit baumelnden Beinen zu schaukeln. „Ja, genau."

„Und? Wie bist du?"

Die direkte Frage verwirrte sie. „Puh, keine Ahnung ... das ist eine Frage, die mir nicht so oft gestellt wird." Leicht nervös sah sie ihn an.

„Du hast keine Ahnung, wie du bist? Na, hoffentlich weißt du, wer du bist! Na los, komm schon, versuch es." Seine Mundwinkel hatten sich nach oben gezogen, ganz so als hätte er jede Menge Spaß an dem Gespräch.

„Hm, wie bin ich ... du stellst vielleicht Fragen! Ich bin eine Langschläferin. Und eine notorische Leseratte. Und ich brauche Bücher zum Glücklichsein, zum Beispiel abends vor dem Schlafen." Während sie weiterüberlegte, zog sie ein Kissen des Hängesessels auf ihren Schoß und spielte an den Fransen herum. „Und ich gehe gerne barfuß, habe ein Talent dafür, mir den kleinen Zeh zu brechen und werde aggressiv, wenn mir langweilig ist oder ich kein Projekt habe."

Lian duckte sich.

„Was ist? Was tust du?" Perplex sah sie ihn an.

Lian hielt grinsend die Augen auf das Kissen fixiert.. „Könnte ja sein, dass dir gerade langweilig ist", lachte er lautlos. „Hast du noch andere hübsche Adjektive, die dich beschreiben?"

„Nein, das waren für heute genug. Außerdem können andere wahrscheinich besser einen Steckbrief über mich anfertigen als ich. Ich war noch nie gut im Aufsatzschreiben. Da ist eher mein Vater Spezialist. Er ist Deutschlehrer." Sie schwang sich aus dem Sessel, ging hinüber zum Tisch und nahm sich einen Keks.

„Wie haben sich deine Eltern kennengelernt?"

Genüsslich verspeiste sie den Keks. „Eigentlich durch diese Zitronenkekse", sagte sie und gluckste. „Es war also im wahrsten Sinne des Wortes eine süße Liebesgeschichte, kann man sagen."

„Wieso? Hat deine Mutter deinen Vater mit Zitronenkeksen verführt?" Die Grübchen, die sich an seinen Mundwinkeln zeigten, waren total süß.

„Nein", sagte sie und erinnerte ihr gerade überschwänglich-schwärmendes limbisches System im Gehirn daran, dass Besonnenheit eigentlich zu einem Grundzug ihres Charakters gehörte. „Ganz im Gegenteil. Früher konnte meine Mutter überhaupt nicht backen. Aber dank ihm hat sie ihr Talent für Kekse und Co entdeckt."

„Kekse und Co", schmunzelte er. „Hört sich an wie der kreative Name einer Konditorei."

„Genau damit hatte es zu tun." Sie schaute ihn verschmitzt an. „Witzigerweise haben sie sich echt in einer Konditorei kennengelernt. Meine Mutter ist meinem Vater in der Fußgängerzone über den Weg gelaufen. Und weil sie ihn ziemlich gutaussehend fand, ist sie ihm einfach dorthin gefolgt, hat sich in der Konditorei unauffällig neben ihn gestellt und dieselben Zitronenkekse wie er gekauft. Geradeheraus und ziemlich ungeniert hat sie ihn dann angesprochen. Aber so ist meine Mutter ... Sie hat ihm das Blaue vom Himmel herunter gelogen, ihm zum Beispiel erzählt, dass genau diese Kekse die Lieblingssorte ihrer Tante seien, dass sie sie regelmäßig kauft und sie ihr nach Sizilien schickt und dass ihre Tante immer sagt, die Kekse würden wie die Vermählung der Sonne mit der siziLianischen Landschaft schmecken. Mit diesem - zugegebenermaßen recht ausgefallenen - Keks-Kompliment hat sie auf das Stillschweigen der Konditorin gehofft."

"Und? Hat es geklappt?" Neugierig sah Lian sie an.

Kira lachte. "Sicherheitshalber hat meine Mutter noch zwei Tüten Kekse dazu gekauft."

„Und damit hatte sie die Konditorin in der Tasche! Und die hat zwei neue Stammkunden auf einen Schlag gekriegt, also war es auch ihr Glückstag!", gluckste Lian, der sichtlich Spaß an ihrer Erzählung hatte.

„Durch meine Mutter hat sie an diesem Tag auf jeden Fall gut an ihren Zitronenkeksen verdient, stimmt", grinste Kira. „Mein Vater wurde ein regelrechter Fan von diesen Keksen. Und dank meiner Mutter wusste er bald über pizza napoli, Nocciola-Eis und den neuesten Klatsch aus der italienischen Presse genauso gut Bescheid wie sie."

"Und ihre Lüge? Kam es nie raus?" Versonnen nahm Lian noch einen Keks.

Kira zog die Nase kraus und schmunzelte. "Erst als sie längst verheiratet waren, hat meine Mutter ihm dann gestanden, dass sowohl der Keks-Kauf als auch die Tante erfunden waren. Mein Vater gab sich empört und hat von ihr gefordert, dass sie jetzt selber Zitronenkekse backen muss, sozusagen als Wiedergutmachung. Und seither gibt es Zitronenkekse in der Familie."

„Eine schöne Geschichte", sagte Lian lächelnd. Und dann, etwas nachdenklicher und zögerlich: „Aber dann beruhte ihre Beziehung ja auf einer Lüge." Seine Augenbrauen hatten sich leicht angehoben.

Kira nickte. „Eigentlich schon, ja. Hat mich aber nie gestört. Und meine Eltern wohl auch nicht. Und deine Eltern? Sind sie Deutsche? Wohnen sie hier in Trier?"

