Als ich meine Augen aufschlage blendet mich das schwache Röhrenlicht von der Decke und ich bekomme pochende Kopfschmerzen. Ich sehe mich blinzelnd um und stelle fest, dass ich auf einem Betonboden an der Wand gelehnt sitze. Auf meiner rechten Seite befindet sich ein Gitter, wie in einem Gefängnis. Ich möchte aufstehen und hinlaufen, aber meine Beine fühlen sich an als wäre ich drei Tage nicht aufgestanden. Ich brauche einen Moment um zum Gitter zu gelangen und sehe durch die Eisenstäbe. Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich in einer Art Turm bin. Auf den Seiten und mit gegenüber befinden sich drei weitere Zellen auf der selben Ebene. Unter mir gibt es eine weitere Ebene, über mir um die sieben oder acht.
Ein Geräusch hinter mir lässt mich zusammenzucken und ich unterdrücke einen Aufschrei. Ich lehne mich mit dem Rücken an das Gitter und entdecke am anderen Ende der Zelle mein Handy von der Registrierung aufleuchten. Ich nehme es in die Hand und es ertönt die mechanische Frauenstimme, wobei sie sich dieses Mal wie ein Echo anhört, da die Handys der Spieler in den anderen Zellen ebenfalls die Spielregeln erklären.
Regeln : Ihr habt zwei Stunden Zeit, um die Industrieanlage zu verlassen. Viel Glück.
Die Frauenstimme verstummt, aber die Türen an den Zellgittern öffnen sich nicht. Ich höre ein Klicken und lehne mich an die Eisenstäbe, um nach unten zu sehen. Anscheinend ist jeder durch das Gas ohnmächtig geworden so wie ich in die anderen Zelle sehe. Ich hatte wahrscheinlich nur das Pech, direkt neben dem Austrittsschlauch zu stehen und alles auf einmal ab zu bekommen. Wahrscheinlich fühlen sich meine Beine deshalb so schwach an.
Plötzlich höre ich ein kratziges Geräusch, dann setzt eine Musik ein. Vivaldi, ganz sicher. Mein Blick ist gebannt nach unten gerichtet, wo ein großer Mann einen der bewusstlosen Spieler aus seiner Zelle holt und ihn auf einen metallenen Stuhl in der Mitte setzt. Mit braunen, breiten Arm- und Fußfesseln bindet er ihn fest und macht ihn so bewegungsunfähig. Ein Mann im mittleren Alter betritt den Turm, angezogen wie ein Arzt. Er trägt einen Mundschutz, OP-Handschuhe und einen lockeren, hellblauen Kittel. Der große Mann verschwindet kurz und schiebt dann einen kleinen, rollbaren Tisch neben den gefesselten Mann. Auf diesem liegen noch abscheulichere Waffen wie in dem Wendigo-Spiel und ich beginne zu verstehen.
Schreckensärzte. Einen nach dem anderen werden sie uns aus unseren Käfigen holen wenn wir uns nicht wehren. Ich sehe zu der Frau im Stuhl hinunter und kralle mich schon fast in das Gitter. Der Schreckensarzt streicht sanft über seine Geräte und sieht dabei belustigt zu der Frau, welche mittlerweile nicht mehr ohnmächtig ist. Sie macht einen entscheidenden Fehler und zuckt bei einem Gerät zusammen, welches für sie am grausamsten scheint.
Der Mann nimmt den Bohrer und wedelt damit spielten vor ihrer Nase herum. Seine Augen scheinen nicht einen Moment von ihrem Gesicht abzuweichen, er genießt das ganze. Er setzt den Bohrer an ihrem Schlüsselbein an und ich wende meinen Blick ab, doch ihre Schreie hallen laut durch das Gebäude. Er wird sie bis in den Tod foltern und dann sein nächstes Opfer suchen.
Ich trete von den Stangen weg und versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Der Mann ist so in seine Arbeit konzentriert, es wäre ein Leichtes unbemerkt herunterzuklettern, aber da ist noch das Schloss. Okay, ich muss herausfinden wo sich Ann und Chishiya befinden!
Ich sehe nach oben und entdecke tatsächlich zwei Arme, die aus den Gittern ein paar Ebenen über mir ragen und den weißen Stoff. Ebenso ein Schlüsselarmband mit zwei Nullen als erste Ziffern. Chishiya sieht zu mir herunter und unsere Blicke treffen sich. Er scheint tiefenentspannt, obwohl diese arme Frau da unten gefoltert wird. Ich fahre mit zitternd durch die Haare, als ich einen Widerstand bemerke und inne halte.
Ich sehe wieder hoch zu der Zelle und Chishiya entgegnet meinem Blick. Er scheint zu wissen, dass ich etwas entdeckt habe und sieht mich wartend an. Ich greife tiefer in meine Haare und ziehe eine kleine, brüchige Haarklammer heraus. Izumi hat sie mir gestern bei unserem Mädelsabend geliehen.
Ich sehe vorsichtshalber noch einmal nach unten und fasse einen Entschluss. Ich greife das Schloss vor meiner Zelle und stecke das Ende der Spange hinein. Ich habe mal ein Video darüber gesehen, wie schnell man ein Schloss damit knacken kann aber die Realität scheint anders. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich ein erleichterndes Klicken höre.
Ich öffne so leise wie ich nur kann die Tür und klettere raus. Ich halte mich am kalten Gitter fest und schließe die Tür wieder hinter mir. Ich beschließe erst seitlich entlang zu hangeln, da es einfacher ist durch den Betonboden. Ich muss vorerst mich nur an den Händen festhalten und noch nicht klettern. Immer wieder schaue ich nach unten, aber der Schreckensdoktor scheint abgelenkt. Als ich direkt drei Zellen unter der von Chishiya stehe fahren mir die Schreie der Frau durch Mark und Bein. Ich bleibe kurz stehen und lehne meine Stirn an die kalten Eisenstäbe um durchzuatmen und mich zu beruhigen. Dann stemme ich meinen linken Fuß an eine der Stangen und drücke mich dagegen, um hochzuklettern.
Die erste Ebene schaffe ich ohne dass etwas schief geht. Doch bevor ich mich zu dem zweiten Zellboden hochziehen kann rutsche ich ab und kann mich gerade so festhalten. Ich versuche mit meinen Füßen wieder halt zu finden und als meine Arme schon beginnen zu brennen schaffe ich das auch. Vorsichtshalber sehe ich nach unten, aber es scheint niemandem aufgefallen zu sein. Ich hebe meinen Fuß an und stelle mich auf den Boden der Zelle, bevor ich weiterklettere. Als ich meine Hand auf den letzten Betonboden lege und mich hochziehe, greift Chishiya meine Hand und hilft mir ein wenig.
"Komm", sagt er und ich schaffe es mich aufzustellen. Mit meinem linken Arm harke ich mich um eine Gitterstange und Chishiya hält ihn zur Sicherheit fest, mit dem Blick auf die Leute unten gerichtet. Ich nehme die Haarklammer wieder aus meinem Haar und versuche mit der rechten Hand das Schloss zu knacken.
"Beeil dich Sayuuri", zischt Chishiya.
"Ich versuche es ja", flüstere ich panisch und versuche mich zu konzentrieren. Sobald das Schloss knackt reißt er es raus und noch während er die Tür aufstößt greift er meinen Arm und zieht mich in die Zelle. Ich lande unsanft am anderen Ende der Zelle auf dem Boden, während Chishiya die Tür wieder zuzieht und das Schloss dranhängt. Er streckt seine Arme aus der Zelle und faltet sie draußen gemütlich zusammen, während er entspannt nach unten sieht.
Anscheinend ist der Schreckensdoktor mit seiner Arbeit fertig, denn ich höre keine Schreie mehr und deswegen muss Chishiya mich auf die andere Seite geschleudert haben, damit ich außerhalb des Sichtfeldes bin. Meine Vermutung bestätigt sich, als Chishiya eine Hand wieder zu sich zieht und jemanden zuwinkt.
Ich vernehme neue Schreie, diesmal von einer männlichen Stimme. Die Schreckensdoktoren scheinen ihre Arbeit wieder aufgenommen zu haben, weshalb sich Chishiya von den Gittern losreißt und zu mir kommt.
"Während sie jemanden foltern sind sie abgelenkt", stellt er richtig fest
"Wir müssen Ann finden!"
"Wir haben ungefähr einen Zeitraum von drei Minuten", bemerkt er und zieht mich wieder auf die Beine. Sobald ich die schmerzverzehrten Schreie höre, möchte ich mich am liebsten in seine Arme fallen lassen und Chishiya umarmen, aber wir beide wissen dass das nicht geht. Wir treten an das Gitter und sehen nach oben. Wir entdecken Ann zwei Stockwerke über uns und sie nickt uns leicht zu.
"Ich hole sie", sage ich bestimmt. Chishiya scheint etwas erwidern zu wollen, aber als er meinen zuversichtlichen Gesichtsausdruck sieht verstummt er.
"Hier, für den Notfall", sage ich und drücke ihm eine von Izumis Haarklammern in die Hand. Ich schaue vorsichtshalber nach unten, doch die Schreie werden nicht weniger. Ich stoße leicht die Gittertür auf und beginne wieder die Zellen hochzuklettern. Dieses Mal scheine ich besseren Halt zu finden und komme ohne Schwierigkeiten zu Anns Zelle. Da meine Hände unkontrolliert zittern, reiche ich ihr meine letzte Haarklammer und warte außerhalb des Gitters. Ann knackt das Schloss doppelt so schnell wie ich es getan hätte, dann klettern wir beide nach unten.
Mit den Füßen wieder auf dem Boden drehen wir uns zu dem Doktor aber er liegt schon am Boden, Chishiya hinter ihm. Er winkt uns beiden zu, damit wir ihm folgen, Ann gehorcht ihm wortlos. Aber die anderen zurückzulassen in Erwartung dieser Folter ist grausam. Ich drücke dem Gefangenen im ersten Stockwerk die Haarklammer in die Hand, nachdem er mir das Versprechen gibt die anderen zu befreien.
Zusammen laufen wir aus dem Turmgebäude, der Boden nass von einem undichten Rohr und an den Wänden lauter Wasserleitungen. Wir rennen die Gänge entlang und hier entzieht sich mein Wissen. An jeder Abbiegung beraten sich die beiden, in welche Richtung wir weiterlaufen. Ich möchte einfach nur hier weg und das Spiel beenden. Ich habe gesehen wie Leute gestorben sind, aber in diesem Spiel ist es anders. Die Spieler werden gefoltert, verstümmelt und die anderen sind gezwungen zuzusehen und ihr Ende abzuwarten.
Wir rennen die Gänge entlang, als plötzlich drei weitere Schreckensärzte auftauchen. Dem Mann hinter mir jage ich meinen Ellenbogen an den Kehlkopf, aber die anderen reißen Ann und Chishiya von den Füßen. Chishiya ist näher, also werfe ich mich auf den fremden Mann über ihn und versuche ihm die Luft abzudrücken.
Chishiya scheint das Messer in seiner Hand gut von seinem Hals gut fernhalten zu können, aber der Schreckensarzt ist einfach stärker. Ich schlage meine Zähne in seinen Hals, damit er von ihm ablässt und es funktioniert. Sobald Chishiyas Arme frei sind greift er nach oben und bricht das Genick des Mannes. Mit einem ruck bricht er es und die Kraft in dem Körper versiegt.
Ich packe Chishiyas Arm und ziehe ihn zu mir auf die Beine. Als ich Anns anstrengende Schrei höre werde ich unachtsam und sehe zur Seite, als mich ein stechender Schmerz am Hinterkopf durchfährt und mir wie am Anfang des Spieles schwarz vor Augen wird.