Kapitel 1

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Ruby schaut aus dem Fenster – schon seit Stunden. Sie kann ihren Blick einfach nicht abwenden. Wasser – so weit das Auge reicht. Hin und wieder entdeckt sie ein Containerschiff. Wie lange das wohl schon unterwegs ist? Auf dem Bildschirm vor ihr sieht Ruby die Position des Flugzeuges: über dem gewaltigen Indischen Ozean. Noch nie war sie weiter von ihrer Heimat entfernt. Deutschland ist auf der Karte nicht mehr zu sehen. Dafür: Indien, Thailand, Indonesien. »Ich brauche einen Song für diesen perfekten Moment«, denkt Ruby. Sie setzt ihre Kopfhörer auf und spielt Bruce Springsteens »Secret Garden« ab. »Du hast den Musikgeschmack eines Rentners«, würde Tim jetzt sagen. Rubys Freund hat recht: Sie hat keine Ahnung, wer gerade die Charts stürmt. Viel lieber hört sie die Klassiker aus den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern: Springsteen, Sam Cooke, Tina Turner ... Seit zwei Jahren sind Ruby und Tim zusammen – für viele das Traumpaar der Oberstufe! Jetzt aber, wo sie ihr Abitur in der Tasche haben, wird ihre Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Ruby geht ein Jahr lang als Au-pair nach Australien. Tim wiederum reist mit seinem Rucksack durch Südamerika. Wenn das Jahr vorbei ist, wollen beide zusammen nach Hamburg ziehen und dort studieren. Das ist der Plan ...

Mehr als 24 Stunden dauert der Flug von Köln nach Byron Bay, an das andere Ende der Welt. Dreimal musste Ruby umsteigen – zuerst in Dubai, dann in Singapur, dann noch mal in Sydney. Jetzt befindet sich die Maschine im Landeanflug auf den Ballina Byron Gateway Airport in New South Wales, könnte aber gerne noch mal eine Ehrenrunde drehen – so nervös ist Ruby! Tausend Gedanken gehen ihr durch den Kopf: Sie vermisst schon jetzt ihre Mama, ihren Hund, ihr Zuhause, und natürlich Tim! Kann sie gut genug die englische Sprache? Kann sie eigentlich mit Kindern umgehen? Ruby atmet dreimal tief durch.

»Ich bin gut gelandet«, tippt Ruby in ihr Handy, als sie auf ihr Gepäck wartet. „Ich vermisse dich, Mama!« Wenig später schiebt sie den Wagen mit ihren Koffern in Richtung Exit. Noch einmal tief durchatmen! Als sich die Tür öffnet, sieht Ruby ihn sofort in zweiter Reihe stehen: Ray Miller – ihren Gastvater. Mehrmals haben sie telefoniert, Fotos geschickt. Fremd ist er Ruby dennoch.
»Wie schön, dass du da bist«, sagt Ray und drückt Ruby. »Herzlich willkommen! Wie war der Flug? Du musst ja völlig fertig sein. Komm, ich nehme dein Gepäck! Entschuldige, dass ich kein Willkommensschild habe. Sonny sollte eins basteln, naja ...«

Etwa dreißig Minuten sind es vom Ballina Airport nach Byron Bay, dem östlichsten Punkt Australiens! Hier wohnt Familie Miller. Ray mit seinen zwei Söhnen: Eden und Sonny. Was Ruby über die Millers weiß? Ray besitzt »The Farm«, eine Art Landwirtschaftsbetrieb. Eden ist 18 Jahre alt und macht bald seinen Schulabschluss. Sonny ist das Nesthäkchen, fünf Jahre alt, und um ihn wird Ruby sich die nächsten zwölf Monate kümmern.

»Und, was weißt du über Byron Bay, Ruby?«, ruft Ray. Wegen des Windes kann sie ihn kaum verstehen. Sein Jeep Wrangler hat kein Verdeck.
»Dass Chris Hemsworth hier wohnt. Dass die Bewohner sich erfolgreich gegen die Eröffnung eines McDonald's gewehrt haben. Und dass es ein Hippie-Surfer-Dorf ist.«
»Chris Hemsworth wohnt nicht nur hier – er ist unser Nachbar! Und ja, das mit dem Hippie-Surfer-Dorf stimmt«, sagt Ray, als er auf ein Straßenschild zeigt. Darauf steht: »Welcome to Byron Bay! Cheer Up, Slow Down, Chillout!«
Ruby will gerade antworten, da sieht sie ihn – den Pazifik! Diese Blautöne: türkis, aquamarin, Azur ... Wo hört der Himmel auf? Wo fängt das Wasser an?
»Das ist der Seven Mile Beach«, sagt Ray. »Ganz am Ende wohnen wir.«
Der Schotterweg dahin schlängelt sich durch das Naturschutzgebiet Broken Head. Die Palmen und die Farne sind frisch geduscht, vom Regen der letzten Nacht, und leuchten im saftigsten Grün. Es duftet nach Eukalyptus.
»Ihr habt Pferde?«, fragt Ruby, als sie an einer Koppel vorbeifahren.
»Ja, das sind Navarro und Silvia. Du kannst jederzeit ausreiten.»
Da ist es, das Haus der Millers. Viel Weiß, viel Holz, viel Glas. Im Garten wachsen Kokosnusspalmen, Mangobäume und Frangipani. Es ist so ganz anders als die Dreizimmerwohnung in Köln, wo Ruby mit ihrer Mama Isabell lebt. Ruby steht neben dem Infinity Pool und blickt auf den Seven Mile Beach. Die Aussicht ist spektakulär.

»Das wird dein Zimmer«, sagt Ray und blickt auf das Poolhaus.
»Ich verstehe nicht ganz.«
Ray lächelt und bringt ihre Koffer hinein.
»Ray? Ray, warte!«
»Gefällt es dir nicht?«
»Das ist zu viel. Das ist zu groß.«
»Hier hast du deine Ruhe, dein eigenes Bad. Glaub mir, du willst dir nicht mit drei Männern ein Bad teilen. Apropos, los, wir fahren zum Strand. Ich will dir die Jungs vorstellen. Deine Mom rufst du später an, sie schläft ja jetzt bestimmt noch.«
»Ach ja, der Zeitunterschied«, denkt Ruby. Noch etwas, an das sie denken muss.
»Ruby, willst du fahren? Du solltest dich am besten schnell an die linke Spur gewöhnen.«
»Ab morgen, okay?«
»Okay!« Ray merkt, dass es alles ein bisschen viel auf einmal ist.

Auf dem Weg zum Strand ist die Brandung schon zu hören, doch durch das Dickicht des Regenwaldes noch nicht zu sehen. Plötzlich aber verläuft die Schotterpiste im weißen Sand ... »Eden bringt Sonny das Surfen bei. Sie sind wahrscheinlich schon den ganzen Tag hier. Jetzt im Winter sind die Wellen einfach der Wahnsinn«, sagt Ray.
Winter im Juli? Noch etwas, das am anderen Ende der Welt so ganz anders ist.
»Da draußen! Siehst du sie? Sie sind die einzigen Surfer«, sagt Ray.
Zwölf Kilometer Strand und bloß zwei Menschenseelen.
Ray pfeift. Eigentlich wollte er bloß seine Jungs auf sich aufmerksam machen, stattdessen kommt Noodle angerannt.
»Darf ich vorstellen? Die Dame unseres Hauses: Noodle, unsere Goldendoodle-Hündin. Sie scheint dich zu mögen. Normalerweise lässt sie sich nicht so einfach streicheln. Ah, da kommen ja die Jungs.«
Rubys Herz rast wie verrückt. So viele neue Menschen. Sie fühlt sich total überfordert.
»Ruby, das ist Sonny, mein Jüngster.«
»Hi! Ich freue mich, in den nächsten Monaten für dich da zu sein.«
Sonny reagiert nicht. Er steht nur da, in seinem kleinen Neoprenanzug, mit beschlagener Taucherbrille.
»Sonny!« Ray ermahnt ihn.
»Kein Problem, Ray! Ich bin auch schüchtern«, sagt Ruby.
»Vielleicht ist er ja gar nicht schüchtern. Vielleicht mag er dich einfach nicht.« Der erste Satz, den Eden zu Ruby sagt. Er schaut ihr in die Augen, verzieht keine Miene.
»Gott, Eden! Es tut mir leid, Ruby. Meine Söhne benehmen sich mal wieder daneben.«
»Schon gut! Ich sollte jetzt eh meine Mom anrufen, denke ich.«
»Okay, ich bringe dich nach Hause.« Ray wirft seinen Jungs einen strengen Blick zu.

»Welch ein australisches Klischee Eden ist«, denkt Ruby, zurück im Poolhaus. Wilde Haare, braun gebrannt, Surfbrett unterm Arm. Ruby verdreht die Augen.
»Ich dachte, Australier wären freundlich und locker. Eden aber ist unhöflich und arrogant. Egal! Mit ihm muss ich nicht klarkommen. Es ist viel wichtiger, dass Sonny mich mag. Und wahrscheinlich hilft es nicht gerade, dass ich mich direkt zurückziehe.«
Ruby kramt die Gastgeschenke aus ihrem Gepäck und geht ins Haupthaus. In der Küche ist niemand. Ruby will gerade wieder gehen, als sie Stimmen hört. Das Fenster zur Auffahrt steht offen.
»Was sollte das, Eden? Kannst du nicht einmal nett sein?«, fragt Ray. »Nachher beim Barbie wirst du dich benehmen.«
»Ich hab keine Zeit«, sagt Eden, als er die Surfbretter von seiner Ladefläche räumt.
»Wie, du hast keine Zeit? Ich habe dir gesagt, dass wir heute Abend ein Willkommensessen für Ruby machen.«
»Und ich habe dir gesagt, dass ich schon was vorhabe. Ich bin mit Alexis und Lee unterwegs.« »Dann nimm Ruby mit. So kann sie direkt mehr Leute in ihrem Alter kennenlernen.«
»No way! Wozu die Mühe? Sie wird doch wahrscheinlich eh in ein paar Tagen wieder weg sein, wie die Kindermädchen vor ihr. Sonny ist ein Problemkind, schon vergessen?«
»Von wem er das wohl hat?«
»Witzig, Dad! Ich bin jedenfalls nicht der Babysitter unserer Babysitterin. Vergiss es!«

Ruby geht zurück ins Poolhaus. Noch nie in ihrem Leben hat sie sich so unwohl gefühlt. Kurze Zeit später klopft Ray an ihre Tür.
»Hey, du hast bestimmt Hunger. Ich schmeiße jetzt den Grill an. Wir machen ein Barbie. So nennen wir Aussies ein Barbecue. Eden wird leider nicht dabei sein. Er entschuldigt sich.«
»Ich weiß, es ist erst 8 Uhr, aber ich denke, ich gehe lieber schon ins Bett. Der Jetlag macht mich ziemlich fertig.«
»Bist du sicher?«
»Ja, tut mir leid!«
»Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Falls du später Hunger bekommst, plündere gern den Kühlschrank, okay? Dann schlaf gut!«

Ruby lässt sich auf ihr Bett fallen. Müde ist sie schon irgendwie, aber schlafen kann sie bestimmt nicht. Sie wollte einfach für den Rest des Abends allein sein, alles einmal sacken lassen, nachdenken. Angekommen ist sie im Paradies, nur wirklich willkommen fühlt sie sich hier nicht.

to be continued ...






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⏰ Last updated: Dec 06, 2020 ⏰

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