(78) Neun von Zehn [1/4]

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Etwas ratlos stand ich vor meinem Spiegel und betrachtete kritisch mein Selbst in dem weit geschnittenen, blassrosa Kleid. Mein Blick wanderte zur Uhr. Es war bereits halb sechs und Elina würde sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Ich sah wieder in den Spiegel. Nein, so konnte ich echt nicht losgehen.
Mit spitzen Fingern zog ich ein maisgelbes Cocktailkleid aus dem großen Stapel achtlos aus dem Schrank geworfener Klamotten hervor und zog es mir vorsichtig über. Halbwegs zufrieden musterte ich mich und drehte mich ein wenig zur Seite, um mich auch aus einer anderen Perspektive anzusehen. Dieses Kleid war mir auf jeden Fall lieber als das vorige, wenn es auch nicht perfekt war. Aber ich war zu recht soliden neunzig Prozent zufrieden.
Ich stöckelte zur Badtür und umschloss gerade den Türgriff, als mir auffiel, dass der sorgsam aufgetragene weiße Nagellack mit den schwarzen Punkten auf meinem linken kleinen Finger verwischt war.
Erbost starrte ich auf die nun wieder sichtbare rosa Stelle meines Fingernagels hinab und machte auf dem Absatz kehrt, um ein Fläschchen Nagellack aus meinem Schlafzimmer zu holen. Es gab ja kaum etwas nervigeres als verwischten Nagellack.

„Da bist du ja endlich", rief mir Elina aufgesetzt tadelnd zu, während sie mir aus dem Fahrerfenster ihres Autos zuwinkte.
„Jaja", sagte ich entschuldigend und ließ mich auf ihren Beifahrersitz fallen, „ich bin halt so gut im Entscheidungen fällen, was Klamotten angeht, wie du beim Warten, wenn es Tiramisu zum Nachtisch gibt." Ich grinste ihr zu.
Sie neigte leicht den Kopf und warf ihren Motor an.
„Da hast du einen Punkt", gab sie zu und versuchte, dieses alberne Gespräch mit voller Ernsthaftigkeit zu beenden. Was in einem Lachanfall seinen gegenteiligen Verlauf fand.
Prustend wischte Elina sich eine Lachträne aus dem Auge und fuhr nach kaum zehn Metern erstmal an den Straßenrand, was mich noch stärker zum Lachen brachte.
„Nicht, dass ich noch jemanden umfahre", keuchte Elina zwischen zwei Lachanfällen schließlich und hielt sich die Seite.
Ich versuchte mein Lachen unterdessen mit Yoga-Atemübungen zu therapieren und musste diese Anstrengungen angesichts dieser Aussage wieder aufgeben.
„Das sehe ich ja schon in den Nachrichten", kicherte ich. Ich setzte mich sehr gerade hin, räusperte mich, hielt mit meiner Hand ein imaginäres Mikrofon fest und versuchte mich mit meiner besten Nachrichtensprecherstimme: „Zwei bescheuerte Mittzwanziger fahren unschuldigen Mann an. Ursächlich war vermutlich ein Lachanfall, der bereits nach zehn Metern Fahrtweg für den kolossalen Unfall-"
„Hör auf!", kreischte Elina neben mir und schlug mir derb auf den Arm.
Ich fürchtete, an meinem eigenen Lachen zu ersticken. Mein Kopf musste hochrot sein und schien bald zu platzen, wenn wir uns nicht bald wieder beruhigten.

Erst ganze zwanzig Minuten später parkten wir schließlich etwas abseits des Restaurants und wurden von unserer alten Schulfreundin Katarina empfangen.
„Na endlich. Ich dachte schon, ich müsste ohne euch essen gehen." Sie zog eine Schnute, welche mein pausiertes Dauergrinsen sofort wieder aktivierte.
„Entschuldigen Sie." Ich deutete einen Knicks an, während ich auf sie zukam.
„Ich entschuldige Sie." Katarina zog erst mich und dann Elina in die Arme und seufzte dann auf. „Endlich haben wir das hier mal auf die Reihe bekommen."
Elina grinste. „Tja, mit einer Rettungssanitäterin und einer Studentin im Auslandssemester wirklich kein leichtes Unterfangen."
„Ich bin sehr stolz auf uns", sagte ich mit voller Überzeugung und schob meine beiden Freundinnen in Richtung des Restaurants.

Als wir wenig später mit unseren Sektgläsern anstießen und in Erinnerungen und Erzählungen schwelgten, musste Elina plötzlich kichern.
„Du Jacky, dieser Typ von deinem Geburtstag letztens, dieser Florian, arbeitest du noch mit dem zusammen?" Sie blickte mich gespannt an.
Ich runzelte meine Stirn. „Florian Wehr? Klar, wieso?"
Wieder musste Elina kichern und sah dabei wie eine 13-jährige im besten Pubertätsalter aus. „Ich fand ihn irgendwie echt süß. Also keine Ahnung, aber ich muss dauernd an ihn denken."
Ich verdrehte die Augen. Jetzt redete sie auch noch wie eine 13-jährige im besten Pubertätsalter.
Katarina hingegen musste grinsen. „»Elina Wehr«, würde schon schön klingen. Ich bin doch dann sicher Trauzeugin, oder?"
„Jaja, jetzt mach mal halblang." Elina winkte ab. „Ist der Herr denn schon vergeben?"
Elina und Katarina sahen mich nun beide mit dem gleichen Grinsen an und ich starrte entgeistert von einer zur anderen.
Bitte lass es Vernunft regnen.
„Äh", gab ich einen geistreichen Beitrag dazu ab. „Ich denke nicht", sagte ich dann langsam.
Elina und Katarina gaben sich einen High Five und ich mir einen Facepalm.

Die nächste halbe Stunde fühlte ich mich wie eine Partnerschaftsagentur. Ich wurde sehr unfreiwillig in die verrücktesten Verkupplungspläne einbezogen und Teil einer riesigen Florian-Wehr-Charakteranalyse über alles, was ich den beiden zu berichten hatte und all jenes, was sie sich über ihn zusammenreimen konnten.

Ergeben hob ich schließlich beide Hände. „Leute, falls es kommt, dann kommt es auf seinem eigenen Weg. Irgendwann und irgendwie, vielleicht dann, wenn man es am wenigsten erwartet."
„Aber Pläne schmieden ist toooollll." Wieder zog Katarina ihre Schnute und wieder musste ich grinsen.
„Sicher, aber manchmal kannst du den besten Plan haben und es geht trotzdem alles schief." Ich fühlte mich wie der letzte Moralapostel.
„Hey, es muss nicht immer alles schief gehen. Und manche Pläne gehen auf." Elina verschränkte gespielt eingeschnappt ihre Arme vor der Brust und schien von ihrer Traumprinz-Theorie keinen Millimeter abweichen zu wollen.
Ich seufzte.

Als wir kurz darauf aus dem Restaurant traten, sog ich genussvoll die kühle Abendluft ein und nahm den sanften Geruch nach ferner Grillkohle wahr. Die Straße war leer und still und von den Laternen in einen orangenen Schein gehüllt. Nur in der Ferne konnte man noch das Rauschen von Autos und Zügen ausmachen.
Ich drehte mich zu meinen Freundinnen um und umarmte Katarina zum Abschied fest.
„Das müssen wir bald wieder machen", sagte ich entschlossen, während auch Elina sie in eine herzliche Umarmung zog.
„Nächstes Wochenende?", schlug Katarina vor.
„Muss ich mit dem Dienst schauen", sagte ich vage.
Elina lächelte. „Mal sehen."
Katarina nickte und lief rückwärts in Richtung ihres Wagens. „Sagt einfach Bescheid", meinte sie fröhlich, „immerhin müssen wir Projekt 'Florian' weiter ausbauen."

Elina und ich folgten ihrem Auto noch mit unserem Blick, bevor es in der Ferne nicht mehr auszumachen war und wir uns gemeinsam auf den Weg zu ihrem Wagen machten.

Was dann geschah, ist von einem Schleier umhüllt.
Ich hatte nichts wahrgenommen, nichts gehört und nichts gesehen.
Es war viel zu schnell.
Viel zu plötzlich.
Ein heller Schrei gellte durch die Nacht und ich wusste nicht, ob es meiner war, ob es Elinas war oder der einer fremden Person. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging. Doch der Schrei konnte nicht retten, was nicht mehr zu retten war.
Der viel zu schnelle Wagen riss uns mit stählerner Kraft um und warf mich hart auf den warmen Asphalt. Mein Körper flog gegen eine leere Mülltonne und blieb einen Moment reglos liegen.

Alle Luft war aus meinen Lungen gepresst.

Ich begriff nichts.

Dann ergriff die blinde Panik von mir Besitz.

Hektisch versuchte ich auf die Beine zu kommen und irgendwie aufzustehen.
Ich sah nur glitzernde Flecken vor meinen Augen, ich stolperte, ich stürzte.
Sah kaum, was vor mir war und noch weniger begriff ich es.
Der Schock saß mir stechend im Hals und zitternd ließ ich mich einige Meter abseits auf der anderen Straßenseite neben einem parkenden Auto auf den Bordstein sinken. Meine Beine wollten mich nicht länger tragen und angestrengt versuchte ich, meine pfeifende Atmung zu beruhigen und die Situation irgendwie zu ordnen.

Mein Herz rannte einen Marathon und ließ meinen Blick verschwimmen.

Erst allmählich nahm ich einen kribbelnden Schmerz wahr, der sich von meinen linken Fingern ausbreitete.
Doch mein entsetzter Aufschrei blieb mir im Hals stecken, als ich auf meine Hand hinabsah.
Tränen schossen mir in die Augen und ich war nicht fähig, Luft zu holen.
Mir wurde schlecht und ich versuchte verzweifelt, Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen.
Ich will den Tag nochmal neu starten.
Ein paar Minuten zurückspulen.
Einfach nur zehn Sekunden später aus dem Restaurant kommen.
Irgendwas anders machen.
Eine neue Entscheidung treffen.
Nochmal.
Neu.
Irgendetwas.
Doch keine meiner Bitten konnte irgendetwas ausrichten, irgendetwas ändern.
Die Endgültigkeit schlug mit brennender Schärfe zu und ließ keinen Raum für Hoffnung oder Zweifel -

Der Finger war ab.

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Falls das hier noch jemand lesen sollte, dann ein liebes Hallo und ein großes Danke!
Ich verstehe nicht, wohin die ganze Zeit verschwindet 0_0

Macht noch etwas aus dem Tag :)

ᴀsᴅs - sʜᴏʀᴛ sᴛᴏʀɪᴇs Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt