Kapitel 36

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Da standen sie nun alle vor ihrem Haus. Mika, seine Geschwister, Toms. Sie starrten hoch auf die bunten Fenster und tristen Balkone. Keiner wagte, den ersten Schritt in den Flur zu wagen.

Irgendwie fühlte es sich seltsam, fremd an, als wäre das hier nicht mehr sein Zuhause, als wäre das nicht der Ort, an dem er so viele Kinderjahre verbracht hatte.

»Lass uns reingehen.« Toms trat in den Flur. Nun löste sich auch Mika aus seiner Starre und folgte ihm. Es roch modrig und gammelig im Treppenhaus. Seltsam, das war ihm früher, als er hier gelebt hatte, nicht aufgefallen.

Der Aufzug ging mal wieder nicht. Ein Kontrolllämpchen blinkte rot im Sekundentakt. Das hieß, sie mussten Treppen steigen. Irgendwie war Mika davon nicht gerade begeistert.

Er blickte auf die Stelle, an der der tote Soldat, oder besser gesagt, sein zerquetschter Körper gelegen hatte. Übelkeit stieg in Mika auf. Das Bild hatte sich in seinen Kopf eingebohrt und ließ sich nicht vertreiben.

»Komm.« Toms zog an seinem Ärmel. Mika schossen einige Tränen in die Augen, er wischte sie schnell mit dem Ärmel weg. Bleib ruhig, sagte er sich selber. Wir sind gleich wieder weg. Sie mussten nur seine Mutter holen und dann aus dieser gottverdammten Stadt verschwinden. Völlig egal, was da draußen war, es war tausendmal besser als diese Stadt.

Als sie im zwanzigsten Stock ankamen, schnaufte Mika. Er blickte zurück. Yuki und Gia waren noch einige Stockwerke weiter unten. Verdammt. Er hatte ja gar nicht an Yuki gedacht. Vielleicht bekam er wieder keine Luft.

Mika fluchte und stieg die Treppen wieder hinunter. Toms blickte ihm skeptisch hinterher, machte aber keine Anstalten ihm zu folgen, sondern lehnte sich an das Treppengeländer und atmete durch.

Mika hörte das Rasseln in Yukis Atem von weitem. Er nahm nun zwei Treppenstufen auf einmal und traf Yuki und Gia auf halber Strecke.

»Geht es dir gut?« Er nahm Yuki in den Arm.

Yuki nickte leicht. Er umklammerte das Treppengeländer mit einer Hand. Sein Atem ging stoßweise.

»Ruh dich ein bisschen aus, dann kommst du nach«, meinte Mika. Yuki nickte schwach. Zu mehr war er wohl nicht in der Lage. »Bleib bitte bei ihm«, sagte er, an Gia gewandt. »Und bleibt hier. Ich hole Mama und wir kommen dann zu euch runter.«

Mika hastete die Treppe wieder hoch. Sein Puls raste, er spürte sein Herz pochen. Egal. Er wollte Yuki und Gia nicht lange alleine lassen. Nicht, dass noch etwas geschah.

»Wo sind deine Geschwister?«, fragte Toms, als er im zwanzigsten Stock angekommen war.

»Sie ruhen sich aus. Wir holen jetzt meine Mutter. Dann verschwinden wir aus diesem Drecksloch.«

Toms nickte zustimmend. Mika stützte sich mit den Händen auf den Knien ab, um wieder zu Atem zu kommen. Dann gingen sie zu Tür.

Mika drückte die Klingel. Er hörte den vertrauten schrillen Ton in der Wohnung. Doch abgesehen davon, nichts. Mika drückte noch einmal. Hatte seine Mutter die Klingel denn nicht gehört? Schlief sie vielleicht? Oder war sie etwa nicht da?

Nein, sie war bestimmt da. Sie arbeitete nicht mehr. Um diese Zeit würde sie nirgendwo sein.

Erneut horchte er, ob sich etwas in der Wohnung regte. Doch da war nichts. Kein Geräusch. Keine Schritte.

Er klingelte ein drittes Mal. Diesmal hielt er den Knopf länger gedrückt. Jetzt musste wirklich jeder aufwachen, egal wie tief man schlief.

Und tatsächlich polterte es in der Wohnung. Dann ertönten Schritte, die sich der Tür näherten. Endlich. Ein Riegel wurde beiseitegeschoben, die Tür wurde geöffnet.

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt