Prolog

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,,Lass mich jetzt nicht los!" , sage ich, obwohl ich weiß, dass er das nie tun würde. Wir sitzen auf dem Dach meiner Tante Mary, auf dem ich quasi den ganzen Sommer verbracht habe. Ich kenne jeden Winkel dieses Mansarddachs und weiß, dass ich von genau der Stelle, an der ich mich momentan befinde, jede Sekunde runterfallen kann, sobald er meine Hand loslässt. ,,Schau mich an Evie." Ich gucke ihm tief in seine eisblauen Augen. Wow. Es ist als wären all meine Sorgen verschwunden. Alle Stimmen in meinem Kopf verstummen. Ich vergesse einfach alles um mich herum. ,, Ich würde dich nie loslassen, klar?", sagt er mit seiner wundervollen, beruhigenden Stimme. Es ist, als wäre er der Einzige, der mich jemals verstand.

Ich wache auf. Ich bin immer wieder überwältigt von alldem. Ich habe diese Träume seit der Nacht, in der meine Eltern vom Dinner nicht mehr nach Hause kamen. Ich kann mich noch an jedes Detail dieser Nacht erinnern. Es ist ja auch erst drei Monate her. Mitten in der Nacht hat mein Handy geklingelt. Es ist Tante Mary gewesen, die mir mit verheulter Stimme gesagt hat, ich solle die Haustür aufmachen. Verwirrt bin ich also runtergelaufen und als ich die Tür geöffnet habe, sah ich Tante Mary mit zwei Polizeibeamten vor meiner Tür stehen. Der eine groß und schlaksig und der Andere eher klein und etwas pummelig. Sie haben wohl schon ein paar Mal geklingelt, aber mein kleiner Bruder James und ich mussten es überhört haben. War ja auch kein Wunder um zwei Uhr nachts. An diesem Abend sollte ich auf ihn aufpassen und Mum und Dad sind ausgegangen, wie sie es häufiger taten. Tante Mary fiel mir in die Arme, als hätte sie grade einen epileptischen Anfall und ich müsste sie retten. „Was ist hier los Tante Mary?" , fragte ich, aber als Antwort kam nur ein Schluchzen. Ich wendete mich also mit einem fragenden Blick an den Polizeibeamten, der mir nach einer langen Weile von Tanten Marys Schluchzern und ,, es tut mir so leid Evie"-Rufen, endlich erklärte, was los war. ,, Es geht um deine Eltern.", fing der Große nun an. Mein Herz blieb stehen und ich malte mir im Kopf alles Mögliche aus. „Deine Tante hat uns vor einer Stunde angerufen und gesagt, sie seien verschwunden." Ich war erst etwas geschockt, aber es war doch grade mal zwei Uhr, also kein Grund sich Sorgen zu machen. Mum und Dad kamen oft erst um zwei oder halb drei nach Hause. ,,Meine Eltern sind heute ausgegangen und kommen wahrscheinlich erst spät nach Hause, kein Grund zur Sorge.", sagte ich immer noch vollkommen verwirrt . Der kleinere Polizist redete weiter: „Das hat deine Tante bereits erzählt, allerdings ist sie trotzdem voller Überzeugung, dass etwas passiert ist. Also fuhr sie laut ihrer Aussage zum Restaurant „la bonne nuit", in dem sich deine Eltern aufhalten wollten. Als sie dort ebenfalls nicht aufzufinden waren, suchte sie alle Restaurants der Umgebung ab. Ohne Erfolg. Dann rief deine Tante uns an. Das alles muss aber noch lange nichts heißen. Wir haben oft Vermisstenfälle, die sich am Ende doch nur als dumme Missverständnisse entpuppen." Ich wusste, dass es nicht zu meinen Eltern passte, nicht erreichbar zu sein, aber das hieß noch lange nichts und ich fand es war völlig überflüssig vor dem Morgen die Polizei anzurufen. Aber so war Tante Mary; theatralisch, manchmal vollkommen neben der Spur, aber sehr liebenswürdig und gutherzig. Ich redete so sanft, wie es mir um zwei Uhr nachts möglich war auf sie ein: „Tante Mary, beruhige dich. Mum und Dad werden schon bald hier eintreffen okay?" Ich kam mir ziemlich blöd vor, da das Gespräch eigentlich andersrum hätte verlaufen müssen. Ich war das Kind und ich hätte eigentlich weinend am Wohnzimmertisch sitzen müssen, aber ich musste einen kühlen Kopf bewahren und ich wusste, dass das Alles nichts heißen musste. Tante Mary antwortete mir schluchzend: „Es tut mir so schrecklich leid Eve." Man konnte den Polizisten ansehen, dass sie sich ein Lachen verkneifen mussten. Der Größere übernahm jetzt wieder das Wort und wendete sich an mich als wäre ich die Erwachsene von uns beiden: „Wenn deine Eltern morgen früh nicht zu Hause sind, dann meldet euch bitte bei uns." Nach einem müden Nicken meinerseits verschwanden die beiden dann. Auch Tante Mary hatte sich beruhigt. Ich machte uns Tee und wir beschlossen zu warten. Wie meine Tante da saß mit ihren verheulten braunen Augen und ihrem verschwitzen T-Shirt, tat sie mir schon ein wenig leid. Mein Onkel Fred war vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben und seitdem wohnt sie allein in ihrer großen Villa mit Pool und Sauna und allem Drum und Dran. Seit seinem Tod passierten häufig solche Situationen und sie wurde immer verpeilter. Mit dem Gedanken tröstete ich auf jeden Fall fürs Erste meine Sorgen. Meine Eltern tauchten allerdings nicht auf. Und auch jetzt, drei Monate später, sind sie noch spurlos verschwunden. James und ich zogen bei meiner Tante ein und wir werden von allen so behandelt, als seien unsere Eltern tot. Was ja auch annehmbar ist nach all der Zeit, die vergangen ist, ohne ein Zeichen von Hoffnung. Ich spreche es aber nie laut aus, weil ich Angst davor habe. Mein siebenjähriger Bruder James kam schnell drüber hinweg. Er weiß sowieso nicht genau was los ist, da keiner der Erwachsenen es übers Herz bringt, ihm es zu erzählen und ich kann es nicht aussprechen. Auf die Frage, wo Mum und Dad wären, bekommt er immer nur die Antwort „die sind bald wieder da, solange dürft ihr hier wohnen" und er gibt sich damit zufrieden bis auf an ein paar Abenden, wo er weinend nach ihnen ruft, damit sie ihn ins Bett bringen. Er ist erst sieben und er weiß quasi nichts, also worüber soll er sich schon Sorgen machen? Er lebt sein Leben weiter und er macht alles genauso wie vorher. Er geht artig zur Schule, lernt fleißig und hat sein Fußballtraining seitdem kein einziges Mal verpasst. Ich hingegen bin 16 Jahre alt und habe alles genau mitbekommen. Mir kann also keine Lüge aufgetischt werden. Das Alles hat mich sehr verändert und das brave Mädchen, das ich einmal war ist verschwunden. Am Anfang hat mich die Situation komplett überfordert und ich hatte oft Panikattacken, aber mittlerweile habe ich mich an den Schmerz gewöhnt, an die unzähligen schlaflosen Nächte und das Gefühl in meinem Bauch, das mich von innen zu zerreißen scheint. Ich bin einfach nicht mehr die Evie Wilson, die ich einmal war. Tante Mary weiß das, genauso wie meine Großeltern und jedes andere Mitglied meiner Familie, aber niemand hat den Mut mich darauf anzusprechen. Ich habe angefangen mich zu betrinken, um den Schmerz zu unterdrücken und alles auszuschalten, aber wenn ich abends dann nach Hause gekommen bin und in die großen traurigen Augen meiner Tante geguckt habe, habe ich das auch nach ein paar Wochen aufgegeben. Ich will nicht der Grund für ihr Leid sein. Dafür hat sie schon genug verloren. Meine einzige und beste Freundin Allie habe ich seitdem es passiert ist ignoriert, weil ich ihr nicht in die Augen sehen kann ohne loszuheulen. Sie würde drüber reden wollen und das kann ich nicht. Ich kann über All das nicht sprechen. Ich will nicht einfach weitermachen und die Tatsache ignorieren, dass meine Eltern wahrscheinlich längst irgendwo im Wald ermordet am Verwesen sind und ich weiß, dass der Schmerz nachlassen wird, sobald ich ihn mir von der Seele rede. Aber das will ich nicht, eigentlich ganz schön masochistisch von mir. All diese Ängste und Gedanken spreche ich nie aus. Tante Mary und ich reden generell nur sehr selten miteinander und viele andere Leute bleiben mir ja nicht. Die einzige Zuflucht in meinem Leben bieten mir meine Träume, die auftauchen, wenn ich Glück habe und überhaupt einschlafen kann. Wenn ich das nicht kann, dann klettere ich meistens auf das Hausdach von Tante Marys Villa. Dort oben kann ich einfach für mich sein und über alles nachdenken. Am liebsten beobachte ich die Sterne und stelle mir einfach vor, ich wäre jemand anderes, irgendjemand Glückliches. Das ist genau das, was ich brauche, um in diesem Chaos von Leben durchzukommen ohne durchzudrehen. Ich glaube mein Unterbewusstsein hat diese Tagträumereien etwas zu ernst genommen, denn seit meine Eltern verschwunden sind, habe ich diese Träume. Ich träume von einer besseren Welt, in der ich mich nicht alleine fühle. Ich träume von dieser einen Person, die irgendwie alles einfacher macht. Eigentlich ist es lächerlich, da es sich ja nur in meinen Träumen abspielt, aber das ist es, was mich über Wasser hält.

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