Kapitel 6

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Als sich die Tür öffnete, klopfte Mikas Herz wie wild. Das Gesicht seines Vaters erschien im Türrahmen. Seine Kinnlade klappte herunter. Er starrte Mika an, unfähig zu glauben, dass sein Sohn gerade vor ihm stand.

Dann stieß er wortlos die Tür auf und ging zurück in die Wohnung. Mika trat vorsichtig ein. Bislang war es nicht so schlimm wie vermutet.

Seine Mutter kam auf ihn zugerannt, sie umarmte ihn. Ihre Finger zitterten.

»Mika«, schluchzte sie in einem solchen Ton, dass Tränen Mikas Gesicht herunterliefen.

»Es tut mir so leid.« Er versuchte, seine Stimme fest und sicher klingen zu lassen, aber scheiterte auf ganzer Linie. Seine Mutter heulte nun beinahe.

Hinter ihr kam Mikas Vater zum Vorschein. Er stand da, die Arme vor der Brust verschränkt und starrte auf die beiden mit regungslosem Gesicht. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, doch er wagte es nicht, diesen Moment zu zerstören.

Langsam löste sich seine Mutter von Mika und setzte sich auf einen Stuhl. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Mika stützte sie.

»Wo warst du?« Die Stimme seines Vaters klang nicht wütend, sie war so seltsam distanziert. Fremdartig.

Mika räusperte sich. Sein Mund fühlte sich rau an, sein Hals geschwollen. Er brachte kaum einen Ton heraus. »Es ... ich ...«

Er wollte so vieles sagen in diesem Moment, doch es war, als könnte er keine Sätze mehr bilden. Er fand keine Wörter für das, was er ausdrücken wollte.

»Wir haben uns Sorgen gemacht.« Seine Mutter kämpfte erneut mit den Tränen. »Wie konntest du uns das antun?«

So sollte das nicht laufen. Er wollte es doch erklären. Er wollte nichts lieber, als endlich die Wahrheit zu sagen. Doch der Gesichtsausdruck seiner Mutter ließ ihn zusammensinken. Er hatte seine Eltern angelogen. Die wichtigsten Menschen in seinem Leben neben seinen Geschwistern verraten und betrogen. Dafür gab es keine Ausrede. Keine Erklärung.

»Es tut mir so leid«, schluchzte er erneut.

»Es tut dir leid?« Sein Vater war bisher erstaunlich ruhig geblieben, aber nun brauste er auf. »Deine Mutter ist halb gestorben, solche Sorgen hat sie sich um dich gemacht! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Du kannst doch nicht einfach mitten in der Nacht verschwinden und dich irgendwo herumtreiben! Wir waren krank vor Sorge! Krank, hörst du!«

Mika biss sich auf die Unterlippe. Heiße Tränen liefen über seine Wangen.

»Wo warst du?«

»Schrei nicht so Lucius.« Seine Mutter blickte Mika sanft an.

Aber er verstand seinen Vater. Er würde an seiner Stelle genauso reagieren.

Doch was sollte er darauf entgegnen? Er hatte alle enttäuscht. Es war gerechtfertigt, dass sie sauer waren.

»Jamie ist tot.«

Plötzlich verstummte sein Vater. Seine Wut war mit einem Mal, mit einem Satz verschwunden.

Drei Wörter.

Drei so unscheinbare Wörter. Doch jedem in diesem Raum war klar, was sie bedeuteten. Jeder von ihnen begriff, welch entsetzliche Konsequenzen diese drei Wörter mit sich brachten.

Mit einem Mal war alle Wut, alle Enttäuschung, alle Sorge, aller Schmerz wie weggeblasen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

»Wie lange noch?«, brach sein Vater schließlich das Schweigen. Er sah dabei an Mika vorbei, als könnte er es nicht ertragen, ihn anzuschauen.

Mika schluckte. »Drei Tage.«

Seine Mutter brach erneut in Tränen aus. Mika legte seinen Arm um sie, tröstete sie. Er blickte zu seinem Vater. Mit gläsernen Augen starrte er aus dem Fenster. Hinauf auf die Stadt. Auf den Ort, an dem sie immer gemeinsam gespielt hatten. Dorthin, wo ihre alte Wohnung lag. Auf die Stadtmauer.

