Kapitel 6

774 36 4
                                    

Er lachte und sie spürte seine Brust unter ihrer Hand beben. “Wir sind im London, Darling, natürlich können wir dir noch was Süßes besorgen.“ Widerwillig rappelte sie sich auf und während er noch seine Hose abklopfte, sah sie noch mal in den Himmel. Sie spürte, wie er vor sie trat, die Arme um sie legte und wie selbstverständlich, legte sie ihre Hände auf seine Schultern. So standen sie einige Momente da, sahen in den Himmel. “Na komm.“ Er griff nach ihrer Hand. “Wir besorgen dir was Süßes!“ Und so verließen sie den Park.
Nach ungefähr zehn Minuten Fußweg steuerte er einen Laden an, der viel versprechend aussah. Sie kaufte sich mit Schokolade überzogene Erdbeeren und er nahm ein Eis, beides zum Mitnehmen. Schon nachdem sie aus der Tür getreten waren, blieb sie stehen und griff sich eines der Früchte aus der Tüte. Nichts ging über den Geschmack von Erdbeeren mit Schokolade! ‚Obwohl, ich weiß noch nicht, wie Tom schmeckt', schoss es ihr durch den Kopf. Sie biss auf die Frucht und das schwere, schmelzende der Schokolade vermischte sich mit dem frischen, leichten der Erdbeeren und sie konnte ein Seufzen nicht zurückhalten.
"Scheint zu schmecken." Tom zwinkerte ihr zu, während er noch seinen Geldbeutel in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Noch immer genießerisch die Augen geschlossen hielt sie ihm die Tüte hin. Es dauerte nicht lang, da fühlte sie seine Hand durch das Papier.
"Hmm", seufzte nun auch er, nachdem die Erdbeere in seinem Mund verschwunden war. Verschmitzt sah sie ihn an.
"Scheint zu schmecken."
"Und ob!", erwiderte er, legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie so weiter die Straßen und Wege entlang. Alles lag dunkel vor ihnen, die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen. Lediglich vereinzelte Straßenlaternen spendeten ihnen Licht. Ihre Schritte und das ab und an einsetzende Knistern ihrer Tüte, waren die einzigen Geräusche, die sie begleiteten. Man hätte es fast als gruselig beschreiben können, all die Straßen wie leergefegt, weit und breit nicht eine Menschenseele. Doch der starke Arm um ihre Schultern schützte sie, erstickte die Angst im Keim und erfüllte sie mit einer tiefgreifenden Geborgenheit.
Sie bemerkte gar nicht, wo sie hinliefen. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, auf den Weg zu achten. Immerhin kannte sie sich hier sowieso nicht aus und würde Tom dementsprechend vertrauen müssen. Was nicht hieß, dass sie es nicht sowieso schon tat.
"Schau mal!", sagte Tom plötzlich und deutete auf ein großes Gebäude umgeben von einem großen Zaun mit eisernen Pforten. In der Dunkelheit war es schwer, Details zu erkennen, die weiter als ein paar Meter entfernt vom Zaun waren.
"Was ist das?", fragte sie noch immer unschlüssig, wo sie sich überhaupt befanden.
"Was das ist?" Tom klang irritiert, lachte im nächsten Moment aber wieder auf und drückte sie an sich. "Das ist der Buckingham Palace, Dummerchen!"
„Oh!“
„Los! Komm!“ Er zog an ihrer Hand und führte sie direkt auf den hohen Zaun zu.
„Tom, was wird das?“ Ihr wurde etwas mulmig zumute, als sie über die asphaltierte Straße liefen und sich dem Schloss immer weiter nährten.
„Es ist dunkel. Da musst du schon etwas näher ran, um was zu erkennen.“
„Aber ist das nicht… also ich meine…“ Sie schluckte. „Stehen hier nicht immer Wachen?“
„Ja, aber auf der anderen Seite des Zauns. Die können uns also gar nichts. Und selbst wenn: Wir beide wären schneller.“ Auch wenn sie es nicht sah, sie konnte schwören, dass er ihr gerade zugezwinkert hatte.
Kurz vor dem Tor blieben sie stehen. Es war noch immer so dunkel, dass außer den schemenhaften Umrissen der Fassade nichts zu erkennen war. Aber das war auch nicht nötig: Die Schatten der Mauern wirkten so gewaltig, dass sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. Das Schloss musste riesig sein.
„Wow. Da kommt man sich mit seiner kleinen Einraumwohnung schon fast etwas schäbig vor.“
Tom lachte leise auf. „So denkst du, aber die Queen sieht das sicher etwas anders.“
Fragend sah sie ihn an. „Was sollte sie denn an einer muffigen, überteuerten Wohnung mitten in der von Abgasen verseuchten City schöner finden als… nun ja… das hier?“ Sie deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Schloss. Kurz schwiegen sie. Als Tom jedoch wieder zu sprechen begann, war seine Stimme ernst.
„Du lebst vielleicht nicht in so viel Prunk und Reichtum, wie es die königliche Familie tut und du bist vielleicht auch nicht so privilegiert wie sie. Aber du hast deine Freiheiten. Du kannst in jede muffige, überteuerte Einraumwohnung in jeder Stadt auf dieser Welt ziehen. Du hast die Möglichkeit, dir aus dem Nichts etwas aufzubauen, dass nur dir gilt. Du kannst lernen, dich frei entfalten und deinen Interessen nachgehen. Du kannst dich treffen mit wem du willst und du hast wahrscheinlich in letzter Zeit mehr Menschen gesehen als die Queen je in einer ganzen Woche. Du bist dein eigener Boss, deine Verantwortung liegt nur bei dir selbst und nicht darin, ein gesamtes Land zu führen. Das ist nun nicht mehr ganz der Fall, aber dennoch: Ich glaube nicht, dass ich gern mit einem von ihnen tauschen würde.“
Darauf wusste sie erstmal nichts zu sagen. Sie schwiegen, den Blick beide noch immer auf das Schloss gerichtet. Sie war in Gedanken noch immer dabei, abzuwiegen, ob er recht hatte oder ob es nicht doch von Vorteil war, königlichen Blutes und damit vom höchsten aller möglichen Stände zu sein, als sich seine Finger wieder warm um ihre schlossen.
„Entschuldige“, lachte er leise auf und zog sie an sich, sodass sein Kopf gegen ihrem lehnte. „Das hätte ich nicht sagen sollen. Diese Nacht ist zu schön, um sich über so etwas Gedanken zu machen.“
Sie lehnte sich zurück und legte ihm eine Hand an die Wange. „Aber du hast recht.“
„Ach, tatsächlich?“ Fragend zog er eine Augenbraue nach oben, während er seine Hand um ihr Handgelenk legte.
„Ja. Ich meine, wenn ich nicht eine Normalsterbliche gewesen wäre, wäre ich nie nach England gekommen. Dann hätte ich nie in diesem Pub zu arbeiten begonnen. Und dann hätten wir uns nie getroffen.“

