Schritt in die Freiheit (überarbeitet)

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Ich war definitiv nicht mehr in meiner Heimatstadt, geschweige denn in der Nähe davon.
Kam es mir nur so vor, oder waren das tatsächlich Wellengeräusche? Viel Zeit mir darüber Gedanken zu machen hatte ich eh nicht mehr, denn von hinten riss mich etwas zu Boden. Doch ich sprang sofort wieder auf die Füße.

Mit jedem Schritt vorwärts, wurde das Geräusch der Brandung lauter. Wo hatte er mich hingebracht? Dann waren da plötzlich aufgebrachte Schreie hinter mir. Eine Schar aus Wesen der Schatten kam auf mich zu. Ihre Gesichter waren jedoch nicht wütend. Nein, komischer Weise sahen sie besorgt aus. Eine andere Frage kam mir in den Sinn: Warum flogen sie nicht? Wenn sie nicht flogen, hatten sie Angst gesehen zu werden...
Und das wiederum hieß, dass hier irgendwo andere Leute waren.

"HALT AN!!! VERDAMMT TALIA!!!", riefen verschiedene Stimmen gleichzeitig durcheinander. Aber ich dachte gar nicht daran. Und dann plötzlich war vor mir kein Boden mehr.

Mit einem lauten "O-Oh!" machte ich im letzten Moment einen Schritt zurück und landete unsanft auf meinem Hintern. Langsam rappelte ich mich wieder auf und warf vorsichtig einen Blick über die Kante. Dahinter ging es geschätzte zwölf Meter in die Tiefe. Gewaltige Wellen knallten gegen das sandige Kliff und fraßen unersättlich an Stein und Sand. Als ich einen Blick zurückwarf, standen die Wesen aus Schatten um mich herum und schlossen mich ein. Hinter mir war nichts und vor mir ein paar aufgebrachte Wesen der Nacht.
Vorsichtig machte ich einen Schritt weiter nach hinten. Weg von diesen Bestien. 

Jetzt spürte ich auch meinen geschundenen Körper. Der Sand unter meinem rechten Bein war bereits hellrot. Die Schnitte auf meinen Armen schmerzten ebenfalls.

Ich ging noch einen Schritt zurück. Und noch einen. Meine Ferse schwebte bereits über dem Abgrund.
"Stop.", hörte ich Adriens Stimme und kurz darauf schritt er zwischen zweien seiner Soldaten hindurch.
"Talia! Geh nicht weiter."
Ich blickte ihn an.
"Bitte!" Seine Stimme war so unglaublich schön. Verlockend. Sanft. Auf seinem Gesicht war ernsthafte Angst zu sehen.
"Ich bleibe stehen wann ich will!", fauchte ich und rutschte noch weiter zurück. Seine Augen wurden groß.
"Talia, komm da weg und wir reden in Ruhe über alles. Ich verspreche dir, dass du es verstehen wirst.", erzählte er sanft und aus irgendeinem Grund, glaubte ich ihm.
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Er blickte zur Seite und schluckte langsam. Seine Kiefermuskeln zuckten kurz. Dann sah er mich wieder an.
"Ich bitte dich.", sprach er gutmütig. "Komm da weg. Ich brauche dich."
Ich lachte bitter auf.

"Deine Schwester braucht dich.", sagte er dann.
Ich stockte. Mary. Mein Herz schmerzte, wenn ich an sie dachte. Ihr niedliches kleines Lachen. Ihre süßen Zöpfe. Ihr Schmollmund, wenn sie etwas nicht bekam.
"Es ist für sie kein Unterschied wo ich bin. