(59) Unerwartet [2/3]

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Ich starrte einige Sekunden lang nur dieses Bein an. Übelkeit machte sich schwallartig in mir bemerkbar, kroch mir meinen Hals hoch. Ich hatte das Gefühl, jede Bewegung von mir würde mich jetzt dazu bringen, mich zu übergeben. Meinen Magen überschwappen lassen.
Ich atmete zitternd ein und versuchte, auf klare Gedanken zu kommen, während ich meinen Blick noch immer nicht von dem Bein des jungen Mannes lösen konnte.
Es war beinahe völlig zerstört. An mehreren Stellen sah man durch die zerfetzte Hose Knochenstücke ragen, die sich durch das blutige Fleisch aus der Haut geschoben hatten. Generell war alles unnatürlich gebrochen und verschoben.

Und obwohl es nicht das erste Mal war, dass ich so etwas sah, kam es für mich so unvorbereitet, so plötzlich. Im Dienst wusste man wenigstens, dass etwas auf einen zukommt. Wenn auch nicht, was.
Aber das heute ließ es mich dann doch an meine Grenzen kommen.
Wie konnte es sein, dass ich gerade noch mit Phil über das Aussehen eines Ringes nachgedacht hatte und jetzt ein Mann schwerverletzt am Boden lag? Sein Bein vielleicht nie wieder bewegen konnte?
Die Situation war so surreal für mich. Alles war so schnell passiert, so schnell vorbei.

Endlich schaffte ich es, meinen Blick von dem Bein zu lösen und auf Herr Jansens Gesicht zu fokussieren. Doch seine Augen waren geschlossen.
"Herr Jansen, Augen auf!", sagte ich laut mit noch immer zittriger Stimme und schlug ihm leicht auf die Wange.
"Machen Sie mal die Augen auf!", rief ich wieder, doch er reagierte nicht. Ich setzte ihm einen Schmerzreiz. Keine Reaktion.
Automatisch kontrollierte ich Puls und Atmung. Wenigstens das war noch vorhanden.
Ich drehte mich um und wollte Phil etwas zurufen. Doch bevor ich dazu ansetzen konnte, bemerkte ich etwas anderes und in mir kochte augenblicklich brennend heiße Wut hoch, die die Übelkeit ein Stück weit vertrieb.
Smartphones. Leute, die das ganze filmten.
Diese Aktion von einigen hatte ich noch nie verstanden. Und ich werde es wohl auch nie. Denn ich konnte kein bisschen nachvollziehen, weshalb man so etwas tun sollte.
Filmen, anstatt zu helfen.
Das Leid anderer zu nutzen, um selbst Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ich rappelte mich auf.
"Legt die Handys weg!", rief ich laut in ihre Richtung. Ein paar lachten. Ich spürte die Flammen der Wut förmlich in mir züngeln.
So schnell, wie meine Beine es momentan zuließen, ging ich auf den ersten Mann zu, der ziemlich nah am Unfall stand und seine Kamera grinsend auf den Verletzten gerichtet hielt.
"Legen Sie das Handy weg", fauchte ich ihn an.
Er bedachte mich mit einem herablassenden Blick. "Ich bin ja gleich fertig", sagte er höhnend.
Mir war mittlerweile schlecht vor Wut und ich spürte Tränen in meine Augen schießen. Wie konnte man so sein?
"Sie legen jetzt auf der Stelle das Handy weg!", zürnte ich und verdeckte mit meiner Hand die Kamera. "Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wenn Sie verletzt am Boden liegen würden, hätten Sie es dann gerne, dass jemand Sie filmt? Bestimmt nicht, oder?"
Der Typ schien mir gar nicht zuzuhören, sondern war nur mit seinen Aufnahmen beschäftigt.
"Ey was soll das", sagte er unwirsch und versuchte, meine Hand wegzuschlagen.
"Was das soll?" Ich bebte mittlerweile vor unterdrückter Wut.
"Sie legen jetzt sofort Ihr Handy weg", sagte ich gefährlich leise.
"Wenn ich hier fertig bin, wie gesagt", erklärte mir der Mann in einem Tonfall, mit dem man mit Dreijährigen redete. Seine Worten hatten mich zur Weißglut getrieben. Jetzt reichte es.

Er schwenkte nun sein Handy in Richtung des Unfallwagens und versuchte, an mir vorbeizukommen.
Ich griff nach seinem Handy und riss es ihm einfach aus der Hand.
"SPINNST DU JETZT KOMPLETT?!", schrie er mich an und wollte auf mich losstürzen.
"DAS FRAGE ICH MICH BEI DIR AUCH!", schrie ich ebenfalls und funkelte ihn zornig an.
Der Mann machte einen großen Schritt auf mich zu und umschloss fest meinen Arm. Ich hob abwehrend meine Hände.
"Stopp, aufhören!" Phil rannte auf uns zu.

Doch die Miene des Mannes hatte sich urplötzlich geändert. Das dunkle Rot seines wutverzerrten Gesichtes wich fleckenweise einem bleichen Weißton.
Sein Blick war auf sein Handy gerichtet, welches noch immer in meiner Hand war. Seine Augen waren weit aufgerissen und er schien plötzlich etwas zu verstehen.
Ich sah ebenfalls auf das Handy. Das Blut des Verletzten, welches noch in meiner Handinnenfläche haftete, hatte nun Abdrücke auf dem Display hinterlassen. Ein einzelner, dunkelroter Tropfen rann an der Außenseite der Hülle hinab.
Der Mann schluckte schwer. Ihm schien etwas klar geworden zu sein.
Seine Hand löste sich von meinem Arm, er entriss mir sein Handy und rannte einfach davon.

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Macht noch etwas aus dem Tag <3

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt