1. aller Anfang ist schwer

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e i n s

Angespannt stieß ich die angehaltene Luft aus und starre aus der Fensterfront die aus der Nebelsuppe hindurchstechenden obersten Stockwerke der Hochhäuser New Yorks an. Es war mittlerweile Herbst geworden und der lästige Nebel war jedermanns treuer Begleiter in dieser Millionenmetropole.
Seit vier Monaten betrachte ich jeden Tag die Außenwelt durch die große Fensterfront meines Büros. Seit vier Monaten sitze ich in der Chefetage eines millionenschweren Unternehmens und muss die großen, die wichtigen Entscheidungen mit meinem Endurteil absegnen.

Und das, obwohl ich ursprünglich am Bau gearbeitet hatte. Dort aufgewachsen war und von der Ruppigkeit der Bauarbeiter zu einem Mann erzogen wurde.

Ich vermisste meine Jungs.

Die Umgangsformen am Bau, so brutal und erbarmungslos sie auch sein konnten, hatten mich keineswegs darauf vorbereiten können, wie es in einem Büro zuging.
Die Hierarchie in Bürokomplexen wie diesem, mit tausenden von Mitarbeitern, wo dich nicht dein Name oder deine Arbeit ausmachen, sondern vielmehr auf welcher Etage dein Schreibtisch steht und welchem hohen Tier du den Kaffee morgens bringen darfst, nur um dich dann anmeckern zu lassen, das er nicht heiß genug ist oder das Mischverhältnis von Kaffee und Milch nicht stimmt, sind vernichtender und existenzbedrohender als in jedem vergleichbaren Milieu. 

Es ist hart und ein stetiger Kampf ums Überleben. Wer sich von unten nach oben gearbeitet hat, musste dafür ganz schön was leisten und nach den Strapazen, die sie auf ihrem Weg auf sich nehmen mussten, welche zwar keine Entschuldigung für ihr Verhalten waren, jedoch konnte man dadurch verstehen, warum sich sich verhielten wie sie es nun mal taten.
Und die, die den Strapazen und der andauernden Tortur nicht standgehalten hatten, lebten mit hoher Wahrscheinlichkeit nun auf der Straße.

"Meine Verspätung tut mir leid, Mister Shepperd. Die U-Bahn war so voll, dass ich die Nächste nehmen musste. Ihr Kaffee ist durch die Wartezeit kalt geworden und der Coffeeshop unten an der Ecke hat heute geschlossen." Außer Atem und mit unordentlichen Klamotten stand mein jüngster Assistent Thomes in der Tür meines großen Büros.
Beschämt strich er sich sein Hemd wieder zurecht, während er versuchte meinen Blick zu meiden.

"Schon gut, Thomes. Heute war mir eh nicht nach Kaffee." Mit einer lieblosen Handbewegung schickte ich ihn aus meinem Büro.
Der Junge war anständig und ordentlich, aber seine Vergesslichkeit und das fehlende Zeitgefühl würde ihm den Kampf ums Überleben sehr schwer machen.
Er nickte, murmelte ein erneutes 'Entschuldigung' und wollte die große Designertür meines Büros hinter sich zuziehen als eine große Hand ihn davon abhielt.

Lustlos drehte ich mich weg.
Wer auch immer mein nächster Gast sein würde, würde meine Zeit nicht mit Entschuldigungen über fehlenden Kaffee verschwenden, sondern mit ernsthaften Geschäftsgesprächen zu denen ich rein gar nichts beisteuern konnte.
Ich konnte sie ja nicht einmal verstehen.

Würde die Geschäftsgespräche über Statik und das Mischverhältnis von Wasser und Zement handeln, könnte ich mit meinem grenzenlosen Wissen prahlen. Jedoch bei Aktienkursen, Fusionen oder Due Dilligence Berichten war mein Hirn so blank wie frisch chlorgereinigte weiße Wäsche.

"Ich an Ihrer Stelle hätte ihn dafür gekündigt." Francis betrat wie immer gut im teuren Designeranzug gekleidet mein Büro und setzte sich ohne zu fragen auf einen der zugegebenermaßen bequemen, aber teuren, Polsterstühle.

"Gut, dass Sie nicht an meiner Stelle sind.", antwortete ich und konnte den unterkühlten Unterton meiner Stimme nicht verhindern. Ich wusste, woran ich bei Francis war und er sollte genauso wissen, woran er bei mir war.

Der Mittsechziger lachte gekünstelt auf und ließ seinen Blick kurz durch das Büro schweifen, während ich auf meinem Bürostuhl hinter dem pompösen Schreibtisch platznahm.

unmoralisch ✓Where stories live. Discover now