Chishiyas Sicht
Verschlafen und immer noch müde öffne ich meine Augen. Ich drücke mein Gesicht leicht in Sayuuris Haare, bevor ich beschließe mich von der Mitte des Bettes wieder auf meine Seite zu drehen. Ich wollte Sayuuri eigentlich erst einmal nicht mehr hier übernachten lassen, aber irgendwie konnte ich einfach nicht nein sagen. Besonders nicht nach dem, was vorletzte Nacht fast passiert ist. Ich weiß nicht warum ich das getan habe oder wie ich die Kontrolle über mich verlieren konnte, aber es hat sich richtig angefühlt sich zu ihr runter zu beugen. Ich kann es gar nicht leiden wenn mein Kopf sich ausschaltet und ich unachtsam werde. Eines der vielen Gründe, weshalb ich das menschliche Herz nie verstehen wollte. Es ist dazu da uns am Leben zu halten und Blut durch den Körper zu pumpen, nicht um irgendetwas zu fühlen oder zum Lieben da zu sein. Bei dem Wort verziehe ich mein Gesicht angewidert und starre an die Decke. Menschen machen so einen großen Wirbel um dieses Wort, dabei ist es einfach nur ein Wort. Liebe ist ein von Menschen erfundenes Gefühl, dass es in der Natur nicht gibt.
Ich sehe nach rechts zu dem Mädchen neben mir und bemerke, dass sie zittert. Seltsam, es ist relativ warm hier im Zimmer und sie trägt immer noch ihren schwarzen Pullover. Ich lege ihr einen Teil meiner Decke über in der Hoffnung, dass ihr nicht mehr so kalt ist. Sie rührt sich plötzlich und dreht sich zu mir um was mich leicht überrascht, denn ich dachte sie würde schlafen. Sie sieht mich mit traurigen Augen an und mir bleibt für einen Moment der Mund leicht offen stehen. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?
"Chishiya, mir geht es nicht gut", flüstert sie schon fast und ich bin plötzlich hellwach. Mir ist vorhin schon aufgefallen, dass sie ziemlich viel Wasser getrunken hat. Ich wollte sie in meiner Nähe wissen, falls irgendetwas nicht stimmen würde und wie immer hatte ich recht. Obwohl ich dieses Mal gehofft hatte, dass es nicht so wäre. Ich steige schnell aus dem Bett und laufe zu dem Lichtschalter am anderen Ende des Raumes. Sayuuri setzt sich an das Fußende des Bettes und ich kann schon von hier aus erkennen, dass sie nicht gut aussieht. Ihr Gesicht ist ganz blass und auf ihrer Stirn haben sich Schweißperlen gebildet. Leise fluchend laufe ich wieder zu ihr und versuche mir ein Bild zu machen. Ihre Stimme klingt brüchig und sie zittert unkontrolliert am ganzen Körper. Mit einer Hand hält sie sich den Bauch und mit der anderen stützt sie sich am Bett ab. Ich nehme sie leicht am Kinn um ihren Kopf anzuheben und ihre Augen zu überprüfen.
"Ich hole Ann, du bleibst hier", sage ich als ich ihre riesigen Pupillen sehe. Verdammt, wieso hat sie mir denn nicht früher gesagt, dass sie sich nicht gut fühlt? Manchmal kann sie so ein Sturkopf sein! Wie kann ein Mensch der so clever ist manchmal so dumm sein. Ich klopfe laut an Anns Zimmertür und nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet sie genervt und funkelt mich wütend an.
"Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?"
"Ich brauche deine Hilfe", sage ich streng. Ann verdreht nur die Augen und möchte die Tür wieder schließen, aber ich stelle meinen Fuß dazwischen. "Sayuuri geht es nicht gut"
Ich versuche wie immer ruhig zu bleiben aber ich kann nicht leugnen, dass mein Herz ein wenig schneller schlägt und ich unruhig werde. Anns Gesichtsausdruck wirkt nicht mehr ganz so hart und sie nickt nur stumm. Wir laufen zu meinem Zimmer und sobald wir die Tür erreichen drängelt sich die Frau an mir vorbei. Ich schließe die Tür hinter mir und beobachte, wie Ann sich neben Sayuuri hinsetzt und ich sehe sie wütend an. Ich kann es nicht leiden, wenn sich jemand auf mein Bett setzt oder sich einer aus der Führungsrege in meinem Zimmer aufhält. Ich verkneife mir ein bissiges Kommentar und schlucke meinen Ärger herunter.
"Was machst du um diese Uhrzeit noch hier?", fragt Ann als erstes und ich möchte schon eingreifen, aber Sayuuri kommt mir zuvor.
"Wir haben noch Karten gespielt", sagt sie überzeugend und ich entspanne mich wieder. Niemand außer Kuina weiß, dass wir ab und zu beieinander schlafen und das muss auch so bleiben. Aber bei Sayuuri brauche ich mir keine Gedanken zu machen, dass sie es aus Versehen jemanden erzählt. Ann kontrolliert ihren Puls und ihr scheint ebenfalls aufzufallen, dass die Pupillen geweitet sind.
"Wir müssen in das Labor, es ist nicht das gleiche Gift wie bei Katsu", sagt Ann bestimmt und steht auf.
"Gift?"
"Als du die Tür zum Archiv geöffnet hast", erkläre ich ihr. Sie hat nach dem einatmen keine Symptome gezeigt, ich hätte sie trotzdem von Ann durchchecken lassen sollen. Sayuuri krabbelt aus dem Bett und signalisiert, dass sie alleine stehen kann als Ann sie stützen möchte.
Wir laufen durch die Gänge in Richtung des Labors. An der Treppe bleibt Sayuuri stehen, schließt einen Moment die Augen und schluckt schwer. Ich kann gerade noch einen Arm um sie legen, als ihre Beine nachgeben. Ich spiele mit dem Gedanken sie einfach hochzuheben und zu tragen, aber ich verwerfe ihn gleich wieder, als ich zu Ann sehe.
"Hilfst du mal", fordere ich sie auf und ziehe meine Augenbrauen wartend hoch. Sie geht auf die andere Seite und zusammen stützen wir Sayuuri, die versucht wieder auf die Beine zu kommen. Im Labor angekommen setzen wir sie auf eine Krankenliege und sie lässt sich kraftlos nach hinten gegen die Wand fallen. Ann zieht sich ein Paar medizinische Einweghandschuhe über und holt ein langes Wattestäbchen aus einer der Schubladen.
"Ich nehme an die Einnahme erfolgte über die Atemwege?"
"Ja", antworte ich.
"Ich muss einen Abstrich von deinem Rachen nehmen. Und hier", sagt sie und stellt einen Eimer auf die Krankenliege.
"Wofür ist der?", fragt Sayuuri mit angeekeltem Gesicht.
"Naja falls dein Würgereflex ausgelöst wird. Jetzt Mund aufmachen", sagt Ann mit ihrem Befehlston und zögernd hört das Mädchen auf der Liege. Sobald Ann ihren Abstrich hat läuft sie zu ihren Geräten auf der anderen Seite und Sayuuri bekommt einen kleinen Hustenanfall. Ich sehe ungeduldig zu Ann, die immer noch dabei ist ihre Geräte anzustellen. Kann sie nicht ein bisschen schneller machen? Ich höre ein leichtes Röcheln und merke sofort, dass Sayuuri schwerer atmet und sich in Richtung Herz greift. Ich versichere mich, dass Ann voll auf ihre Arbeit konzentriert ist und nehme Sayuuris Hand, welche sich in ihren Pulli verkrampft hat.
"Leg dich hin, dann fällt dir das Atmen leichter", weise ich ihr an und sie nickt nur schwach. Sie folgt meiner Anweisung, legt sich auf die Seite und zieht ihre Beine an den Körper. Sie ist in den letzten Minuten noch blasser geworden und ihr Gesicht sieht ein wenig eingefallen aus. Wie oft will sie mir noch Sorgen bereiten? Von einem Hai angegriffen, gefoltert, ertrunken und jetzt noch vergiftet.
Ich stelle fest, dass sie immer noch meine Hand hält und sehe unauffällig zu Ann. Sie hat nichts mitbekommen, denn sie sieht sich die Probe unter einem Mikroskop an.
"Warum hast du mir nicht gesagt, wie du dich fühlst?", frage ich streng aber so leise, dass nur sie es hören kann. Ich versuche einen emotionslosen Ausdruck beizubehalten, aber mein Kiefer spannt sich trotzdem an.
"Als wir zu dir gegangen sind ging es mir schon wieder besser. Es wurde erst schlimmer, als ich aufgewacht bin", antwortet sie und sieht mich mit ihren glasigen Augen an. Bei dem Anblick kann ich nicht weiter einfach so kalt bleiben. Ich bin auch nicht wirklich auf sie sauer, ich ärgere mich eher über mich selbst. Als ich höre wie Ann aufsteht ziehe ich sofort meine Hand weg und stecke sie in meine Taschen.
"Und?", frage ich und beobachte, wie sie zu einem Bücherregal läuft und nach einem Buch zu suchen scheint.
"Ich habe eine Vermutung", sagt sie und als sie ein Buch nimmt, kommt sie zu uns und legt es neben Sayuuri. Sie blättert darin herum und an der Seite des Armbandes kann ich sehen, dass es in dem Buch um Giftpflanzen geht. "Die Symptome passen zu mehreren Giften, aber aufgrund meiner Analyse konnte ich es ziemlich eingrenzen"
Sie fordert mich still auf, ein wenig zur Seite zu gehen und Platz zu machen. Sie nimmt Sayuuris Gesicht in ihre Hände und dann öffnet sie ihren Mund und sieht hinein.
"Ist dir übel?", fragt sie weiter und Sayuuri nickt nur, "Erhöhter Speichelfluss aber keine Rötungen im Gesicht. Das sieht aus wie eine Vergiftung durch Goldregen"
"Goldregen?", fragt Sayuuri schwach und bekommt einen Hustenanfall.
"Ein Baum mit gelben Blüten, alle Pflanzenteile sind ausnahmslos giftig. Er enthält das Gift Cytisin, manche Arten auch Ammodendrin. Das erste ähnelt in der Wirkung dem Gift der Pfeilgiftfrösche, das zweite wirkt sich schädigend auf das zentrale Nervensystem aus", erklärt sie und ließt aus dem Buch vor, "Symptome sind Herzrasen, erhöhter Speichelfluss, Schweißausbrüche, Erbrechen mit Blut, Zittern, Übelkeit, Kreislaufversagen, Atemlähmung und Krämpfe. In der Fußnote steht: Werden die Samen oder andere Teile verschluckt, kann es innerhalb eines kurzen Zeitraums zum Tod, meist durch Atemstillstand, kommen"
"Schlechteste Gute-Nacht-Geschichte, die ich je gehört habe", sagt Sayuuri trocken und versucht die Situation mit einer Lache zu überspielen.
"Wir haben doch bestimmt ein Gegenmittel da, oder nicht?", frage ich Ann und sie scheint nachzudenken.
"Ich vermute ja, aber nicht viel. Es sollte aber reichen, das einzige Problem ist ich habe keine Ahnung wo", runzelt Ann die Stirn und schiebt ein Metallgestell neben Sayuuri. Sie hängt eine Infusion daran und holt aus einer Schublade einen Venenkatheter und eine Spritze raus. "Ich lege erst einen Zugang und spritze ihr etwas zur Beruhigung. Danach hänge ich sie an den Tropf, der müsste gegen die Übelkeit vorbeugen während wir das Mittel suchen"
Da ich es nicht anders machen würde nicke ich nur und während sie den Katheter legt, fange ich an nach diesem verdammten Gegenmittel zu suchen. Nach einer Minute fängt Ann auch an zu suchen. Am liebsten möchte ich die ganzen Fächer rausreißen aber ich darf nicht aus der Fassung geraten, und vor allem nicht vor jemandem aus der Führungsrege.
"Ann", höre ich Sayuuri sagen und als ich mich umdrehe sehe ich, wie sie versucht sich aufzurichten und nach dem Eimer zu greifen. Ich sehe zu der ehemaligen Forensikerin und sie nickt mir zu, dass sie weitersucht. Ich stehe auf und laufe zur Krankenliege. In dem Moment als ich ihr den Eimer reiche und ihre Haare nach hinten halte zuckt sie zusammen und ein wenig Blut läuft aus ihrem Mund. Ich kann meinen Blick für einen Moment nicht von dem Blut abwenden, doch als Sayuuri sich müde auf die Liege fallen lässt löse ich mich aus meiner Starre. Sie hält sich den Bauch und zuckt ein wenig, während ihre Hände stark zittern.
"Nicht auf den Rücken legen! Entweder aufsetzen oder auf die Seite legen", sage ich ihr und kraftlos versucht sie sich auf die Seite zu drehen und leicht aufzurichten. Sie nimmt mir den Eimer ab und wischt sich mit dem Handrücken ein wenig Blut vom Mund.
"Das solltest du nicht sehen", sagt sie weil es ihr unangenehm ist, aber ich lasse nicht von ihr ab. Sie fängt wieder stärker an zu zittern, weswegen ich wieder ihre Haare nehme und erneut ein Strahl verdünntes Blut aus ihrem Mund kommt. Das ist gar nicht gut.
"Wer soll dir dann die Haare zurückhalten", versuche ich ein Grinsen zustande zu bringen.
"Ich habe das Mittel", ruft Ann und rennt zu uns. Sie injiziert das Gegenmittel in Sayuuris anderen Arm und fühlt ihren Puls. Ich stelle den Eimer wieder auf den Boden und das Beruhigungsmittel scheint seine Wirkung zu entfalten. Sie atmet ruhiger und langsam fallen ihre Augen zu. "Sie wird eine ganze Weile schlafen, aber das wird wieder"
Ich beruhige mich ein wenig und laufe zu einem der Stühle neben der Krankenliege. Ich achte auf jede Bewegung von Sayuuri, jedes Zucken und warte bis ich mir sicher bin, dass es ihr besser geht und sie schläft. Ann räumt noch ein zwei Sachen weg, dann überprüft sie den Katheter und klebt ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle am anderen Arm. Ich habe keine Lust mit ihr zu reden und hoffe nur, dass sie gleich verschwindet.
"Du magst sie nicht wahr?"
Das brauchst du nicht zu wissen, es ist schließlich meine Angelegenheit.
"Sie ist eine gute Spielerin, also ist sie auch nützlich", sage ich trocken und ziehe nur grinsend meine Augenbrauen hoch, obwohl mir gar nicht danach ist.
"Wenn du bei der Meinung bleiben willst, also ich kann sie gut leiden", höre ich sie schon fast die Augen verdrehen, "Bleibst du bei ihr, ich brauche dringend Schlaf?"
"Ja", sage ich nur knapp und nach einem letzten Mal Pulsüberprüfen dreht sich Ann zum gehen um. Ich habe mir schon gedacht, dass Ann was für sie übrig hat. An der Tür vorhin wollte sie mich schon abwimmeln, aber als ich meinte dass es Sayuuri nicht gut geht ist sie mitgekommen. Außerdem war mir bei unseren ersten Begegnungen klar geworden, dass Sayuuri jemand ist den die Leute gern haben. Selbst Aguni scheint ein wenig warm mit ihr geworden zu sein, jedenfalls auf seine eigene Art und Weise.
Aber ich hätte nicht gedacht, dass das auch für mich gelten würde.