Er versteifte sich schlagartig und vergrub seine Hände in den Hosentaschen.

„Meine Eltern sind nicht mehr am Leben", sagte er dann gepresst.

Entsetzt schaute sie ihn an. „Oh. Das tut mir leid", stotterte sie. "Wie ... wie kam das?"

Er wich ihrem Blick aus und antwortete dann kurzangebunden: „Es ist noch kein Jahr her. Ein Autounfall." Der überwältigende Schmerz, der plötzlich in seinem Gesicht stand, schnürte ihr die Luft ab.

"Oh mein Gott ...", flüsterte sie, "... ich wusste nicht ..."

Seine Augen schimmerten feucht. Abrupt wandte er sich ab und ging zur Kommode am Fenster hinüber, wo zwei Bilderrahmen mit Fotos standen. „Bist du das?", fragte er rau und nahm eins der Bilder in die Hand.

Sie wusste, es war ein Versuch, die Erinnerung an seine Eltern zu verscheuchen. Leise trat sie neben ihn. Sie ärgerte sich, dass sie die Leichtigkeit, die zwischen ihnen gewesen war, zerstört hatte. Aber wie hätte sie dies auch ahnen können ... Wie schrecklich für ihn, es war ja noch gar nicht lange her! Hilflos sah sie ihn von der Seite an. Er hatte sich halb abgewendet und hielt ein Foto von ihr in den Händen. Ein Kinderbild von ihr, das sie als Zehnjährige in Siegerpose zeigte, mit glücklich strahlendem Lächeln, einer Zahnlücke und in verdreckter Regenjacke und schmutzigen Gummistiefeln. Sie reckte eine Schaufel in die Höhe. Neben ihr gähnte ein großes Loch im Sand. Ihre Eltern standen neben ihr, eng umschlungen, und dahinter lag das Meer mit tiefdunklen Wolken darüber. Es war ein kühler, stürmischer Tag gewesen, das wusste sie noch, ein Tag, an dem sich Sonne, Wind und Regen abgewechselt hatten. Vor allem erinnerte sie sich noch daran, wie glücklich sie gewesen war. Ihre Begeisterung sah man auf dem Bild.

„Du gräbst schon immer sehr gerne, hm?", fragte er und eigentlich war es eine Feststellung. Seine Schalkhaftigkeit war verschwunden, genauso wie sein verschmitztes Lächeln.

„Ja, das stimmt", erwiderte sie leichthin. Dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. „Wenn meine Eltern das auch so früh begriffen hätten wie du, hätte mir das eine Menge Ärger erspart. Bis vor kurzem wollten sie noch, dass ich Grundschullehrerin werde."

Lian starrte das Bild immer noch an.

„Was war das Wertvollste, was du je ausgegraben hast?" Er musterte sie plötzlich sehr genau. Wieder einmal musste sie daran denken, dass da irgendetwas in ihm war, das sie nicht einordnen konnte.

Sie hätte ihm gerne von dem Phönix erzählt. Dass sie es nicht durfte, wurmte sie enorm.

Kurz entstand ein Moment der Stille zwischen ihnen.

„Das Wertvollste? Äh, ... wahrscheinlich eine Ein-Euro-Münze aus Griechenland. Die mit der Eule darauf. Hatte wahrscheinlich ein unachtsamer Tourist verloren."

Er blickte seltsam drein, und als ihr Handy klingelte, war sie geradezu froh.

Es war Joella, die fragte, wo in aller Welt sie denn abgeblieben sei.

„Oh Mist, ich habe unser Treffen ganz vergessen!", entfuhr es Kira. „Tut mir leid, Joella. Äh, ... ich melde mich später. Lian ist hier."

Am anderen Ende der Leitung entstand ein verblüfftes Schweigen, was bei Joella nur alle Schaltjahre vorkam. Dann hörte man ein vergnügtes Lachen. „Na, sieh mal einer an! Er ist er also tatsächlich vorbeigekommen... Und? Wie sieht es aus? Versteht ihr euch gut? Seid ihr schon am Händchenhalten?"

„Blöde Ziege! Bis später, ich melde mich!" Kira war bei Joellas Worten die Hitze in die Wangen gestiegen. Sie warf Lian einen kurzen Seitenblick zu. Zum Glück schien es nicht so, als hätte er gehört, was Joella gerade gesagt hatte. Er wirkte gedankenversunken, als er da so am Fenster stand und hinaussah. „Deine Freundin?", fragte er beiläufig, als er sich umdrehte.

„Ja, sie ist ein Goldschatz, aber manchmal kann sie auch furchtbar nerven. Wollen wir noch ein paar Schritte gehen? An der Mosel oder so?"

Sie freute sich, dass ihrdiese Idee gekommen war. So würde er auf andere Gedanken kommen. Und vielleichtwürde sich sogar wieder die Unbeschwertheit von anfangs zwischen ihneneinstellen.

Continue Reading

You'll Also Like

13.8K 2K 47
Kira, eine junge Schülerin, spielt nach der Schule heimlich und auch ohne jede offizielle Anmeldung oder Zugehörigkeit zu einer Akademie DAS SPIEL de...
249K 11K 103
Salam wa alaykum mein Name ist Layla und ich bin 21 jahre alt. Ich möchte euch meine Geschichte erzählen, voller Herz schmerzen und Trauer, doch auc...
17.9K 1.3K 23
Einblicke in die verunsicherte Gedankenwelt eines wirklich schüchternen "Strebers". In den einzelnen Kapiteln schneide ich verschiedene Themen an, di...
128K 13.9K 89
>>Ich weiß, dass ich sterbe, wenn ich den Deal nicht erfülle!>Du weißt gar nichts.<< *2. Teil* Der Handel, den Nemesis mit Göttervater Xenos eingegan...