»Mika!« Yuki kam auf ihn zugerannt. Plötzlich blieb er stehen. »Was ist los?«

Sie schwiegen. Yuki schien verwirrt. Aber was sollten sie ihm sagen? Dass er seinen Bruder nur noch drei Tage sehen würde?

»Yuki ...« Sein Vater haderte. Er suchte nach den passenden Worten, doch wie schon zuvor Mika fand er sie nicht. So stammelte er bloß. »Es ist ... es ist etwas Schlimmes passiert.«

Yukis Augen weiteten sich. Mika stiegen Tränen hoch. Seinen kleinen Bruder so ansehen zu müssen, schmerzte unerträglich.

»Wo ist Gia?«, fragte sein Vater.

Das ließ Yukis Gesicht wieder aufhellen. »In unserem Zimmer.«

Sein Vater blickte weiter todernst. Das verunsicherte Yuki offensichtlich. »Hol sie bitte hierher.«

Yuki rannte los. Mika konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Blick auf seinen Vater verriet ihm, dass dieser ebenfalls kämpfte. Warum mussten immer die Unschuldigen am meisten leiden? Warum Yuki und Gia? Warum?

Aber eigentlich kannte Mika die Antwort. Er war der Grund. Er war es, der schuld war. Seine Geschwister waren so klein. So unschuldig. Doch seinetwegen würden sie leiden müssen. Wie konnte er nur so ignorant sein? So selbstsüchtig.

Die Blicke von Mika und seiner Mutter trafen sich. Sie weinte. Er weinte. Doch in ihrem Blick war noch etwas anderes. Es ist nicht deine Schuld, sagte ihr Blick.

»Was ist passiert?« Die Stimme von Gia riss Mikas Herz in zwei Teile. Ein Stich fuhr durch seine ganzen Körper. Es tat so weh. Diese Unschuld zu sehen, zu hören und zu wissen, dass sie verdammt waren. Seinetwegen.

»Es tut mir so leid«, wisperte Mika.

Sein Vater senkte den Blick, als er sprach. »Mika muss ... gehen. Ihr werdet ihn vielleicht nie wiedersehen.«

Yuki riss die Augen auf und starrte auf Mika. Mika liefen noch mehr Tränen über die Wangen. Seine Augen mussten aussehen wie die eines Monsters, so rot waren sie bestimmt.

Eine einzelne Träne lief über Gias Gesicht. Eine Träne. Und doch so eine wunderschöne. So eine unschuldige Träne.

Mika wandte sich von den beiden ab. Er ertrug den Anblick nicht mehr, der schlimmer als ein Spiegel war.

»Lasst ihr uns kurz mit Mika allein?« Die sanfte Stimme seiner Mutter ließ ihn wieder hochblicken. Yuki und Gia gingen. Schweigend. Ohne einen Ton.

»Wir müssen reden«, meinte sein Vater. Mika nickte. Er setzte sich an den Tisch, neben seine Mutter. Auch sein Vater setzte sich.

»Du musst fliehen.«

»Was?« Dieser Satz erwischte Mika völlig kalt. Er war noch nicht einmal dazu gekommen, alles zu gestehen und nun redeten sie über seine Flucht!

»Dir bleibt nichts anderes übrig. Du hast noch ein ganzes Leben vor dir. Aber du wirst nie wieder aus diesem Teufelskreis herauskommen. Wenn du jetzt nicht fliehst, wirst du für immer ein Außenseiter bleiben.«

Mika schüttelte den Kopf.

»Wohin soll ich denn fliehen? Sie werden mich überall finden!«

Sein Vater sah ihm tief in die Augen. »Du musst diese Stadt verlassen. Das ist deine einzige Chance.«

»Aber was ist mit euch? Sie werden euch dafür bestrafen, was ich tue.«

»Mach dir keine Gedanken um uns! Es ist dein Leben. Wir werden das durchstehen. Gemeinsam. Aber du musst fliehen! Du musst dein Leben für immer hinter dir lassen, wenn du jemals frei sein möchtest!«

Nein, das wollte er nicht! Er wollte sie nicht verlassen. Sie im Stich lassen. Das konnte er nicht! Das durfte er nicht!

Mika weinte. Er wollte seine Familie nicht zurücklassen. Er wollte sie nicht nie wiedersehen können.

»Du musst aber«, meinte sein Vater. Und das Schlimme war, er hatte recht.

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt