Ich merke wie ich langsam wach werde und aus einem schönen Traum aufwache. Die friedliche Landschaft verdunkelt sich immer mehr und in den Vordergrund rückt ein rabenschwarzes Bild. Ich lasse meine Augen noch geschlossen, wenigstens für eine Weile. Ich finde mich gerade nach so langer Zeit mit der Realität zurecht, was das Borderland ist und was es bedeutet hier zu sein. Aber der Kontrast zu meinem Traum und dem was mich erwartet, wenn ich aufwache ist selbst mir zu viel. Ich drehe mich in Richtung der Fensterwand und sehe zu, wie sich einzelne Stellen des dunklen Nichts erhellen und die Sonnenstrahlen durch meine Augenlieder sickern.
Als ich meine Augen schließlich öffne, fällt mir sofort meine schwarze Trainingstasche auf welche mitten im Raum steht. Niragi muss hier gewesen sein. Da ich seit mehreren Tagen zum ersten Mal in meinem eigenen Bett geschlafen habe, hat er wahrscheinlich angenommen dass ich es nicht mehr für notwendig halte bei ihm zu schlafen. Mein Zeitgefühl ist durcheinander, ich weiß nicht einmal ob die Sonne langsam unter- oder aufgeht. Ich quäle mich aus der weichen und gemütlichen Bettdecke, was mir ziemlich schwer fällt.
Ich schwinge meine Beine über die Bettkante und stütze meine Ellenbogen auf die Knie. Ich streiche mir die in meinem Gesicht klebenden Haarsträhnen nach hinten und bemerke ein kaum unmerkbares Zittern an meinen Händen. Ich war glücklicherweise so erschöpft, dass ich nicht durch die Nebenwirkungen aus meinem dringend überfälligen Schlaf herausgerissen wurde.
Ich verweile noch eine Sekunde so, dann richte ich mich auf und laufe zum Badezimmer. Ich streife meine Kleidung ab, lasse sie unachtsam auf dem Boden liegen und springe unter die Dusche.
Das kalte Wasser lässt mich einigermaßen wach werden und mein Kopf wird klarer. Als ich das Wasser abstelle, wickele ich mir ein Handtuch um den Körper und laufe wieder in das Hauptzimmer, um mir meine normale Beachkleidung anzuziehen. Doch sobald ich aus der Badezimmertür trete schlingen sich zwei Arme um mich und ich spüre nur ein bekanntes Kitzeln an meiner Nase.
"Kuina, kann ich mir erst etwas anziehen bevor du mich zu Tode drückst?"
"Halt die Klappe", murmelt sie streng und verstärkt den Druck um meinen Hals, "Du bist mehrere Tage verschwunden und ich hatte Angst dir ist etwas passiert"
"Mir geht es gut Kuina, außer dass ich hier fast nackt dastehe", lache ich, freue mich aber irgendwie um ihre Besorgnis. Doch dann kommt mir wieder in den Sinn, dass sie vermutlich von Chishiyas Strategie, Tayuya zu küssen, wusste und es mir verheimlicht hat. Mein Körper spannt sich bei dem Gedanken kurz an, aber wenn ich Chishiya vergeben habe sollte ich es bei ihr gleichtun.
"Du warst nirgends auf den Überwachungsbändern zu sehen. Ich habe dich auch ohne Chishiya gesucht, ich wollte nur mit dir reden und...."
"Kuina", unterbreche ich sie und löse mich aus der Umarmung, "Alles gut, für mich hat sich nichts zwischen uns geändert." Sie hat einen Ausdruck der Erleichterung in ihrem Gesicht, doch sie versucht es zu verbergen. Ich lächele dabei und sehe bedeutend an mir herunter. "Kann ich mich jetzt anziehen?"
"Ja, aber Satoru erwartet uns danach an der Poolanlage. Heute sollen einige Leute eine Comedieshow aufführen und er hat sich schon ein Trinkspiel ausgedacht"
Ich verschwinde mit meinem weißen, griechisch angehauchten Kleid im Badezimmer und ziehe mich um, während ich mich weiter mit ihr unterhalte.
"Bin dabei"
"Chishiya meinte du warst bei Niragi. Hat er dir wirklich nichts getan?"
"Nein, er wollte mich einmal küssen. Aber nachdem ich ihm die Nase zerquetscht habe, hat er Ruhe gegeben und sich eher um mich gekümmert", sage ich ehrlich. Ich verstehe warum alle denken Niragi hätte mir etwas getan, vielleicht war meine Entscheidung bei ihm zu wohnen auch impulsiv und emotional, aber er hat sich zusammengenommen. Er hat mir sogar Eis gebracht, weswegen ich ihn wahrscheinlich vor allen verteidige.
"Wird das zu deiner Gewohnheit, das mit seiner Nase?"
"Keine Ahnung, aber es ist witzig"
"Und tödlich", bemerkt Kuina besorgt, bevor ich aus dem Badezimmer komme und nur mit den Schultern zucke. Bevor sie die Zimmertür ansteuern kann um in den Poolbereich zu gelangen, laufe ich zu der Bar und fülle zwei Gläser zwei Finger breit mit Weißwein, dann setze ich mich kurz auf die Couch und stelle das Glas bedeutend auf den freien Platz neben mir. Die Frau versteht und setzt sich neben mich, nachdem ich einen Schluck trinke nimmt sie auch ihr Glas schweigend entgegen. Auch wenn ich nicht mehr wütend auf sie bin, unschlüssig darüber ob ich es jemals war, ich brauche eine Antwort.
"Hast du davon gewusst?"
"Das Chishiya soweit gehen würde für seinen Plan, ja", sagt sie direkt und ich bin dankbar dafür. Lügen oder ausschweifende Erklärungen brauche ich nicht, nur die Wahrheit.
"Und warst du dir sicher?"
"Erst als er es mir erzählt hat, nachdem du verschwunden bist", sagt sie und schaut in ihr Glas herunter. Eigentlich hätte sich sie während eines Kartenspiels gefragt, da ich gerade erst wach geworden bin. Aber zum einen bin ich mir nicht sicher, ob in meinem Hotelzimmer eins liegt und zum anderen versuche ich mit dem Alkohol mein Zittern wegzubekommen.
"Hätte er es mir vorher erzähl oder wäre es an einem anderen Tag gewesen, hätte ich vermutlich nicht so reagiert", sage ich ehrlich, als ich ihren Blick bemerke. Wem soll ich mich schon anvertrauen, wenn nicht Kuina?
"Ich weiß", sagt sie verständnisvoll und sieht mich danach mit einer Mischung aus ihrem üblichen Blick und sanfter Zurückhaltung an, "Wegen eurem Date?"
Ich antworte nicht und sehe wie Kuina zuvor in mein Glas. Ich brauche nicht einmal etwas sagen, meine Wangen färben sich rötlich und normalerweise würde ich es mit meinen Haaren kaschieren, doch da sie immer noch nass sind liegen meine Wangen frei.
"Ist wohl gut gelaufen", grinst sie freundschaftlich und ich verdrehe nur die Augen. An ihrem Tonfall erkenne ich genau, dass Chishiya ihr nichts erzählt hat. Doch Kuina ist schlau, sie weiß genau wie unser Date verlaufen ist.
"Wollen wir los?", frage ich mit einem amüsierten Grinsen und Kuina nickt nur stumm. Ich laufe motiviert an ihr vorbei, dennoch kann ich ihr Grinsen hinter mir spüren.
"Satoru", begrüße ich schon wenige Minuten danach den Mann, welcher schon einen der Gruppentische an der Poolanlage besetzt hat. Sofort springt er auf und nimmt seinen Hut ab, um sich mit einem schälmischen Lächeln leicht zu verbeugen. Ich schüttele nur lachend den Kopf und rutsche nach Kuina auf die Bank. "Dann erzähl uns mal, wie dein Trinkspiel funktioniert"
"In Ordnung. Nummer eins: wenn man lacht, muss man einen Schluck trinken", beginnt er aufzuzählen und ich schüttele nur leicht meinen Kopf.
"Kuina, dann musst du mich wahrscheinlich auf mein Zimmer tragen", sage ich ehrlich.
"Abgemacht", sagt sie und wir sehen wartend zu Satoru.
"Nummer zwei, trifft der Militärtrupp das arme Schwein auf der Bühne mit einer Tomate, trinken wir zwei Schlucke"
"Tomaten, ernsthaft?", frage ich und sehe zu dem Militärtrupp auf der anderen Seite des Pools. Tatsächlich stehen neben ihnen Eimer mit dem roten Gemüse und Niragi hält schon eine davon wurfbereit in der Hand.
"Nummer drei: schießt der Militärtrupp auf jemanden, müssen wir unser Glas exen. Das gilt auch, wenn sie danebenschießen oder nicht die Absicht hatten, denjenigen zu töten"
"Wir sterben wohl heute an einer Alkoholvergiftung", sagt Kuina trocken und nimmt sich eine Flasche Sekt. Ich halte ihr ebenfalls mein Glas hin, da ich noch nichts gegessen habe und nicht mit hartem Alkohol anfangen möchte.
"Wehe ihr fangt ohne uns an", höre ich Ann mit einer gespielt herrischen Stimme, als sie vor uns stehen bleibt und die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihr kommen Izumi, Yuudai und Katsu zum Vorschein welche sich alle zu uns auf die Bank setzen. Jeder von ihnen schenkt sich ebenfalls ein Glas ein und ihren neugierigen Blicken zu der provisorisch aufgebauten Bühne nach kennen sie die Spielregeln schon. Die meisten Lichter auf der Anlage dimmen sich und der Hutmacher tritt aus die Bühne, wo er die Arme einladend ausbreitet und mit geschlossenen Augen den Applaus genießt.
"Ich sehe schon, wie ungeduldig ihr alle seit. Also ohne große Worte, lasst das Spektakel beginnen", sagt er mit einer schwungvollen Stimme und genießt noch einen Moment das Rampenlicht, bevor er sich zwischen Mira und Aguni setzt.
Wie die anderen Mitglieder applaudieren wir, wenn auch nur sperrig und dann beginnt die Show. Auch wenn ich den Personen auf der Bühne zuhöre, liegt meine Aufmerksamkeit doch bei meinen Freunden. Ich beobachte ihre Blicke und wie sie alle gespannt nach vorne sehen. Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, als ich Kuinas laute Lache höre oder Anns zurückhaltendes Schmunzeln. Ich sehe wie Yuudai Izumi liebevoll auf die Wange küsst und ihre Hand nimmt. Wie Katsu nur zurückhaltende Schlucke trinkt und die wild herumgestikulierenden Gesten von Satoru. In diesem Moment wird mir erst wirklich bewusst, wie sehr ich sie alle vermisst habe. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie lange es zurückliegt, dass ich jeden einzelnen von ihnen kennengelernt habe. Mein Leben hier im Hotel wäre ohne sie langweilig und quälend gewesen. Jeder einzelne von ihnen ist der Grund, weshalb ich die Spiele so leicht hinter mir lassen kann.
Wieder fokussiert auf die Darstellungen auf der Bühne schalten sich wieder die ganzen Geräusche ein, die ich zuvor ausgeblendet habe. Dieses warme Gefühl in meinem Bauch lässt mich entspannen und ich muss fast bei jedem Witz, welcher von den Leuten auf der Bühne kommt lachen. Die Hälfte von ihnen wurde wahrscheinlich gezwungen aufzutreten, die anderen wünschen sich, so erkenne ich an den Schweißperlen auf ihrer Stirn, niemals sich freiwillig dafür gemeldet zu haben.
Nach zwei Stunden sitzen wir angeheitert zusammen, denn Satoru hat sich Regeln einfallen lassen, die jede Wahrscheinlichkeit abdecken was während eines Auftritts geschehen kann. Langsam aber sicher spüre ich den Alkohol und ein Kribbeln breitet sich in mir aus.
"Ich hätte nicht gedacht, dass sie so viele Tomaten werfen", lacht Satoru, als wir wegen Regel Nummer zwei alle trinken müssen.
"Warte ab, bis sie keine mehr haben. Dann schießen sie öfters und wir müssen unser Glas in einem Zug trinken", verrollt Ann die Augen und ich kann ihr leider nur zustimmen. Als ich zu meiner linken sehe zucke ich unweigerlich zusammen, als ich eine Person neben mir auf dem vorhin frei gewesenen Platz erkenne. Doch als ich unter der schwarzen Kapuze des Pullis zwei weißblonde Strähnen entdecke schüttele ich nur den Kopf und halte mein Grinsen zurück. Seit wann hat sich Chishiya neben mich gesetzt?
Die anderen scheinen ihn noch nicht bemerkt zu haben und sein Blick ist belustigt auf die Bühne gerichtet. Er scheint trotzdem mitzubekommen, dass ich ihn bemerkt habe und mit starrem nachvorneblicken grinst er leicht und schiebt etwas auf dem Tisch in meine Richtung. Verwirrt sehe ich nach unten und erkenne eine kleine Aluschale mit einer Gabel darauf. Ich löse den Plastikdeckel und erkenne eine kleine Portion Reis mit ein wenig Fleisch und Soße.
Ich bemühe mich ein Lächeln zu verkneifen. Er wusste bestimmt schon vor dem Beginn der Show, dass ich heute noch nichts gegessen habe und ehrlich gesagt wäre etwas warmes in meinem Magen nicht die schlechteste Idee. Mit meiner rechten Hand nehme ich die Gabel, doch bevor ich anfange zu essen nehme ich mit meiner linken Hand seine Hand unter dem Tisch. Ich drücke sie einen Moment, wie um stumm danke zu sagen und lasse sie dann los. Hier in der Poolanlage befinden sich schließlich fast alle Mitglieder des Beach und wir sind nicht so unvorsichtig wie Izumi und Yuudai damals. Mit einem prüfenden, umherschwenkenden Blick bestätigt sich mein Gefühl, dass es niemand mitbekommen hat. Doch als ich zu Chishiya sehe grinst er nur ein wenig breiter, immer noch mit seinen Augen an der Bühne haftend.
Nach einigen Minuten scheinen Ann und Kuina den Mann neben mir auch zu bemerken, doch die Forensikerin nickt nur leicht und wendet sich wieder der Show zu. Kuina dreht den Strohhalm in ihrem Mund kurz hin und her, bevor sie schmunzelnd nach vorne sieht. Als ich ein wenig von dem Reis esse versichere ich mich, dass die anderen ihre volle Aufmerksamkeit zu dem nächsten Freiwilligen wenden.
"Ich dachte das hier wäre nichts für dich", flüstere ich schon fast und lehne mich ein bisschen zu Chishiya. Ehrlich gesagt hätte ich vermutet, dass er entweder in seinem Zimmer ist oder die Zeit ausnutzt, um unbemerkt einigen Nachforschungen nachzugehen.
"Leute die sich lächerlich machen mit schlechten Witzen und sinnlosen Anekdoten? Wie könnte ich das verpassen"
Was auch immer er vorhatte während alle hier an der Poolanlage sind, hat er schon erledigt. Ich kann das Gefühl nicht richtig beschreiben, aber dass er jetzt hier bei uns sitzt vervielfacht die Wärme in mir nur um so mehr. Alleine seine Hand für zwei Sekunden zu halten hat mir einen Schauer durch den ganzen Körper gejagt. Es liegt definitiv nicht am Alkohol, so wie er da neben mir sitzt lässt mich vergessen, dass meine Rippenseite immer noch höllisch wehtut und der Verband um die Schlangenbisswunde am Oberschenkel so eng liegt, dass es fast die Blutzufuhr absperrt.
"Wo schläfst du heute?", sagt Chishiya in einer Lautstärke die ich gut verstehen kann, aber andere nichts von unserem Gespräch mitbekommen können. Meint er etwa, ob ich immer noch bei Niragi schlafe oder in meinem Zimmer? Schließlich kann er nicht wissen, dass meine Sachen allesamt wieder in meinem Zimmer sind.
"Bei mir, wo denn sonst?", versuche ich meine fragende Unsicherheit zu überspielen und gleichzeitig zu bestätigen, dass alles in Ordnung zwischen uns ist. Als ich sein leicht angedeutetes hochnäsiges Lächeln wahrnehme und die amüsiert hochgezogenen Augenbrauen sehe ich schon fast, wie er innerlich die Augen verdreht. "Wieso, wo schläfst du denn heute?"
"Weiß nicht, wo soll ich denn schlafen?", legt er seinen Kopf leicht in den Nacken. Ich folge seinem Blick nach vorne zur Bühne und antworte eine gewisse Zeit lang nicht, um ihn ein wenig zappeln zu lassen, "Ich hätte da so eine Idee"