Diesen Morgen wurde ich nicht durch die kitzelnden Sonnenstrahlen an meiner Nase geweckt, nicht durch ein störendes Klopfen an der Tür oder durch einen Alptraum. Ich wurde wach durch ein leichte Berührung an meinem Handgelenkt und öffne ausgeruht meine Augen. Chishiya scheint es nicht zu bemerken und ich beobachte einen Moment, wie er über eine bestimmte Stelle sanft streicht und sie schon fast in Trance beobachtet. Still sehe ich einen Augenblick zu der Stelle, bis ich bemerke wie er über mein unscheinbares Tattoo streicht, welches nur Kuina jemals bei mir bemerkt hat.
Was muss er nur von mir denken, wenn er das Zeichen für die Herz Königin an meinem Handgelenk sieht. Kuina hat mir geraten es niemals für jemanden von der Führungsrege sichtbar zu machen, aber zählt Chishiya immer noch zu diesem Personenkreis?
"Morgen", sage ich halb verschlafen und habe die Absicht ihn damit aufschrecken zu lassen, falls er es erst jetzt bemerkt haben sollte.
"Morgen", sagt er mit einer rauen Stimme, lässt aber nicht einen Moment von meinem Handgelenk ab. Weiterhin streicht er sanft darüber und sein Blick wirkt schon fast fixiert. Ihm ist es also gleichgültig, wenn ich seine Musterung mitbekomme.
"Du hast es schon länger bemerkt", stelle ich laut fest und er sieht zum ersten Mal zu mir, bevor er leicht anfängt überlegen zu grinsen. Dann sieht er aber wieder wie begannt zu dem Tattoo und nickt leicht. Ich wundere mich schon gar nicht mehr darüber, was ihm alles auffällt und das er die Dinge anders wahrnimmt als andere Menschen. Normale Menschen.
"Ich habe es schon vor ein paar Wochen gesehen, auch das Gegenstück an deinem anderen Handgelenk", sagt er verträumt und spielt auf den Pik König hin. Zweifel kommen in mir auf. Ich meine wir sind im Borderland, wo sich alles um Spielkarten dreht und wenn jemand das ernst nimmt, dann Chishiya Shuntaro. "Ich finde sie wunderschön"
Für einen kurzen Augenblick zucke ich zusammen, doch dann erfasst mich ein unglaubliches warmes Gefühl in meiner Brust, bevor auch meine Wangen beginnen zu glühen.
"Ich hatte schon immer eine Affinität für Spielkarten", sage ich ehrlich und senke meinen Blick auf die Bettdecke, doch er lacht nur leise und ich merke wie sanft und behutsam er darüberstreicht. Verwundert sehe ich zu ihm, da diese zärtliche Geste unwirklich scheint zu dem was wir in letzter Zeit durchgemacht haben. Oder einfach, weil ich wahrscheinlich die einzige bin, die ihn jemals so erleben darf. "Seit wann hast du es?"
"Ich habe es mit siebzehn stechen lassen. Es hat mich irgendwie angezogen. Ich habe auch überlegt mir die Karo-Ass stechen zulassen, kam aber noch nicht dazu", gestehe ich und beobachte ihn die ganze Zeit. Er sieht zu mir und unsere Augen treffen sich. Sein Gesichtsausdruck und seine Körpersprache zeigen mir, dass er mir jedes Wort glaubt.
"Was ist an diesem Handgelenk passiert?", fragt er mit gerunzelten Augenbrauen und erst jetzt spüre ich ein leichtes Ziehen in dieser Gegend. Als Chishiya seinen Griff lockert sehe ich eine leicht blaue Spur, welche in den nächsten Tagen noch andere diverse Farben annehmen wird.
"Aguni", sage ich schlicht, verhindere ein zusätzliches Zähneknirschen und ziehe meinen Arm weg. Aber so früh am Morgen will ich keine schlechten Gedanken haben, also ziehe ich den Saum der weißen Weste um meinen Körper ein wenig enger und lege meinen Kopf wieder auf seine Schulter. Meinen Arm lege ich leicht auf seine Brust und atme entspannt aus, was er versteht und nur schnaufend grinst. Er selbst legt mir seine Hand in den Nacken und streift die Kapuze, welche ich seit gestern Abend immer noch trage, vom Kopf und sieht leicht zu mir runter.
Ich finde es gut so wie es zwischen uns ist. Doch obwohl sie tot ist schweift mir immer noch Tayuya im Kopf umher. Sie war offensichtlich ein Nutzmittel, aber wer kann mir versichern, dass er nicht wenn nötig das nächste Nutzmittel küsst? Noch einmal mich so lange zu distanzieren könnte Langzeitfolgeschäden nach sich ziehen, schließlich habe ich am eigenen Leib gelernt, dass fast alles hier im Borderland Wunden hinterlässt.
"Hey, worüber denkst du denn jetzt schon wieder nach?"
"Nichts wichtiges"
Er sieht mich an wie als wüsste er, dass ich mir über Tayuya Gedanken mache. Nach einen kurzen, prüfenden Blick lässt er es glücklicherweise gut sein. Er drückt mich nur ein wenig mehr an sich und meine Gedanken nehmen eine positivere Wendung. Er sieht wieder ein wenig zu mir herunter, doch sein Blick ist nicht auf meine Augen gerichtet, sondern auf meine Lippen. Ich erkenne ein schelmisches Grinsen und erwidere es mit einem schiefen Lächeln.
Doch der Moment wird durch ein genervtes Stöhnen unterbrochen und wir springen sofort auseinander. Chishiya sieht mich mit einem kurzen, panischen Blick auf die Weste die ich trage an, weshalb ich nur nicke und in dem Badezimmer verschwinde. Höllische Schmerzen machen sich in meiner Rippengegend durch das schnelle Ausstehen breit, doch im Moment ignoriere ich sie. Ich bekomme mit wie Chishiya sich an der Couchtisch vor das Schachbrett setzt und eine nachdenkliche Miene aufsetzt. Bevor ich die Badezimmertür leise schließe kann ich noch erkennen, wie er die Hände vor seinem Mund faltet und seine Ellenbogen auf den Knien abstützt.
Keine Sekunde nachdem ich die Badezimmertür schließe stößt Niragi die Hotelzimmertür unsanft auf und ich kann vor meinem inneren Auge sehen, wie er einen gelangweilten Blick auflegt und sein Gewehr schultert.
"Chishiya, Neuzugänge sind da"
"Komme gleich"
Daher, dass ich kein Klacken höre errate ich, dass Niragi statt zu gehen gelangweilt im Türrahmen stehen bleibt und ungeduldig den Mann mit den weißen Strähnen ansieht. Ich höre wie der Sessel zurückfährt und erkenne sofort die Reaktion. Ich öffne leise den Reißverschluss er Weste und ziehe sie aus, als Chishiya eine Sekunde später in der Tür erscheint. Ich reiche ihm die Weste und er kann es nicht lassen mich einmal von oben bis unten zu mustern und dann leicht frech grinst, als er die Türe wieder hinter sich schließt.
Mit einem verlegenen Grinsen kaue ich sachte auf meinem Fingernagel und warte noch einige Zeit nachdem sie gegangen sind, bis ich mein eigenes Oberteil anziehe und behutsam aus dem Hotelzimmer schlüpfe. Mit einem Lächeln betrete ich mein Hotelzimmer und ziehe mir etwas anderes an, bevor ich nach unten laufe und wie erwartet Yuudai am Tischkicker treffe.
"Sayuuri", lacht er herzlich und wuschelt mir durch die Haare, wie als wäre ich seine kleine Cousine. Lachend ziehe ich seine Hand von meinem Kopf und automatisch machen wir unseren vor kurzen neu erfundenen Handschlag. Es fühlt sich so vertraut an, wie als würden wir es schon jahrelang tuen. Bei einem Trinkspiel Abends am Pool hatten wir die Idee uns einen Handschlag auszudenken, damit wir etwas haben was wir feierlich nach einem Sieg am Tischkicker präsentieren können. Die Leute reagieren nur mit einem Augenrollen, aber ich würde selbst nicht anders reagieren wenn ich gerade haushoch verloren hätte.
Ich stelle mich neben ihn und wir besiegen die anderen Teams wie eingespielt. Immer und immer wieder gewinnen wir und Katsu ist gerade losgegangen um uns etwas zur Stärkung zu holen.
"Sayuuri", reiß mich Anns Stimme aus meiner Konzentration. Wahrscheinlich möchte sie sich noch einmal meine Wunde ansehen. "Du wirst im Konferenzsaal erwartet"
Verwirrt sehe ich zu Ann, aber ihr Blick zeigt mir, dass keine Diskussionen erlaubt sind oder weitere Erklärungen folgen werten. Höchst wahrscheinlich hat der Hutmacher sie geschickt um mich zu holen. Ich will gerade entschuldigend etwas zu Yuudai sagen, doch er sieht mich mit einem verständnisvollen Blick an und gibt mir zu verstehen, dass er bereits weiß ich muss nun fort. Ich nicke meinem besten Freund hier einmal verstehend zu und folge dann der schwarzhaarigen Schönheit die Treppen hinauf. Dabei habe ich das leicht Gefühl beobachtet zu werden, doch da ich mehrere Blicke auch von Unbekannten spüre ist es mir gleichgültig und ich ignoriere es. Ich folge ihr einfach weiter in den Konferenzsaal.
Mein erster Blick fällt auf den Hutmacher, welcher freudig die Arme aus breitet als er mich sieht. Danach sehe ich prüfend zu Niragi, wenn er sein Gewehr auf der Schulter hat gibt es keine Gefahr. Wenn er den Kopf leicht an die Wand gelehnt hat, einem dann mit offenem Mund sowie hängendem Gewehr einen kurz mustert und dann spielerisch auf einen zukommt, schon. Es ist ziemlich still in dem Konferenzsaal, aber die Haltung der Führungsrege ist eher locker.
"Sayuuri?", höre ich eine ungläubige Stimme ausrufen und sehe verwirrt zu meiner Rechten. Zwei Personen sind an Stühle gefesselt, eine Frau und ein Mann. Das eine Gesicht kommt mir sehr bekannt vor und nach einer kurzen Überlegung grinse ich leicht.
"Arisu"
Ich spreche seinen Namen nicht zu erfreut aus, schließlich beobachten mich die hier anwesenden aus der Führungsrege und dem Militärtrupp. Dennoch bin ich irgendwie froh ihn wiederzusehen. Er hat es wirklich bis hier her geschafft und war höchst wahrscheinlich so dumm, den Männern aus dem Beach zu folgen. Innerliche Lache ich leicht. Wer könnte es ihm verdenken, ich meine ich war damals auch in diesem Konferenzsaal. Jedoch nicht gefesselt, was mich im Nachhinein ein wenig beruhigt.
"Ein Freund von dir?", fragt der Hutmacher interessiert und legt eine Hand sachte um sein Kinn. Er versucht diese Situation objektiv zu betrachten und an einen unschlüssigen Augen kann ich erkennen, dass er ihn noch nicht richtig eingeordnet hat. Er hat noch nicht beschlossen sie zu töten. Klar, nach der Fesselaktion wird er ihnen mit seiner Art drohen hierzubleiben, aber danach sollte das alles hier entspannt von statten gehen. Eben Vorsichtig aber sympathisch, um ihn im Besten Fall in sein Utopia aufzunehmen.
"Wir haben uns in einem Spiel kennengelernt", sage ich wahrheitsgemäß und der Hutmacher nickt mir nachdenkend zu. Arisu scheint nicht ganz so ausgeglichen wie die anderen hier in dem Raum, aber die wütende An-den-Seilen-Rütteln Fase hat er anscheinend schon hinter sich, was ich an der minimal aufgeschürften Haut knapp unter seinem kurzen Ärmel erkennen kann. Nach meinen Worten nickt er wild und sieht eine Sekunde leicht hoffnungsvoll zu mir, bevor er wieder zu dem Hutmacher sieht.
"Ja, ein Tik-Tak-Toe Spiel. Wir stiegen in einen Aufzug und mussten immer zwischen zwei Türen wählen, Leben oder Tod", beginnt er zu erklären und redet bei jedem Wort immer schneller, "Am Anfang haben wir auf gut Glück gespielt. Aber da war ein 5'23 vor der Tür, er . er ist ungefähr 4.94m lang, das Gebäude war ungefähr vier mal so groß. Durch das Abmessen des Raumes und den Notfallplan für dem Aufzug war klar...."
"Halt, halt, halt", unterbricht der Hutmacher ihn in aller Ruhe und winkt abweisend mit den Armen. Er geht einen Schritt auf die beiden Gefangenen zu und eine leichte Gin-Wolke kommt mir entgegen. Natürlich, mit einer Fahne ist es schwieriger Arisus schnellen Worten folgen zu können. "Verdammt, redet der Junge immer so schnell?"
Ich antworte erst gar nicht, da die Frage eher rhetorisch gemeint ist und für einen winzigen Moment sehe ich grinsend nach unten auf meine Schuhe.
"Er ist clever", fasse ich schlicht meine Meinung über Arisu zusammen und meine Gedanken gehen zurück zu dem Spiel, "Die Kreuz-3 war eigentlich sein verdienst. Ich war nur schneller und habe sie heimlich an mich genommen. Zudem war es sein allererstes Spiel"
Die Frau neben ihm sagt mir nichts, aber ich erinnere mich an die anderen Mitspieler. Das tote Schulmädchen, die nervige Geschäftsfrau. Und die beiden Männer, die ich als seine Freunde eingestuft habe. Arisu scheint nicht der Typ dafür, sie einfach zu verlassen was bedeuten muss die beiden sind gestorben. In einem Spiel, höchst wahrscheinlich in welchem auch Arisu war. Er würde seine Freunde nicht ohne ihn spielen lassen.
"Aguni und ich haben ebenfalls mit ihm gespielt", ertönt Chishiyas Stimme und ich sehe zu seinem Stuhl. Er sitzt ziemlich nahe an der Stuhlkante, den Oberkörper lässig nach hinten an die Stuhllehne angelegt und die Beine ausgestreckt. Sein Gesichtsausdruck spiegelt eine Mischung aus Langeweile und Belustigung wieder. "Mit ihm und seinen Freunden. Er hat zwar ein wenig gebraucht um auf die Lösung zu kommen, aber noch im vorgegeben Zeitrahmen"
Oh man. Einen hochnäsig, stichelnden Kommentar nach dem anderen. Wenn jemand vor mir bemerkt hat, dass seine Freunde wohlmöglich tot sind, dann Chishiya. Und dennoch erwähnt er es. An Arisus traurigem Blick kann ich erkennen, dass wir beide richtig liegen. Und dann noch der Seitenhieb, dass er selbstverständlich der mit Abstand klügere von beiden ist. Ich möchte nicht wissen, was er über die für gewöhnlich eintreffenden Neuzugänge zu sagen hat. Ebenso wenig möchte ich wissen, was er damals bei meinem ersten Mal in diesem Raum über mich zu sagen hatte anstatt zu schweigen wie er es getan hat.
Seine Stimmer erscheint in meinem Kopf, nur redet er eher wie ein Computer: "Schätzungsweise zweiundzwanzig Jahre alt. Kein vorzeigbarer oder nützlicher Beruf. Cheerleader-Uniform. Keine Fähigkeit im Umgang mit Waffen. Unzureichende Erfahrung. Überlebenschancen sehr niedrig. IQ dem Augenschein nach unter dem Durchschnitt. Strategie in den vorherigen Spielen: Glück. Geschätzte verbliebene Zeit im Borderland: Unter fünf Tagen."
Bei diesem Gedanken sehe ich schnell zur Seite und obwohl diese Worte mich heute kränken würden, mag ich es komischerweise, dass er so über mich gedacht haben wird. Denn das bedeutet ich bin nicht einmal für den Klügsten hier in diesem Raum völlig durchschaubar. Und ich schätze wohl diese Tatsache hat uns zusammengebracht. Mein kleiner Überraschungseffekt und seine unstillbare Neugierde.
Ich unterdrücke nur meine Augen zu verdrehen, als der Hutmacher beginnt die Regeln im Beach zu erklären und achte mehr auf die Betonung und Wortwahl, als auf das allgemein Gesagte. Es sind die gleichen immer wieder fallenden Regeln wie bei meinem ersten Treffen mit dem Hutmacher auch. Doch er scheint nicht mehr der selbe Mann zu sein wie damals. Er manipuliert die Menschen mit so einer Leichtigkeit, und doch macht er ihnen auch eines immer deutlicher klar: Es gibt kein Entkommen aus dem Beach. Mir hat es bisher nichts ausgemacht, da ich nie wirklich in der Situation von Arisu steckte. Viel Gutes ist mir hier widerfahren, aber die gefährlich werdende Situation hier lädt sich immer mehr mit Spannung.
Ich lehne mich getrost an die Stuhllehne von Ann und wir tauschen einen vielsagenden Blick aus, bevor wir wieder zum Hutmacher sehen.
"Er wollte dich dabei haben. Nummer 28, was?", flüstert Ann leise.
"Oh ja, reserviere mir aber nicht schon den Platz neben dir", antworte ich sarkastisch und höre nur ihr schnaufendes Grinsen, weshalb ich zufrieden nicke.
"Wie geht des deiner Bauchseite?"
"Wie von einem Auto angefahren", antworte ich und sehe zum ersten mal wieder zu ihr. Sie sieht mich fragend an und ein freches Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen. "Kein Scherz, wenn jemand das beurteilen kann, dann ich"
Wir beide kichern leise, wobei uns beiden diese Wahrheit absurd lächerlich vorkommt. Wir sehen zueinander und zum ersten Mal für heute sehe ich ihre kleinen Lachfalten an die Augen.
"Sayuuri", höre ich die laute Stimme des Hutmachers. Alle bis auf die Gefangenen sehen uns an und scheinen mitbekommen zu haben, wie wir gelacht haben. Doch die Stimme von Danma klingt nicht wütend, sondern eher Aufmerksamkeitserregend. "Du bist für heute entlassen, danke für deine professionelle Beurteilung"
Ich nicke ihm ein letztes Mal höflich zu und ohne auf irgendjemanden weiter großartig zu achten verlasse ich den Konferenzsaal. Ich habe mein wahrscheinlich bestmöglichstes für Arisu getan, mehr ist nicht mehr drinnen. Dass weiß ich. Hoffentlich hält er sich an die Regeln, ich möchte ihn ungern in einem der blauen Containern wiederfinden.