Ich versuche nur auf den Zeiger zu sehen, aber ich spüre alle Blicke auf mir. Yuudai steht auf und scheint irgendetwas zu sagen, doch ich höre nur ein Klingeln in meinen Ohren. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mit den Armen herumwedelt und zeigt auf den toten Mann und mich. Wenn wir die Regeln nicht befolgen, sterben wir. Ich nehme das Glas und trinke es zitternd bis zum letzten Tropfen aus. Ich stelle das Glas wieder auf seinen Platz und warte. Meine Kehle brennt, aber nicht mehr als von dem Tequila. Vorsichtig schaue ich auf und sehe, dass alle mich erwartend ansehen.
"Wie- wie geht es dir?", fragt Yuudai zaghaft und legt seine Hand beruhigend auf meine Schulter. Ich atme angespannt aus, doch alles scheint normal zu sein.
"Ich denke, mir geht es gut"
Der bittere Geschmack lässt mich zusammenzucken und ich verziehe das Gesicht. Aber ich lebe noch. Die anderen spielen weiter, aber ich kann die besorgten Blicke sehen. Meine Brust zieht sich zusammen und aus Reflex renne ich zu einem Mülleimer in der Ecke. Ich muss mich übergeben und eine Träne löst sich und läuft über meine Wange. Ich bekomme eine Gänsehaut und fange an, am ganzen Körper zu zittern. Ich sacke zusammen und lehne mich an die Wand. Ich schließe meine Augen und versuche mich zu beruhigen, aber als ich nach rechts sehe, blicke ich auf den Toten. Ich drehe mich wieder zum Eimer und übergebe mich erneut. Langsam stehe ich auf und torkle zurück zum Tisch. Es geht mir wieder besser, denke ich jedenfalls. Ich setze mich auf meinen Platz und fahre mir durch die Haare. Niragi sieht mich fragend an, doch ich nicke nur.
"Geht wieder"
Während wir weiter spielen, habe ich das Gefühl, dass alle Farben intensiver werden. Ich fühle mich wie in einer Seifenblase und ich sehe einen leichten, rosa Schimmer. Ich verliere jegliches Zeitgefühl und aus dem rosa Schimmer wird ein Regenbogen. Ich spüre, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildet und meine Atmung schwerer wird. Der muskulöse Mann mir gegenüber verdreht die Augen und bricht auf dem Tisch zusammen. Einige seiner Muskeln zucken immer noch, aber er scheint bewusstlos. Als ein Laser durch seinen Kopf geht, werde ich geblendet und von der Wunde an seinem Kopf läuft eine blaue Flüssigkeit. Verwirrt starre ich auf die Farbe und strecke meine Hand aus. Es fühlt sich warm an und meine Hand wird blau gefärbt. Fasziniert sehe ich auf meine Hand und werde von Yuudai aus meinen Gedanken gerissen.
"Sayuuri?"
"Warum ist es blau?"
Alle sehen mich verwirrt an, doch ich kann meinen Blick einfach nicht von meiner Hand abwenden.
"Was redest du da, dass ist sein Blut. Es ist rot", meint der letzte Fremde am Tisch. Ich zucke zusammen und starre ihn ungläubig an. Niragi greift sich das Glas, aus welchem ich getrunken habe und riecht vorsichtig daran.
"Natürlich", meint er und legt seine Hand auf meine Stirn. Ich fühle mich nicht wirklich wie ich selbst, weshalb ich bei seiner Berührung auch nicht zurückschrecke. Seine Hand ist eiskalt und das scheint meiner Stirn gut zu tun.
"Ein Halluzinogen, wahrscheinlich Ayahuasca"
Meine Augenlieder werden schwerer, aber das Farbenspiel ist einfach zu schön, um meinen Blick abzuwenden. Ich sehe hinter Yuudai plötzlich eine Gestallt. Sie ist verschwommen, aber ich erkenne ihn. Es ist, wie als würde ich einen Geist aus meiner Vergangenheit sehen.
"Light?", kommt es flüsternd aus meinem Mund und ich spüre, wie eine Träne herunterläuft. Er lacht herzlich und sieht mich liebevoll mit seinen eisblauen Augen an. Wie sehr habe ich ihn vermisst. Mein Herz macht einen Satz und meine Wangen beginnen zu glühen.
"Du musst wach bleiben", sagt er und kommt einige Schritte auf mich zu. Ich würde am liebsten aufspringen und ihn umarmen, aber es wirkt einfach zu surreal. Seit ich in dieser Spiegelwelt bin, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ihm gehörte die Jacke, die ich mit aus den Umkleiden der Universität mitgenommen habe. Ich merke erst jetzt, wie sehr er mir gefehlt hat. Meine Kehle schnürt sich zu und ich spüre eine Enge in der Brust. Ich weiß er kann nicht hier sein, doch ich kann meinen Blick einfach nicht von seinen Augen lösen.
"Sayuuri!"
Erschrocken fällt mein Blick auf Yuudai, welcher mich besorgt ansieht. Nein. Ich schaue wieder hinter ihn, aber Light ist verschwunden. Ich spüre, wie weitere Tränen über mein Gesicht fließen. Ich bin in einem tödlichen Spiel im Borderland, ich muss mich zusammenreißen. Ich wische mir die Tränen weg und versuche Yuudai lächelnd anzusehen. Er sieht auch nicht mehr so fit aus: Seine Augen sind leicht gerötet und nur noch halb offen, wie als würde er sich gerade so bei Bewusstsein halten. Seine Hände zucken ununterbrochen, aber er versucht mich tapfer anzusehen. Ich sehe wieder auf den Tisch und bemerke, dass nur noch eine Line übrig ist. Sobald der fremde Mann diese gezogen hat, blinken unsere Handys auf und es ertönt eine alt bekannte Stimme.
Gratulation, das Spiel ist gewonnen.
Wir alle bleiben noch einen Moment sitzen. Mir ist schwindelig und vorsichtig stehe ich auf. Wir torkeln alle aus dem Raum und unten auf dem Tisch liegt die Spielkarte. Niragi steckt sie ein und wir laufen nach draußen. Die kalte Nachtluft wirkt wie ein Schlag auf den Kopf und ich stolpere. Ich kann mich gerade noch so auf den Beinen halten, doch Yuudai scheint es schlechter getroffen zu haben. Sobald wir uns ins Auto setzen, schließt er seine Augen und ist nicht mehr ansprechbar. Niragi startet den Wagen, aber durch die Fahrt wird mir einfach nur schlecht. Ich schließe meine Augen, da mein Magen immer flauer wird und versuche mich zusammen zu reißen. Und dann werde ich plötzlich nach vorne geschleudert.
Als ich meine Augen wieder öffne, brummt mein Schädel noch mehr, als vor diesem Ruck. Niragi richtet sich auf und hat sich seine Nase am Lenkrad aufgeschlagen. Ich fühle etwas feuchtes an meiner Stirn und stelle fest, dass es Blut ist. Ich drehe mich zu Yuudai um, aber er liegt immer noch ohne Bewusstsein auf der Rückbank. Niragi hat anscheinend die Kontrolle über den Wagen verloren und wir haben ein parkendes Auto gerammt. Niragi versucht, den Wagen wieder zu starten, aber es scheint ernsthaft beschädigt zu sein und er schaut nur genervt zu mir.
"Wir müssen wohl laufen"
Wir steigen aus dem Wagen und Niragi schultert wieder seine Waffe. Ich gehe auf wackligen Beinen nach hinten und ziehe Yuudai zu mir auf die Seite. Mit Niragi's Hilfe heben wir Yuudai aus dem Wagen und stützen ihn. Bis zum Beach ist es nicht all zu weit. Aber in diesem Zustand ist jeder Schritt eine Höllenqual. Als wir an einer großen Kreuzung ankommen, lässt Niragi einfach los und ich sacke unter dem Gewicht von Yuudai zusammen. Ich versuche ihn so zu halten, dass er von dem Sturz nichts abbekommt. Doch durch meine Anstrengung wird mein Magen wieder flau und scheint sich einmal im Kreis zu drehen.
Ich lasse seinen Arm los und stolpere zum nächsten Gullideckel. Ich muss mich wieder übergeben, aber dieses Mal ist es purer Alkohol. Ich zucke am ganzen Körper zusammen und mein Bauch verkrampft sich. Ich spüre kalte Hände an meinem Nacken und schaue hoch zu Niragi, welcher meine Haare zurückhält.
"Bei mir ist zum Glück schon das meiste draußen"
Wir sitzen da, bis mein Magen leer ist und ich schüttele mich am ganzen Körper. Mir ist kalt und ich habe das Gefühl, immer noch zu halluzinieren. Und wie aufs Stichwort sehe ich wieder Light als ich aufblicke. Sein Gesicht ist verschwommen, aber ich erkenne ihn deutlich.
"Du musst durchhalten, sonst sehen wir uns nie wieder"
Wieder werde ich schwach und Tränen fließen über meine Wange. Ich schließe meine Augen, um das Bild seiner Augen zu verdrängen.
"Geh weg, bitte", sage ich und als ich meine Augen öffne, ist er tatsächlich verschwunden.
"Ich helfe dir doch nur, was ist dein Problem", beschwert sich Niragi und lässt augenblicklich meine Haare los. Ich habe ihn nicht gemeint, aber trotzdem wächst meine Wut und ich sehe ihn nur verachtend an.
"Nicht alles dreht sich um dich"
Er wirft mir noch einen bösen Blick zu, doch ich rapple mich auf und gehe zu Yuudai, um ihn aufzurichten. Niragi macht keine Anstalten und schaut nur gelangweilt zu uns. Er richtet sich auf und läuft die Straße runter.
"Was soll das?"
"Lass ihn doch einfach hier liegen"
"Nein. Wir lassen ihn nicht zurück, im Beach kann ihm bestimmt jemand helfen"
"Ich schleppe diesen Typen doch nicht bis zum Beach"
Er wird lauter und ich schrecke zurück. Verwirrt und genervt sieht er zu mir und flucht leise. Eigentlich sollte ich mich beherrschen, aber er macht mich immer rasender.
"Warum zuckst du zurück?"
"Das solltest du ganz genau wissen", sage ich bestimmt. Er seufzt laut und steckt sich demonstrativ seine freie Hand in die Hosentasche.
"Klär mich auf"
"Die Frau! Die die du erschossen und deine Freunde in den Container verfrachtet haben", schreie ich ihn fast an und lehne mich an die Hauswand hinter mich, weil ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Mit schnellen Schritten kommt Niragi näher und drückt mich an die Wand.
"Angst?"
"Ja", sage ich ehrlich und er grinst nur hinterlistig, bevor ich weiterrede, "Was hatte sie falsch gemacht, denn ich glaube nicht, dass sie gegen eine Regel des Hutmachers verstoßen hat"
"Sie hat genervt."
Das war direkt. Ich schaue ihn nur ungläubig an und bekomme noch mehr Angst. Nur weil sie ... wie krank ist er eigentlich. Ein Freak, dem man hier im Borderland eine Waffe in die Hand gedrückt hat. Wie als würde man ein Streichholz an ein Pulverfass halten.
"Keine Sorge", sagt er und kommt so nahe, dass er wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt ist. Er leckt sich über die Lippen, aber durch das Ayahuasca wirkt alles in Zeitlupe.
"Ich habe gerade keine Lust dich zu töten"
Ich funkele ihn böse an und endlich weicht er von mir zurück. Er geht zu dem auf dem Boden liegenden Yuudai und sieht mich wartend an. Ich gehe zu ihnen und zusammen heben wir ihn wieder hoch. Jeden Meter werde ich immer schwacher und müder. Am liebsten würde ich mich hier mitten auf die Straße legen und einfach schlafen. Es ist schon anstrengend, sich alleine auf den Beinen zu halten, aber noch das Gewicht eines anderen zu tragen. Aber Yuudai scheint ein guter Mensch zu sein, was auch immer das in dieser Welt zu heißen hat. Doch bei jedem Blick zu Niragi entwickele ich immer mehr Verachtung. Ich weiß, dass die Spiele sadistisch sind und das man indirekt dazu gezwungen ist, an dem Tod von Menschen mitverantwortlich zu sein. Aber jemanden umzubringen, weil er nervt, ist und bleibt grausam.
Wir erreichen den Parkplatz vor dem Beach. Es wird schon langsam wieder hell und ich zittere am ganzen Körper. Wir schleppen Yuudai die letzten Stufen hinauf und erreichen endlich die Lobby. Einige der Bewohner sehen uns erschrocken an, aber niemand macht Anstalten uns zu helfen. Wir legen Yuudai vorsichtig in Mitten der Lobby ab und ein Gefühl von Erleichterung überkommt mich. Wir haben es geschafft, wir leben noch. Und dann wird alles um mich herum schwarz.