Er lächelte, dann nahm sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an. „Wer weiß…“ Schwungvoll trat er einen Schritt zurück, ihre Hand noch immer fest in seiner und sah sie an. „Vielleicht hätten wir uns ja dennoch getroffen. Nur eben unter anderen Umständen.“
Sie lachte. „Du meinst auf einem Ball statt in einem Irish Pub?“
„Genau. Ein Ball“, grinste er und verneigte sich vor ihr. „Ich hätte dich durch den Saal angelächelt. Dann wäre ich ganz plötzlich hinter dir aufgetaucht und hätte gesagt: ‚Darf ich Sie um diesen Tanz bitten, Miss Lissy?‘“
Sie trat einen Schritt auf ihn zu, noch immer ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. „Und ich hätte freudestrahlend zugestimmt, bei dem charmanten Lächeln.“
„Ganz genau! Und dann wären wir durch die Menschenmenge gelaufen, du in einem wunderschönen Kleid und ich in einem schwarzen Anzug-“
„Mit knallroter Krawatte, bitte!“
Er grinste. „-mit knallroter Krawatte, und die Leute hätten uns hinterhergestarrt und sich gewundert, wer diese zwei verdammt gutaussehenden Adeligen sind.“ Er zog sie etwas weiter weg von Zaun. Schließlich blieb er stehen, seine Hand legte sich sacht auf ihre Hüfte, während die andere ihre umschloss und hob: Tanzstellung. Er war ihr so nah, dass es ihr die Sprache verschlug.
„Und dann“, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, „hätte das Orchester angefangen zu spielen. Und wir hätten getanzt.“ Er begann, ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzten. Erst verkrampfte sie sich etwas, lenkte ihre ganze Konzentration auf die Schritte, die er ihr vormachte. Doch nach einer Weile löste er seine Hand von ihrer Hüfte und hob stattdessen ihr Kinn an, sodass sie ihn ansehen musste.
„Hey“, flüsterte er und seine Augen waren so weich, dass ihr Herz etwas schneller schlug. „Hör auf nachzudenken. Mach einfach!“ Dann legte er seine Hand wieder zurück, doch ihr Blick heftete sich weiterhin an seinen. Um sie herum war es mucksmäuschenstill. Nur ihre eigenen Schritte und das entfernte Rauschen des Londoner Nachtverkehrs erinnerten sie daran, wo sie sich befanden. Es spielte keine Musik, aber die brauchten sie nicht. Er bewegte sich und sie folgte ihm, dem Rhythmus ihres Herzens folgend.

Irgendwann – sie wusste nicht mehr, wie lang sie getanzt hatten – lehnte er sich vor, bis sie seine Stirn an ihrer spürte. „Da sagt nochmal einer, du kannst nicht tanzen.“
Sie lächelte und zuckte leicht mit den Schultern. „Was soll ich sagen? Ich hatte eine gute Führung.“
Das Lächeln auf seinem Gesicht war mit Abstand das schönste, das sie je gesehen hatte. „Da bin ich aber froh. Ich habe schon befürchtet, meine Stummtanzkünste hätten dich verschreckt.“
“Nein, im Gegenteil! Ich kann das nächste Mal kaum abwarten!“
Er zwickte sie leicht in die Seite “Bin ich dieses nächste Mal denn auch dabei?“

A Night In London | Tom Holland ffWhere stories live. Discover now