Kapitel 38

216 32 2
                                    

Mika keuchte. Er lehnte sich gegen das Treppengeländer und musste erst einmal zu Atem kommen. Sein Puls raste, seine Finger zitterten. Er blickte auf das Blut, auf die toten Körper der Soldaten, die verstreut im Flur herumlagen. Er hatte diese Menschen getötet.

Mika musste sich über das Treppengeländer übergeben, so schlecht war ihm.

Dann fiel sein Blick auf Toms. Er lag am Boden, die Augen geschlossen. Mika lief zu ihm. »Toms.« Er berührte Toms, um ihn wach zu bekommen. »Toms.« Mika rüttelte an Toms. Verdammt. Warum kam Toms nicht zu sich.

»Toms«, schrie er dem alten Mann ins Ohr. »Toms.« Er schluchzte.

»Mika?« Toms öffnete leicht die Augen und lächelte. »Du hast es geschafft.«

»Kannst du aufstehen?« Toms stöhnte auf, doch Mika stützte ihn, als er wieder auf die Beine kam. Kurz blickte sich Toms im Flur um, er war wohl auch geschockt vom Blut, das den ganzen Gang zierte.

»Wir müssen aus dieser Stadt verschwinden.« Mika nickte. Ja, das mussten sie. Bald würde sicherlich Verstärkung kommen. Bis dahin mussten sie es geschafft haben.

Sie gingen zurück in die Wohnung, stiegen um die toten Körper der Soldaten. Hinten im Wohnzimmer saßen Yuki und Gia neben Mikas Mutter auf dem Sofa und weinten.

Mika blickte an sich herunter. Seine Kleidung war blutbeschmiert, ebenso wie die von Toms. Sie sahen aus wie Schlächter.

Als seine Mutter sie erblickte, zog sie erschrocken die Luft ein und schrie auf. Nun sahen auch Yuki und Gia zu ihnen und rissen die Augen auf.

»Sie«, begann Mika und räusperte sich. »Sie sind ... weg.«

Seine Mutter begann, den Kopf zu schütteln und dabei irgendetwas zu murmeln. Mika biss sich auf die Unterlippe. Es musste ein schreckliches Bild für seine Geschwister sein.

Toms nahm ihm die nächsten Worte ab. »Wir müssen aus dieser Stadt fliehen.«

Nun starrte Mikas Mutter sie an, als hätten sie den Verstand verloren. Sie schwieg, starrte sie weiter an, dann sprach sie endlich. »Wir sollen mit euch gehen?« Ihre Stimme zitterte. »Ihr seid Mörder. Das kann ich nicht.« Tränen schossen aus ihren Augen, sie senkte den Blick zur Seite.

Wut kam in Mika auf. Dafür war jetzt keine Zeit. Wenn sie nicht sofort flohen, war es zu spät. »Hör auf damit!« Zum ersten Mal in seinem Leben schrie er seine Mutter an. »Du bist so kindisch! Bist du blöd? Wenn wir von hier nicht bald weg sind, sind wir tot! Okay, tot! Ich will nicht draufgehen und ich lasse nicht zu, dass Yuki und Gia draufgehen müssen.«

»Es sind meine Kinder!« Nun schrie auch seine Mutter.

Yuki und Gia hielten sich die Ohren zu. Ihre Augen glitten von Mika zu ihrer Mutter. Sie mussten sich entscheiden. Wem vertrauten sie mehr?

»Yuki, Gia.« Nun sprach Mika zu seinen Geschwistern. »Vertraut mir. Wir müssen von hier verschwinden. Bitte, kommt mit mir.«

»Glaubt ihm kein Wort«, kreischte seine Mutter. »Er lügt. Er hat Menschen getötet. Er wird uns alle töten. Ihr seid meine Kinder. Und ihr geht nirgendwo hin.«

»Das werden wir ja sehen.« Toms trat mit dem Messer in der Hand vor, auf Mikas Mutter zu. Sie wich erschrocken zurück. Offenbar wurde ihr bewusst, dass Toms es ernst meinte.

»Nicht.« Mika hielt Toms zurück. »Yuki, Gia. Ja, wir mussten diese Menschen verletzen. Aber nur, weil sie sonst uns verletzt hätten. Euch verletzt hätten. Ich würde alles für euch tun. Nur euretwegen bin ich zurückgekommen. Bitte, kommt nun mit mir.«

»Nein«, schrie seine Mutter. »Lasst mich nicht alleine. Das könnt ihr doch nicht tun.«

»Du kannst mitkommen«, schlug Mika ihr vor, doch sie schüttelte nur den Kopf.

»Niemals.« Sie spuckte das Wort geradezu aus.

Mika ging auf Yuki und Gia zu. Noch immer wanderten ihre Augen zwischen ihm und seiner Mutter umher. »Kommt ihr mit mir?«

Eine Sekunde lang herrschte Totenstille im Raum. Die Anspannung, die über dem Raum lag, war förmlich zu spüren und zu hören, wie ein Knistern.

Dann nickte Yuki unter Tränen. Gia ebenfalls. Mika musste sich erleichtert eine Träne unterdrücken. Nun würde alles gut werden.

Seine Mutter sprang auf und riss Yuki am Arm weg. »Er bleibt bei mir! Meine Kinder bleiben bei mir!« Sie lief in die Küche, Mika rannte hinterher.

»Keinen Schritt weiter.« Mikas Mutter hatte ein Messer in der Hand und hielt es Yuki vor den Hals. Yuki schrie auf, als er die Klinge direkt vor ihm erblickte.

»Meine Kinder gehen nirgendwohin.« Mika stand entsetzt da. Seine Mutter war verrückt. Sie musste verrückt sein. Was tat sie denn da?

»Lass Yuki los.« Er trat einen Schritt auf sie zu. Ihre Hand, in der sie das Messer hielt, zitterte, die Klinge bewegte sich auf und ab.

»Geh weg!«, schrie sie. »Keinen Schritt weiter oder du wirst es bereuen!«

Mika trat noch einen Schritt auf sie zu. Die Klinge kam Yukis Hals noch näher.

»Lass ihn los! Er ist dein Sohn!« Mikas Stimme überschlug sich. Sie würde doch Yuki nicht etwas antun, oder? Er machte noch einen Schritt auf sie zu.

Dann fiel das Messer klirrend zu Boden. Seine Mutter schluchzte, nahm die Hände vor das Gesicht.

Mikas schnellte vor und riss Yuki aus ihrer Hand, nahm ihn in dem Arm, streichelte ihn über den Rücken. »Alles ist gut. Alles ist gut.«

Er sah seine Mutter nicht an, als sie die Wohnung verließen. Das brauchte er auch nicht. Sie würde nicht mitkommen. Aber sie würde sie ziehen lassen. Sie hatte eingesehen, dass sie zu weit gegangen war, als sie ihren eigenen Sohn als Druckmittel verwendet hatte.

Sanft schloss Mika die Tür. Yuki und Gia hielten sich die Augen zu, um das Blutbad nicht mitansehen zu müssen.

»Du hast alles richtig gemacht.« Toms klopfte ihm auf die Schulter.

Mika seufzte. Irgendwie fühlte sich das hier nicht wie ein Sieg an. Er dachte an Will und die anderen. Sie hatten vermutlich ihr Leben hergegeben. Wofür? Für das hier? Für dieses Gemetzel.

»Es tut mir leid«, flüsterte er in die Stille. Toms, Yuki und Gia waren ihm bereits etwas voraus. Toms hatte verstanden, dass er nun etwas Zeit für sich brauchte.

Er hatte Menschen ermordet. Seine Mutter zurückgelassen. Und er empfand nicht einmal Schuldgefühle dafür. War er schon so abgehärtet?

Sie verließen ihr Zuhause, gingen zu der Stelle, an der Mika mit Toms aus dem Untergrund gestiegen war. Mika bekam nicht wirklich mit, was um ihn herum geschah, zu sehr beschäftigt war er mit sich selber.

Sie stiegen schweigend in den Untergrund. Toms half Yuki und Gia hinabzuklettern. Diesmal war es Mika egal, dass es dort unten stockdunkel war, diesmal fürchtete er sich nicht davor.

Er fühlte sich leer. Es war, als würde alles um ihn herum ihn nicht mehr betreffen. Als wäre er lediglich ein passiver Beobachter.

Toms führte sie durch die Dunkelheit. Nach einiger Zeit, Mika wusste nicht, ob viel oder wenig Zeit vergangen war, hatten sie den Ausgang erreicht. Er sah das Tageslicht und dahinter kam der Wald zum Vorschein.

Yuki und Gia rissen die Augen auf, als sie die grünen Bäume und Büsche sahne, die Tiere, die Schmetterlinge, die bunten Blumen, der Geruch nach Wald, nach Natur.

Mika musste lächeln. Er musste genau, wie sie sich fühlten. Er hatte dasselbe verspürt.

Yuki und Gia liefen raus aus der Kanalisation, Richtung Wald. In die Freiheit.

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt