Im Schatten des Phönix

By Cliffhouse

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(AMBY AWARD WINNER 2023) Kira macht in Pompeji einen überraschenden Fund und gerät darauf in den Fokus einer... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40

Kapitel 4

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By Cliffhouse

Am nächsten Morgen erwachte Kira erst, als Lena in ihr Zimmer gepoltert kam.

„Hey, du Murmeltier! Du schläfst ja immer noch! Für mich übrigens ein eindeutiger Beweis, dass es ein Sonnenstich war ..."

Ächzend setzte sich Kira auf. Sie stöhnte. „Ist es schon so spät?"

„Ist es, ja", grinste Lena. „Es ist nicht nur spät, es ist ultrahyperspät! Fast schon elf Uhr!! Gib zu, du wolltest dich vor dem Küchendienst drücken! Wie geht es dir eigentlich? Besser?"

„Ja, ja, auf jeden Fall, ... mir geht es gut", brummte Kira und streckte ihre Arme nach vorne, um ein etwaiges Prickeln in ihren Händen besser spüren zu können. Doch da war nichts, wie sie erleichtert feststellte.

„Willst du schauen, ob dein Gleichgewichtssinn noch funktioniert? ", meinte Lena und ihre Nase kräuselte sich. „Ich an deiner Stelle würde mir heute nicht unbedingt wieder den Kopf von der Sonne verbrutzeln lassen!"

„Keine Sorge, das habe ich auch nicht vor." Auch ihre Kopfschmerzen waren verschwunden. Sie reckte sich noch einmal und stand dann schwungvoll auf, um Lenas Zweifel an ihrem Gesundheitszustand jegliche Grundlage zu entziehen.

„Dann ist es gut. Übrigens sollst du dich bei Simeon im Büro melden, er will irgendwas mit dir besprechen."

Schlagartig fühlte sich Kira weniger gut. „Was? Simeon? Ist er wieder aufgetaucht? Ich meine ... was will er von mir?"

„Hab ich doch gerade gesagt, er will etwas mit dir besprechen. Mehr weiß ich nicht. Wahrscheinlich fehlt ihm noch irgendetwas für die Dokumentation der Scherben, keine Ahnung."

Kira stützte das Kinn auf die Hände und überlegte. Nachdem sie Simeon am Vortag nicht hatte finden können, wusste sie immer noch nicht, ob er von den zwei Unbekannten in seinem Büro wusste. „Wann soll ich zu ihm? Hat er was gesagt?", fragte sie Lena nervös.

„Sobald du Zeit hast, meinte er. Was ist los? Warum bist du plötzlich so aufgeregt? Ist doch nichts Besonderes. Eben eine Dokumentation von noch so einem sterbenslangweiligen Fundstück. Keine große Sache."

„Ja, sterbenslangweilig, klar. Tut mir leid, ich bin wohl noch nicht ganz wach." Um den letzten Rest Schläfrigkeit loszuwerden, stand sie auf und spritzte sich energisch Wasser ins Gesicht. Sterbenslangweilig, hm, dachte sie. So wie auch der Fund des Eies, der Feuervogel und dieses seltsame Prickeln in den Händen. Dass sie nicht verstand, was ihr gestern widerfahren war, hinterließ bei ihr ein Gefühl von Hilflosigkeit. Ein Gefühl, mit dem sie noch nie gut hatte umgehen können. Verdrießlich griff sie nach ihrer Haarbürste.

Lena betrachtete sie verwundert. „Bist du eigentlich auf irgendwas wütend? Du malträtierst deine Haare ja so, dass sie bald schreien!"

Kira ließ die Bürste sinken. Eigentlich war sie nicht wirklich wütend. Sie fand es nur unwahrscheinlich frustrierend, niemandem etwas von ihrem Gedankenkarussell erzählen zu können.

„Ach nein, ich bin nur etwas durcheinander. Das hat mich doch ganz schön geschlaucht gestern." Sie würde versuchen, einen Schritt nach dem anderen zu machen und vorgehen, wie man es eben in der Archäologie machte: Fakten listen und an dem forschen, was man in der Hand hatte. Nur ... was hatte sie in der Hand? Nicht sonderlich viel. Die schwarzen Scherben hatte sie abgegeben. Wusste Simeon mittlerweile mehr über die Sache?

„Ich gehe gleich zu ihm", erklärte sie Lena. Dann fügte sie etwas lahm hinzu: „Nur verstehe ich nicht, was so wichtig sein soll." Sie versuchte, ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zu bändigen, aber ihre Locken schienen ein Eigenleben zu haben und schafften es von mal zu mal, der erwünschten Ordnung zu entkommen. Auch wenn sie ihre Haare Stunden bürsten würde, würden sie sich immer noch zu eigensinnigen Wellen kräuseln. Ihre Mutter sagte, es sei ihr siziLianisches Naturell, welches da unbezähmbar und wild zum Vorschein kam. Sie meinte, es sei dem Einfluss ihrer siziLianischen Urgroßmutter zuzuschreiben, die eine für die damalige Zeit fortschrittliche Emanzipation an den Tag gelegt hatte und der ein beachtlicher Starrsinn nachgesagt worden war.

„Ob du fünf Minuten früher oder später kommst, ist meiner Meinung nach egal. Ich meine ..., es geht hier nur um ein paar Scherben! Außerdem ist Simeon alt. Und geduldig zu sein, hat er mittlerweile in seinem Leben sicher gelernt. Wie alt ist er wohl? Über siebzig sicher, oder?!"

„Gute Frage. Jedenfalls hat er mehr Falten im Gesicht als Fäden in einem Spinnennetz sind."

„Kein schlechter Vergleich!", grinste Lena. „Sehr passend. Weil er hier ja auch die Fäden in der Hand hat. Zumindest kommt es einem manchmal so vor. Immer weiß er über alles Bescheid." Lachend lief sie zur Tür. Dann wandte sie sich noch einmal um und sagte gespielt streng: „Wie auch immer ...Vergiss nicht, dass du deinen Küchendienst noch ableisten musst! Um den kommst du nämlich nicht herum! Vor allem, weil ich mit dir Dienst habe! Also dann bis später! Ich warte in der Küche auf dich!"

Kira nickte. Als Lena zur Tür hinaus war, überlegte sie, ob Lena Recht hatte. Wusste Simeon über alles Bescheid? Aber er hatte doch sehr überrascht gewirkt, als sie von dem Ei geredet hatte. Das also hatte er nicht gewusst! Aber wollte er sie wirklich nur wegen der Dokumentation der Scherben sehen? Warum diese plötzliche Dringlichkeit? Gestern hatte er nicht so gewirkt, als ob die Dokumentation ihres Fundes die oberste Priorität für ihn hätte. Nach wie vor sagte ihr jedoch ein hartnäckiges Gefühl, dass er nicht nur ein harmloser, alter Herr war, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Pompeji und seine alten Steine zu katalogisieren. Er schien Geheimnisse zu haben. Sie würde vorsichtig sein. Und sie würde versuchen, herauszufinden, warum er das letzte Mal so fluchtartig das Büro verlassen hatte.
*
„Herein! Immer nur herein!", rief Simeon, als sie gegen Mittag mit klopfendem Herzen an seine Bürotür klopfte.

Wieder saß der Sachverwalter am Schreibtisch hinter seinen Papierstapeln. Hatte sie am Tag zuvor seine Seelenruhe beeindruckt, war heute jedoch nichts mehr davon zu spüren. Er schaute ihr mit gespannter Aufmerksamkeit entgegen, und die Finger seiner rechten Hand vollführten auf der Tischplatte einen Trommelwirbel. In seinem Blick lag eine Erwartungshaltung, so als würde er gerade irgendwelche Mutmaßungen über sie anstellen. Hing es mit den schwarzen Scherben zusammen? Irgendetwas war da seltsam.

„Ah, da bist du ja, Mädchen! Schließ die Tür, damit wir ungestört sind!" Ungestört will er sein? Warum auf einmal diese Heimlichtuerei? Wer darf nicht hören, was er mir zu sagen hat?

Die schwere Holztür schrammte über die ungleichen Steinplatten, als sie sie zögernd hinter sich zuschob. Das dumpfe Geräusch, als sie ins Schloss fiel, hatte etwas Irreversibles, was sie definitiv noch nervöser machte, als sie sowieso schon war. Zögernd wandte sie sich zu ihm um.

Der Sachverwalter wies höflich auf einen alten Holzstuhl ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs. „Setz dich doch, bitte sehr." Es klang sehr förmlich. Hatte er den Stuhl extra für sie dort hingestellt? Für eine einfache Dokumentation von Scherben? Ihr wurde es immer unwohler.

Sie setzte sich auf den äußeren Rand des beunruhigend instabil aussehenden Stuhls, was dieser auch prompt mit einem Quietschen quittierte. Wenn jetzt der Stuhl zusammenkracht, kriege ich eine Panikattacke. Oder einen nervösen Lachanfall. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht auf der Sitzfläche. Sie fühlte sich wie ein Schulmädchen, das zum Schulleiter zitiert worden war. Nur wusste sie nicht, was sie angestellt hatte. Und ob sie nun schuldig war oder nicht.

Ihr Blick wanderte zu der Pinnwand hinter Simeon. Dort hing, wie sie mit Schrecken feststellte, die Karte mit der Porta Nigra. Auch das noch! Er hatte die Postkarte also gefunden. Nervös zwirbelte sie an einer Haarsträhne herum, eine Angewohnheit von ihr, die schon manchen Lehrer früher in der Schule genervt hatte.

Simeon war ihrem Blick gefolgt. Versonnen brummte er: „Die altehrwürdige Porta Nigra, jaja ...Gehe ich Recht in der Annahme, dass du es warst, die die Karte gefunden hat?"

Er hatte die Frage beiläufig gestellt, doch sie spürte, wie ihr direkt die Hitze ins Gesicht stieg. Wenn er eins und eins zusammenzählen konnte, wusste er jetzt, dass sie unter seinem Schreibtisch herumgekrochen war. Würde sie gleich einen Rüffel kassieren? Sie war unerlaubterweise unter seinem Schreibtisch herumgekrochen ... Oh Gott, was machte das denn für einen Eindruck?

„Äh, ja, sie lag auf dem Boden, ich hab sie ganz zufällig dort gef..."

„Schon gut, schon gut ...", winkte Simeon ab, ohne dass er ihre Befangenheit zu bemerken schien. „Ich muss gestehen, mir ist es komplett entgangen, dass sie fehlte. So gut ich im Katalogisieren von Fundstücken bin, so wenig schaffe ich es, meinen eigenen Kram in Ordnung zu halten. Danke, dass du sie aufgehoben hast."

Er stand auf und trat zu der rückwärtigen Pinnwand. Direkt vor der Postkarte mit der Porta Nigra blieb er stehen, mit dem Rücken zu ihr.

„Die alte Porta ...", murmelte er, „sie weckt Erinnerungen... Es war äußerst schwierig damals, zermürbend würde ich sagen. Die alten Mauern, die alte Stadt ... Hm, nun ja, die Zeiten ändern sich."

„Sie kennen die Porta Nigra?", rief Kira verblüfft. Sie wusste nicht, in welchen Erinnerungen er gerade schwelgte, aber es hörte sich ja gerade so an, als hätte er in Trier gelebt!

„Und ob ich sie kenne", antwortete der Sachverwalter und seufzte. „Sehr gut sogar. Das alte Gemäuer hat es mir sehr angetan. Alte Gemäuer, alte Steine, fast so alt wie ich ..." Wieder lachte er sein leises Lachen. Dann räusperte er sich. „Aber nun ja, Italien hat auch seine Reize. Und der pompejische Sommer ist besser für meine alten Glieder als der unerbittliche Regen und die Kälte in Trier ... Es ist ein Kreuz mit diesem Kreuz, weißt du? Es zwickt und zwackt, und wird mich eines Tages noch umbringen." Stöhnend schob er die Hände in die Seiten und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.

„Aber lassen wir die alten Zeiten ruhen ..."

Kira hatte ihm verwundert zugehört. Der alte Mann schien Trier gut zu kennen. Er kannte ihre Heimatstadt! Unwillkürlich wurde sie von Sympathie für den alten Mann erfasst, der selbst wie ein Artefakt wirkte und seelenruhig im Dunkel seines Arbeitszimmers über irgendwelchen Funden brütete. Ob er wohl immer noch so gelassen wäre, wenn sie ihm von den zwei Unbekannten in seinem Büro erzählte? Würde er ihr nicht vorwerfen, bei ihm genauso herumgeschnüffelt zu haben? Eigentlich wäre es nur fair, ihm davon zu berichten.

Simeon musterte sie nachdenklich. Mit Daumen und Zeigefinger strich er versonnen über seinen Bart. Dann fragte er: „Was ist? Du willst mir doch noch etwas sagen, oder?"

Da nahm sie allen Mut zusammen. „Als ich die Karte unter dem Schreibtisch holen wollte,...", begann sie, „... da kamen zwei Männer in Ihr Büro. Sie haben etwas gesucht."

Überrascht sah Simeon auf. „Was redest du da? Wer soll in meinem Büro gewesen sein?" So wie er sie ansah, beschlich sie irgendwie das Gefühl, er würde ihr vielleicht keinen Glauben schenken.

„Wer es war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sei zu zweit waren. Und dass sie in Ihren Notizen gestöbert haben ..."

„Das ist ja allerhand!" Simeons Brauen waren nach oben gerutscht. Erleichtert merkte sie, dass es ihn nicht weiter zu interessieren schien, dass sie unter seinem Schreibtisch gehockt war.

„Zwei Männer? Seltsam ... „ Romano runzelte die Stirn und sprach dann wie zu sich selbst. „Sollte womöglich Albiel ...? Aber nein, unmöglich, er ist noch gar nicht da. Und er arbeitet allein."

Nach einem prüfenden Blick auf seinen Schreibtisch nahm Romano den Ordner mit den Aufzeichnungen und blätterte ihn durch. „Mir scheint hier alles in Ordnung zu sein. Du musst dich geirrt haben", murmelte er. „Oder es ist schlimmer als ich dachte ..."

„Was ist schlimmer? Und wer ist Albiel?" Irgendetwas Seltsames passierte hier.

„Eins nach dem anderen, eins nach dem anderen ... Du hast also die Eierschalen gefunden?" Er räusperte sich.

Stumm nickte sie.

„Kannst du mir mehr darüber erzählen?", bat er und sah sie eindringlich an. „Gibt es irgendetwas, was dir aufgefallen ist? Ein heller Streifen im Gestein, ein Leuchten oder sonst etwas Seltsames? Es ist wichtig, musst du wissen."

Überrascht sah sie ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Woher wusste er davon? An seinem Blick versuchte sie zu ergründen, ob er von dem Vogel wusste, aber es war aussichtslos. An seiner interessierten, von Runzeln zerfurchten Miene konnte sie es nicht ablesen.

„Also?", sagte er sanft.

Kira wand sich auf ihrem Stuhl. Ihr widerstrebte es, den alten Mann zu belügen. Aber würde er sie nicht für verrückt erklären?

Simeon wartete geduldig. Ihr Zögern schien ihn hoffnungsvoll zu stimmen.

„Naja, wie soll ich sagen ...", begann sie. „Falls es irgendwie von Bedeutung ist ... es gab da tatsächlich ein Strahlen, jedenfalls so etwas in der Art, eine gewisse Wärme, die von dem Ei ausging. Das anfangs übrigens golden war."

Simeon gab einen kurzen, überraschten Ausruf von sich. „Ach, du meine Güte!", rief er. Ihre Aussage schien ihn gehörig aus dem Konzept gebracht zu haben. „Das Ei, war es ... unversehrt?" Er durchbohrte sie mit Blicken, als wolle er einen Strahl in sie brennen.

Sie nickte zögernd.

"Was ist passiert? Sag es mir!" Das hoffnungsvolle Drängen in seinen Augen brachte ihren Entschluss ins Wanken, nichts von dem Vogel zu sagen. Gleichzeitig wurde sie von fiebriger Unruhe erfasst. Ging er davon aus, dass sie tatsächlich ein goldenes Ei gefunden hatte? Hatte sie nicht halluziniert? Was, wenn es nun wirklich ein echter Vogel gewesen war?

„Ich habe es nicht absichtlich fallen lassen", brach es wie von selbst plötzlich aus ihr hervor, „das wollte ich nicht, aber es wurde plötzlich so heiß, dass ich es nicht mehr halten konnte. Dann gab es diese Explosion und der Vogel ist weggeflogen ..." Mit ihrem Gestammel hätte jeder sie für verrückt erklärt. Ab in die Klapse, aber auf direktem Weg!

Simeon aber war aufgestanden, ganz langsam wie in Zeitlupe, und beugte sich nun weit über den Schreibtisch zu ihr hinüber. Seine Augen glänzten fiebrig, als er sagte: „Ich weiß nicht, Mädchen, inwieweit dir klar ist, was du da für einen Fund gemacht hast." Seine Stimme klang brüchig. „Es bedeutet, es bedeutet ..."

Er beendete seinen Satz nicht und rollte nur mit den Augen, als sei er verrückt geworden. Kira rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. War der alte Mann noch zurechnungsfähig? Und wenn ja, - maß er der Sache nicht zu viel Bedeutung bei? Er tat ja gerade so, als hätte sie den heiligen Gral gefunden!

„Naja, ich weiß nicht, ob die schwarzen Eierschalen wirklich so bedeutungsv...", versuchte sie ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Doch der Sachverwalter ließ sie nicht zu Wort kommen. Sein langer Zeigefinger fuchtelte belehrend vor ihrer Nase hin und her. „Du hast viel, viel mehr als nur schwarze Eierschalen gefunden, mein Kind!" Sein Blick wurde beinahe feierlich: „Um die Wahrheit zu sagen, hast du etwas gefunden, nach dem ich sehr lange gesucht habe. Diese Schalen ..." Er atmete geräuschvoll aus, richtete sich auf seinem Schreibtischstuhl auf und fuhr dann sichtlich bewegt fort: „... diese Schalen stammen von einem legendären Vogel. Ein Vogel, der bekannt dafür ist, dass er sich aus den Flammen erhebt und im Besitz eines machtvollen Lichtes ist..." Bei den letzten Worten hatte sich seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Kira wagte kaum zu atmen. Der heilige Ernst, mit dem er die Worte vorgebracht hatte, ließ sie schlucken.

„Ich habe mir diesen Vogel mit den goldroten Federn also nicht eingebildet", hauchte sie und blickte ihn erschüttert an.

„Ha!", rief Simeon. Er stand auf und lief unruhig auf und ab. Dabei sprach er wie zu sich selbst: „Ich wusste es! Meine Güte, sie hat einen Phönix gefunden!" Seine Stimme zitterte.

„Ich habe einen Phönix gefunden?", echote Kira gedehnt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte die Tischplatte vor sich fest mit beiden Händen gepackt, im krampfhaften Versuch, den Bezug zur Realität nicht zu verlieren. Ihre Freude darüber, einen im wahrsten Sinne des Wortes fantastischen Fund gemacht zu haben, währte nur kurz. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf.

„Es kann überhaupt nicht sein", sagte sie. „Es gibt keine Phönixe. Physikalisch gesehen ist das alles unmöglich." Mit zusammengekniffenen Lippen blickte sie Simeon an.

„Legenden haben lange Beine, also eile", bemerkte er nur rätselhaft. Doch sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

„Erstens", fing sie an, "kann ein adlergroßer, ausgewachsener Vogel nicht aus einem faustgroßen Ei schlüpfen. Zweitens: ein Ei kann nicht von Lava überrollt werden, mehrere Jahrhunderte in Vulkanasche überdauern und dann – schwups – einfach einem Vogel das Leben schenken. Es ist un-mög-lich."

„Ich verstehe, dass du das alles erst mal verarbeiten musst", brummte Simeon. „Es ist ja auch nicht gerade gewöhnlich, einem Phönix zu begegnen ... geschweige denn, ihn schlüpfen zu sehen. Man kann es in der Tat als äußerst selten bezeichnen. Und es wissenschaftlich zu belegen, ... tja, ... das wird wohl tatsächlich nicht möglich sein." Entschuldigend drehte er die Handflächen nach oben. Dann sagte er leise: „Es muss ein Funke Leben in dem Ei gewesen sein, der die Zeit überdauert hat. Ein einziger Funke reicht aus, um ein Feuer zu entfachen." Nachdenklich sah er sie an und sie fühlte sich unwillkürlich ertappt. Der alte Mann wusste, dass sie nichts glaubte, was sie nicht begreifen konnte.

„Der Feuervogel lässt sich nicht in ein wissenschaftliches Schema pressen." Ein leises Schmunzeln lag auf seinen Lippen. „Hast du schon einmal versucht, eine Legende durch den Mixer zu jagen? Da bleiben nur noch Hackschnitzel übrig. Ein Phönix entzieht sich jeder Logik. Der Feuervogel ist von Natur aus ein Paradox. Er ist eine Legende, aus Asche entstanden, im Feuer vergehend, Symbol des unsterblichen Lebens. Immer jung und doch Jahrhunderte alt. Der neue Phönix hatte alle Zeit der Welt, sich in dem Ei zu entwickeln, kann man sagen." Nachdenklich fuhr er mit dem Finger über das alte Holz des Schreibtischs.

„Und er starb nicht?", fragte Kira misstrauisch.

„Ein Funke in ihm hat die Zeit überdauert. Du weißt ja, ein einziger Funke reicht aus, um ein Feuer zu entfachen. Das Feuer eines neuen Lebens! Nicht einmal Jahrhunderte schweren Basaltgesteins konnten diesen Funken bezwingen. Es ist ein Phänomen ..."

Kira verschluckte sich fast. „Sie versuchen mir gerade zu sagen, dass das Ei durch den Vulkanausbruch verschüttet wurde und der neue Feuervogel nicht schlüpfen konnte und einfach ... gewartet hat? Dass sich der Prozess ... wie soll ich sagen ... einfach nur verzögert hat? Um knappe zweitausend Jahre?"

„So ist es, ja."

„Oh Gott!" Kira schlug die Hand vor den Mund. Sie unterdrückte ein nervöses Kichern. „Das ist ja irre!"

„Irre oder wunderbar, bezeichne es wie du willst."

Sie fragte sich, ob entweder der alte Mann oder sie selbst komplett verrückt geworden war. Oder alle beide. Woher kam dieser plötzliche, ausgeprägte Hang zu Tagträumereien? Die Erlebnisse letzte Nacht waren ja auch nicht wirklich alltäglich. Das konnte doch alles gar nicht sein! Ein vernünftiger Mensch konnte nicht an Phönixe glauben!

„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?", sagte sie schließlich kaum vernehmbar.

Simeon schmunzelte. „Das schaffen meine alten Arme nicht, meine Liebe." Nach einer kurzen Pause fügte er nachdenklich hinzu: „Kira, auf wunderbare Weise ist es dir gelungen, den Phönix aus seinem steinernen Grab zu befreien. Ich habe schon seit Menschengedenken keine mehr gesehen. Früher gab es etliche davon ..." Ein sehnsuchtsvoller Blick huschte über seine Züge. Dann wurde er wieder ernst. „Doch sie fielen Machtspielen und Kriegen zum Opfer und verschwanden für immer. Du musst wissen, für das machtvolle Licht des Phönix' wurde gemordet und gebrandschatzt." Traurig blickte er sie an.

Kira starrte ihn ungläubig an. „Das hört sich nach einer Legende an", stotterte sie langsam.

Doch Simeon fuhr unbeirrt fort. „All die Jahre wusste ich, dass der Feuervogel in Pompeji beheimatet war, all die Jahre habe ich gehofft, dass wir auf einen stoßen. Doch Jahr für Jahr wurde ich enttäuscht und meine Hoffnung schwand. Nun endlich ist es soweit, wir haben Gewissheit!" Mit leuchtenden Augen blickte er sie an.

Sie hatte das dringende Bedürfnis, einen Eimer mit kaltem Wasser über sich zu kippen. Oder zumindest irgendeine Logik in das Ganze zu bringen. „Also ... nur um das jetzt mal zusammenzufassen", begann sie und schluckte schwer , „das Ei, das ich gefunden habe, ist zersprungen, worauf es schwarz wurde, und ein Vogel - wahrscheinlich der aus dem Ei -, flog weg. Bei dem Vogel handelt es sich vermutlich um den Phönix. Und er hat irgendwelche mächtigen Kräfte, so dass es schon Mord und Totschlag wegen ihm gab. Richtig?"

„Richtig", nickte Simeon.

„Äh ... tut mir leid, aber das glaubt ja kein Mensch." Sie hatte den Stuhl zurückgeschoben und verkreuzte die Arme vor der Brust.

Simeon zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, es ist schwer vorstellbar. Trotzdem ist es so."

„Aber ...", protestierte sie. „Woher wissen Sie, dass der Phönix in Pompeji beheimatet war? Diese Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage."

„Hierfür gibt es eine einfache Antwort. Ich studiere in Pompeji seit vielen Jahren interessante Funde. Dabei bin ich bei mehreren Fresken auf den Phönix gestoßen, manchmal befand er sich nur im Hintergrund, manchmal war er auch gut erkennbar. Die Pompejianer verehrten den Feuervogel, sie verewigten ihn in Mosaiken, Teppichen und Wandmalereien. Bei Gelegenheit kann ich dir so ein Fresko mal zeigen."

Oh Gott! Wenn er nun Recht hatte? Seine Argumente hörten sich vernünftig an. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass er belegbare Fakten hatte, es gab wohl tatsächlich Abbildungen des Phönix' hier in Pompeji. Wenn alles stimmte, hatte sie weder einen Sonnenstich gehabt noch Halluzinationen. Eigentlich ein gutes Gefühl. Erleichtert atmete sie aus. „Ich kann es immer noch nicht glauben ... ich habe also nicht fantasiert? Dieser flammende Vogel ... war echt? Das ist unglaublich! Niemand hat je einen Feuervogel gesehen! Und jetzt soll das einfach mir passiert sein? Beim Steineausgraben? Das ist ja total abgefahren! Aber ..." Sie brachte ein schiefes Grinsen zustande. „Was tun wir jetzt? Ich meine ... Verständigen wir den Tierschutz oder so?"

„Nein!", schnitt Simeon ihr eilig das Wort ab. „Über die Existenz des Phönix' muss Stillschweigen bewahrt werden. Nichts darf davon nach außen dringen. Je weniger davon wissen, desto besser. Die Welt ist eine gierige, bald schon würde ein wilder Kampf um den Vogel und seine Einzigartigkeit entbrennen. Schon jetzt gibt es gegnerische Kräfte, die Wind davon bekommen haben, dass ein neuer Phönix aufgetaucht ist."

Kira sah überrascht auf. „Wie bitte? Was für gegnerische Kräfte? Was soll das nun schon wieder?"

Simeon hob die Arme und ließ sie entkräftet sinken. „Wissen ist ganz unzweifelhaft besser als Nicht-Wissen. Nun denn, dann will ich es dir nicht verschweigen ... Es gibt einen Geheimbund, eine Organisation, deren Mitglieder darauf aus sind, den letzten Phönix in ihre Gewalt zu bringen. Die Scuros, ursprünglich ein altes, unterdrücktes Volk unter Marc Aurel, sehen sich als Kämpfer der Unabhängigkeit und schrecken weder vor Gewalt noch vor Mord zurück. Ihre Macht ist in den vergangenen Jahren gewachsen." Er warf ihr eine Blick zu, der eine Mischung aus Mitgefühl, Bedauern und Wieviel-Wahrheit-erträgst-du.

„Oh", entfuhr es Kira. „Und was wollen diese Scuros?"

„Ihr Ziel ist es, den Phönix in einen zerstörerischen Dunkelvogel zu transformieren und mit seiner Kraft Politik und Wirtschaft des Staates an sich zu reißen."

Kira schluckte. In ihrem Magen hatte sich ein harter Klumpen gebildet. „Ach, nur das?", krächzte sie.

„Eine Legende besagt, dass derjenige die Macht in Händen haben wird, der den Dunkelvogel erschafft. Korbinian ist besessen davon. Er giert danach, Marc Aurels damaligen Einfluss zu übertreffen und will das alte römische Reich unter sich neu entstehen lassen."

„Ein neues römisches Reich?" Kira hielt sich benommen am Tisch fest. „Das würde die Welt karte etwas verändern."

Simeon nickte. „Es heißt, dass das Entstehen eines Dunkelvogels die Welt in ihren Grundfesten erschüttern kann. Wenn der Phönix den Scuros in die Hände fiele, käme dies einer Katastrophe gleich."

Kira starrte ihn ungläubig an. Wahrscheinlich war der alte Mann doch verrückt. Ganz zweifellos. „Gibt es dazu auch eine Legende?", ächzte sie.

„So steht es in den Alten Schriften geschrieben. 'Wenn das Licht des letzten Phönix erlischt, erlischt jede Flamme und Dunkelheit senkt sich nieder.' Der Himmel stehe uns bei, dass dies nicht geschieht!"

Ein Gedanke durchzuckte sie. „Und könnte es sein, dass das Ei, das ich gefunden habe, das allerletzte war?"

„Das weiß nur Gott, mein Kind. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass noch ein Phönix-Ei just in dem Moment von Lava begraben wurde, als es gelegt wurde. Wie du gesehen hast, schlüpfen Phönixe sehr schnell ... Dass unser pompejischer Feuervogel überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Wir müssen alles daransetzen, um ihn vor den Scuros zu schützen. Dein Ei könnte in der Tat das letzte gewesen sein." Er hatte sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt und blickte sie eindringlich an.

Kira holte geräuschvoll Luft. „Wie soll man ihn beschützen, wenn man gar nicht weiß, wo er ist? Wie kann er gefunden werden?"

Die Ernsthaftigkeit in Simeons Augen jagte ihr Angst ein.

„Phönixe kehren früher oder später immer zu demjenigen zurück, der sie gefunden hat. Nicht du wirst ihn finden, Kira. Er wird dich finden! Zwischen euch wurde ein Band geknüpft, das untrennbar ist. Du wirst es spüren, wenn sein Schatten auf dich fällt. Du bist diejenige, die ihn in Sicherheit bringen wird."

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