POSTKARTE 27: Postkarte voller Wahrheiten

Beginne am Anfang
                                    

Yule verdreht die Augen über meine Aussage, aber er kann sich nicht lange gegen mein Lachen wehren und irgendwann sitzt er da mit verschränkten Armen und trotziger Miene und unterdrücktem Lachen und es bringt mich noch mehr zum Kichern.

🌲

Ich weiss nicht, was ich öfter hin und her gedreht habe, meinen Körper oder meine Gedanken. Es ist mitten in der Nacht und ich bin hellwach. Seit Stunden kann ich nicht einschlafen.

Nachdem Yule und ich auf der Terrasse zusammen gelacht haben und noch mehr gelacht haben, als wir versucht haben, nicht mehr zu lachen, weil es mitten in der Nacht war und wir niemanden wecken wollten, und alles wieder gut war, sind wir irgendwann todmüde ins Bett gefallen.

Und trotzdem bin ich jetzt hellwach. Während Yule so schnell eingeschlafen ist wie noch nie, fällt es mir heute zum ersten Mal schwer.

Ich liege auf der Seite und starre an die Wand. Das Kissen unter meiner Wange ist weich und ich bilde mir ein, es würde nach Lavendel riechen. Vielleicht tut es das auch wirklich, vielleicht werde ich den Gedanken an das Lavendelfeld heute Morgen auch einfach nur nicht los.

Der heutige Tag war seltsam, weil er wie eine Schwelle war, vor der Yule und ich stehen. Vielleicht stehe ich auch nur allein davor und dieses Unwissen, ob Yule auch da ist, das macht die ganze Sache nicht gerade leichter.

Das alles fühlt sich ein bisschen an, wie damals, als ich zum ersten Mal auf dem Sprungturm war und am Rand stand - kurz davor, abzuspringen. Und während ich im ersten Moment fest entschlossen war, endlich mutig zu sein, habe ich im nächsten Moment einen Schritt rückwärts gemacht und hätte am liebsten all die anderen hinter mir vorgelassen. Oben bleiben, sicher sein.

Ich drehe mich auf die andere Seite. Im Halbdunkel kann ich Yule schemenhaft erkennen. Ich schliesse die Augen und kann noch immer nicht einschlafen. Und dann öffne ich sie wieder und sehe Yule.

Und während ich ihn ansehe und hoffe, dass er davon nicht aufwacht, dass er dieses eine Mal nicht merkt, dass ich ihn ansehe, dieser selbstgefällige Idiot, denke ich, dass ich Yule niemals wieder verlieren möchte. Und wenn Yules Freundschaft behalten vorerst bedeutet, dass ich am Rand stehen bleibe, die Schwelle nicht übertrete, nicht springe, dann werde ich das tun.

So lange, bis Yule meine Hand nimmt. Auch, wenn mich der Gedanke, ein Feigling zu sein, nicht schlafen lässt.

Ich drehe mich wieder von Yule weg und weil ich so wach bin wie an dem Tag, als ich Kaffee mit Koffein getrunken habe, schwinge ich die Beine über den Bettrand und stehe auf.

Ich greife nach meinen Sachen, schleiche so leise ich kann zur Tür und schlüpfe hinaus in die warme Nachtluft. Der schwache Schein der Strassenlaternen auf dem Parkplatz vor dem Bed & Breakfast erleuchtet mir den Weg zur Terrasse, wo ich mich an einen Tisch setze und eine Postkarte mit Namen und Adresse beschrifte.

Yules Namen zu schreiben fühlt sich vertraut an, so vertraut, dass ich fast glaube, meine Hand hätte nur darauf gewartet, es endlich zu tun.

Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen von damals, das auf dem Sprungturm stand und gezögert hat. Und dass ich am Ende dann doch noch gesprungen bin, ganz allein und ohne Hilfe, weil irgendwann alles egal war, der Moment wichtiger war als das Danach, die Angst, ist alles, woran ich beim Schreiben denken kann.

🌲

»Phoenix.«

Yules Stimme reisst mich aus dem Schlaf und ich schrecke hoch. Verwirrt blinzle ich ihn an, es ist hell, Morgen, und Yule steht vor mir, hellwach und angezogen.

»Kaum zu fassen, dass tatsächlich ich einmal derjenige bin, der dich aufweckt. War schon etwas seltsam, heute Morgen nicht von deinem schiefem Gesang geweckt zu werden«, fährt er fort, sein Tonfall spöttisch.

POSTKARTENSOMMERWo Geschichten leben. Entdecke jetzt