POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht

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Ich drehe meinen Kopf zu ihm. »Also ich meine, woher kommt dein Erspartes für diese Reise?«

»Ich hab' Nachhilfe in Englisch gegeben.«

»Ach?« Ich hebe eine Augenbraue, dabei sollte es mich eigentlich gar nicht überraschen. Und dann tut es das eben doch.

»Ja.« Er grinst. »Ich hab meinen Schülern ganz viele seltene Wörter beigebracht.«

»Und was, bitteschön, sollen deine Schüler mit diesem Wissen anfangen?«

»Ist immer gut, solche Dinge zu wissen.« Er zuckt mit den Schultern und sein Grinsen wird verschmitzt. »Lenkt hervorragend davon ab, dass man die Grammatik nicht kann.«

»Du musst ja ein toller Lehrer gewesen sein.«

»Ich war der Beste.«

»Kann ich mir vorstellen. Bei deiner Engelsgeduld.«

»Wäre ich nicht geduldig, wärst du längst nicht mehr hier.«

Ich schnaube. Und lehne mich zurück in meinen Sitz.

»Wo fahren wir eigentlich hin?«

»Zurück nach Washington.«

Zurück nach Washington ist zwar keine Antwort, mit der ich besonders viel anzufangen weiss, denn Washington ist gross und die Wälder endlos, aber eigentlich spielt es auch gar keine so grosse Rolle, dass ich den Ort, an dem wir heute übernachten werden, nicht kenne, denn ich lasse mich gerne überraschen.

Gleichzeitig frage ich mich ob mir je wieder ein Ort so gut gefallen könnte, wie Bend mir gefallen hat, mit seinen Abenden voller Leben am Fluss und den umliegenden abenteuerlichen Wäldern, aber eigentlich weiss ich, dass ich Bend vielleicht gar nicht so sehr liebe, weil es Bend ist.

Auch - aber nicht nur, denn was in Bend geschehen ist, ist etwas, das mein Herz ein bisschen schneller hat schlagen lassen.

Und wenn ich so darüber nachdenke, dann weiss ich, dass es möglich ist, dass mir auch die nächsten Orte wieder so gefallen könnten, wenn Yule mein Herz weiterhin zum Flattern bringt. Denn das tut er längst und ich hoffe, er hört nicht damit auf.

Noch weiss er nämlich nichts davon und obwohl er viel nachdenkt, scheint das eine Sache zu sein, die seinen Gedanken immer und immer wieder zu entwischen scheint.

🌲

Ich weiss zwar nicht, wo wir heute Abend ankommen werden, aber dafür weiss ich ganz genau, wo wir sind, als Yule das Auto auf einem staubigen Parkplatz nach einer knapp zweistündigen Fahrt abstellt, und vor uns rote Hügel aufragen.

Die Blumen am Rand des Parkplatzes, der in einen Holzweg übergeht, sind gelb, die Hügel golden und rot und braun, der Himmel strahlend blau und ich, ich bin überrascht und ein bisschen überwältigt vom Anblick der Painted Hills, die ich immer auf Bildern, aber noch nie im echten Leben gesehen habe.

Staub wirbelt auf, als ich aus dem Wagen springe, und die Sonne blendet mich, denn sie ist in den letzten Stunden höher gestiegen, ihre Strahlkraft hat zugenommen und ich halte mir die Hand vor die Augen.

Die Painted Hills gehören nicht nur zu den Sieben Wundern Oregons, sondern auch zu den Orten, die ich in meinem Leben unbedingt einmal gesehen haben möchte, und jetzt kann ich sie dank Yule von meiner Liste abhaken.

»Die Tageszeit ist nicht ideal«, sagt Yule und bleibt knapp hinter mir stehen. »Am Nachmittag ist das Licht schöner und sie lassen sich besser fotografieren.«

»Yule.« Ich drehe mich zu ihm um. »Was interessieren mich Fotos? Ich will sie sehen, weil ich sie sehen will und nicht, weil ich davon ein Foto machen möchte, um es anderen zu zeigen.«

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