(Das letzte Spiel vor dem Finale muss doch langgelegen werden)
Der junge Mann blinzelt immer noch verwundert und nickt stumm. Natürlich hat er wir normalvernünftige Menschen angenommen, ich würde zu meinem Vorteil das Gespräch suchen, möglicherweise ihn hinters Licht führen und ihn manipulieren um zu gewinnen. Deshalb ist es wichtig ihn dazu zu bringen langsam zu verstehen, dass ich kein falsches Spiel mit ihm spiele. Das bedeutet nicht ich werde es ihm leicht machen zu gewinnen, zu gegebener Zeit werde ich alles daran setzen zu überleben, schließlich liegt es in der menschlichen Natur darum zu kämpfen.
„Du bringst mir die selben Vorteile wie ich dir, doch wir haben vorerst keine Nachteile", beruhige ich seine Zweifel. „Je früher du stirbst, desto mehr verschwendete Zeit habe ich in dich investiert."
„Ziemlich direkt", kräuselt er die Lippen und ich erwidere unbeirrt seinen Blick. Es war eine gewagte Formulierung, doch zeigt sie deutlich meine Offenheit und könnte sein Vertrauen gewinnen. Falls er stirbt, bringt es mir viele Nachteile. Wenn ich ihn am Leben halte, habe ich selbst bessere Chancen. „Moku, so nennen mich meine Freunde."
„Sayuuri."
Ich verstehe seine Hemmungen ein Gespräch anzufangen, auch mich macht es nervös weshalb wir vorerst mit Schweigen nebeneinander verharren. Ich senke meinen Blick und streiche behutsam mit meinem Zeigefinger über das Wasser im Schwimmbecken, um meine Neugierde zu befriedigen und die Temperatur herauszufinden. Ich vermute es sind höchstens sieben Grad, perfekt um wach zu werden und die Müdigkeit vorerst abzuschütteln. Ich sollte dieses Hilfsmittel jedoch zu einem geeignetem Zeitpunkt verwenden: Gleich am Anfang zu schwimmen könnte bezwecken, dass die Wirksamkeit der Kälte später nicht den selben Effekt hat wenn ich sie benötige. Doch ich kann es auch nicht ewig aufschieben, denn wenn die körperlichen Ausprägungen des Schlafentzuges schlimmer werden, wird die Kälte den Körper erschöpfen und müde machen.
"Wenn wir nicht miteinander kommunizieren, bringt dieses Bündnis nichts", sage ich nach einer viertel Stunde. Die ganze Zeit über habe ich lautlos und geduldig neben ihm gesessen, um ihn das anfängliche Thema wählen zu lassen. Er jedoch trommelt seit einigen Minuten mit seinen Fingern unruhig auf dem Knie, was ich bis zu diesem Zeitpunkt unkommentiert gelassen habe. „Wir können uns so ziemlich über alles unterhalten, die beiden dahinten reden seit Beginn und man versteht nicht was sie sagen. Alle Teilnehmer haben sich ungefähr in gleichem Abstand verteilt, was bedeutet sie werden auch nur sehen dass wir reden, aber hören nicht unsere Worte."
„Ich verstehe es immer noch nicht ganz. Wieso sollte ich ehrlich über mich selbst etwas erzählen, wenn es auf mich zurückfallen könnte und was lässt mich glauben, dass du das dir nicht alles was du sagst ausdenkst?"
„Nur einer von uns kommt hier lebend raus", antworte ich und spitze leicht trübsinnig die Lippen, „Wenn ich unehrlich bin stirbt die Wahrheit mit mir und ebenso wird es dir ergehen. Und ist es nicht eine schöne Idee, wenn man vollkommen ehrlich sein kann, wenn man das Spiel am Ende verliert?"
„So habe ich das noch nicht betrachtet", schluckt er schwer und senkt den Blick auf die weißblauen Fliesen. Ein müdes lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich tue es ihm gleich. Einmal vollkommen aufrichtig im Borderland zu sein. Ich denke es ist das erste Spiel, in dem man sich nicht mit der Wahrheit zurückhalten muss. Ich war immer vorsichtig was ich meinen Mitmenschen mitgeteilt habe, selbst meinen engsten Vertrauten. Aber in diesem Spiel kann nur einer überleben:
Wenn ich Tod bin, kann er diese Informationen nicht mehr gegen mich verwenden, also brauche ich mich nicht zurückzuhalten. Und falls ich überlebe, stirbt das Gesagte zusammen mit Moku. Entweder ich kann mit einer reinen Seele sterben alles gesagt zu haben, oder ich lebe und hatte die Chance mich wirklich auszusprechen.
„Ich schätze du hast recht", gibt er zu und ich nicke nachdenklich, „Ich habe fünf Spiele überlebt, ich denke das sind relativ viele, aber es ist mein erstes Herzspiel."
Wahrscheinlich hat er von der Herzkategorie gehört, deswegen ist er derartig vorsichtig. Meine Augen schweifen über die anderen Teilnehmer, vielleicht habe ich mir den falschen Verbündeten ausgesucht. Er könnte alles hinterfragen, jedes meiner Worte im Kopf erneut abspielen lassen um die Manipulation herauszuhören. Doch er ist der gesprächigste Mitspieler und wirkt nicht gewalttätig, ich bin überzeugt dennoch die richtige Wahl getroffen zu haben.
„Ich habe schon an vielen Spielen teilgenommen", gebe ich offen zu, um meine Qualitäten als Verbündeten Nachdruck zu verleihen. Wir sind auf einem guten Weg Verbündete zu werden, doch verständlicherweise ist Moku noch skeptisch und vorsichtig. „Irgendwann verliert man das Gefühl wie viele es wirklich waren, aber man geht immer mit der selben Angst zu der Registrierung. Ich war bis heute nur in zwei Herzspielen,"
Unruhig drehe ich meinen Gummiball in der Hand und obwohl ich seinen wachsamen Blick bemerke, bleibt Moku stumm. Meine Aussage zeigt viel mehr von meiner Persönlichkeit als zuvor, doch am meisten dass ich die Grausamkeit niemals vergessen werde und gewöhnlich wie jeder andere Teilnehmer bin.
„Was war dein leichtestes Spiel?", fragt er mich. Dennoch fährt er weiter fort mit einer kleinen Pause, um mein Vertrauen zu bestärken, „Ich war in einem Ass-Spiel, Kreuz. Wir haben alle überlebt, das war mein einziges Spiel ohne Verluste."
Ein Gut-Mensch. Sein Lieblingsspiel hat nichts mit einer bestimmten Kategorie zu tun oder mit seiner Präferenz. Nein, nur damit, dass kein Teilnehmer gestorben ist. Respektvoll nicke ich und denke nach. Was war mein leichtestes Spiel? Sicher hat es nichts mit der Überlebensrate der Teilnehmer zu tun, doch an was genau mache ich es aus?
„Mein erstes Spiel hier vielleicht, Kreuzkategorie. Ein einzelnes Buch in einer großes Bibliothek zu finden, Dantes Inferno", antworte ich und verfalle in eine nachdenkliche Stimmung, „Ironisch was? Ein Buch welches die verschiedenen Stufen der Hölle erklärt, wobei man sich selbst in der Hölle befindet."
„Ich kenne das Buch leider nicht, aber es klingt nach einem diabolischen Gleichnis der Konstrukteure des Spieles", behauptet er und zugegeben zustimmend nicke ich.
„Wenn du noch in keinem Herzspiel warst, was ist dann deine bevorzugte Kategorie?"
„Ich fühle mich deutlich wohler dabei, wenn es ein Pik- oder Kreuzspiel ist. Doch ich denke es sind die Kreuzspiele. Auch wenn die Menschen sich meist weigern, kann man das Ziel leichter erreichen wenn man zusammenarbeitet. Es gibt meist weniger Tote und man kann das Spiel schneller lösen."
„Ein Kreuzspieler, das finde ich gut."
Er könnte mich natürlich auch anschwindeln, doch ich achte auf gewisse Andeutungen. Zeichen, bei welchen Chishiya sich bei mir stumm konzentriert, wenn er herausfinden möchte ob ich lüge: Seine Pupillen vergrößern sich nicht wie bei einem Schwindel, die Halsschlagader an seinem Hals verlangsamt weder ihren Rhythmus, noch verschnellert sie ihn. Er hält weder meinem Blick unnachgiebig stand, noch weicht er ihm auffällig auf.
„Und bist du eine Pik-, Karo-, Herz- oder Kreuzspieler?"
Verstärkt nachdenkend blinzele ich und sehe auf das seichte Wasser. Ich habe niemanden jemals gefragt, in welche Kategorie sie mich einteilen würden und ehrlich gesagt habe ich darauf keine richtige Antwort. Doch um sein Vertrauen nicht zu erschöpfen antworte ich trotz Zögerns mit purer Ehrlichkeit.
„Ich weiß es nicht. Ich habe meist an Spielen der Kategorie Pik und Kreuz teilgenommen. Am Anfang sind mir Pik spiele gelegen gekommen, bis ich immer mehr verletzt wurde. Bei einem Kreuzspiel wurde ich einmal ertränkt, seitdem fallen mir diese auch nicht leicht. Das erste Herzspiel hat mich psychisch fertig gemacht, das danach war um so leichter. Ich schätze weil ich noch nicht in einem Karo-Spiel großen Schaden erleidet habe, ist das wohl meine Spezialität."
„Das klingt nach wirklich vielen Spielen, wenn du Vor- und Nachteile derartig aufzählen und abwägen kannst."
„Es waren viele. Aber vielleicht sollten wir zu Beginn eher über fröhliche Dinge reden, schließlich sitzen wir hier noch eine Zeit lang zusammen."
„Vielleicht hast du recht. Du warst vorhin die einzige, die sich das komplette Gebäude angesehen hat. Gibt es unschöne Überraschungen oder kann ich mich entspannen?"
„Ich habe nur Waschräume und einen andere Raum gefunden. Darin sind hauptsächlich Trainingsgeräte, aber auch andere Beschäftigungsmöglichkeiten in den Wandschränken. Versteckt könnten immer noch Hilfsmittel sein, gerade weil alle anderen so offen liegen. Aber ich bin noch nicht überzeugt von dieser Meinung", schnaufe ich aus. Im Spülkasten kann sich immer noch eine Waffe befinden, da Gewalt bei diesem Spiel erlaubt ist. Möglicherweise auch Medizin oder Aufputschmittel, aber gut versteckt.
„Außerordentlich gütig, was? Das wir wenigstens Toiletten gestellt bekommen", sagt er verbittert und ich kann einen Gesichtszug von Arisu wieder erkennen. „Welche Beschäftigungen gibt es denn?"
„Einige Musikspieler, Bücher, Zeichenpapier und bunte Stifte. Es war wirklich viel Krimskrams. Wir werden bestimmt etwas damit anfangen können."
„Das klingt gut. Aber wie du über das Essen geredet hast, denke ich wir sollten uns auch damit Zeit lassen", lacht er leicht und grinsend gebe ich ihm recht. Es ist das gleiche Prinzip, wenn wir zu früh diese Hilfsmittel nutzen wird uns schnell langweilig.
Die roten Zahlen auf der Zeitanzeige zeigen mittlerweile zwölf Stunden an. Ich kann noch nicht behaupten träge zu sein, dennoch lässt die Anspannung der Spielregeln nicht nach. Wir haben uns viel und gut unterhalten in dieser Zeit:
Moku arbeitet als Aushilfskraft in einem Reparaturladen für technologische Geräte. Einem solchen, der zu jeder Stunde offen hat und die bizarrsten Fälle vorbringt. Er tut es, um eines Tages selbst sein Studium zu finanzieren, da seine Eltern ihr ganzes Geld in das Studium ihres ersten Sohnes hinein investiert haben. Er hat mir von seiner besten Freundin erzählt, welche er seit der dritten Klasse kennt und die abgöttisch Tiere liebt.
Ich hingegen habe ihm von meinem Studium erzählt und meiner Schulzeit. Ich tue mich schwer das Thema Familie anzusprechen, weswegen ich ihn mit anderen Informationen füttere. Doch zugegeben, das Verlangen in das kalte Wasser zu springen um meine volle kognitive Fähigkeit wiederzuerlangen wird immer verlockender.
„Was für Fälle behandelt ihr im Studium? Typische Abläufe aus Lehrbüchern oder die interessanten Ausnahmefälle?", fragt er neugierig weiter und da wir mittlerweile lockerer miteinander reden, zögere ich nicht mehr.
„Meistens Sachverhalte die aktuell sind und es noch keinen Richterspruch gibt. Die Lehrbuchfälle sind harmlos und ziemlich theoretisch, wir bekommen die schlimmen Fälle. Dadurch wollen sie uns schon früh abhärten, sechzig Prozent haben deswegen noch vor dem dritten Semester abgebrochen."
„Warum erst im dritten?", stellt er irritiert die Frage.
"Im ersten Semester denkt man es wird besser, es ist schließlich bekannt das die Universitäten aussortieren und schauen, wer das Zeug besitzt und ihre Zeit wert ist. Im zweiten Semester merkt man jedoch, dass grauenvolle Taten und Schicksalsschläge seine Zukunft sein werden. In den Semesterferien denken sie darüber nach und kommen kurz vor Beginn des nächsten Semesters zu dem Schluss, dass sie ihre dreißiger lieber glücklich verbringen möchten anstatt überarbeitet, mit Depressionen und einem geheimen Laster zehn Jahre später an einem Herzinfarkt zu sterben."
„Oh man, in welchem Semester bist du?"
„Im fünften", antworte ich zugegeben ehrlich und stolz.
„Wie kommst du damit klar?"
„Hm, schwierig", lasse ich meinen stimme nachdenklich schwingen, „Ich habe unter der Woche immer gearbeitet und kaum eine Pause gehabt. Morgens Zivilrecht, mittags in die Bibliothek und Abends habe ich mir Foltermethoden oder Zeugenaussagen angesehen, um besser zu werden. Am Wochenende bin ich Feiern gegangen und habe mit Trinken und Tanzen versucht alles abzuschütteln und ruhig schlafen zu können."
„Wieso hast du nicht auch abgebrochen?"
„Ich schätze ich habe keine andere Option gesehen. Meine Familie hat mich schon im Richterstuhl gesehen, als ich in der Mittelstufe ein Praktikum bei einem Anwalt gemacht habe. Ich möchte sie nicht enttäuschen und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht daran, dass sie ein Literatur- oder Mythologisches Studium unterstützen würden."
„Wieso würden sie das nicht unterstützen, du bist ihre Tochter!"
„Meine Mutter denkt ich wäre zu eigenwillig und würde niemals einen Mann mit einem ausreichenden Gehalt abbekommen. Deswegen muss ich etwas gescheites studieren, um meine Finanzen selbst zu tragen und mich selbst versorgen zu können."
„Verdammt. Ich denke ich habe wohl mit meinen Eltern Glück. Ich dachte immer sie interessieren sich zu viel für das was ich mache, aber sie lassen mich entscheiden was ich werden will und unterstützen mich"
„Dann hast du wirklich Glück!"
„Und vor allem sind sie offen wenn es um mein Liebesleben geht. Ob ich in einer Beziehung mit einer Frau oder einem Mann bin ist ihnen gleich, Hauptsache ich bin glücklich. Ich meine wenn ich eine Tochter hätte würde ich auch gerne wissen, ob sie gut versorgt wird aber eine derartig harte Meinung wie deine Mutter würde ich nicht in Erwägung ziehen"
„Ich schätze es ist ironisch, dass ich mit einem angehenden Arzt im Borderland zusammengekommen bin", lache ich vergnügt und rolle spielerisch den Gummiball in meiner Hand.
„Dein Ernst ?"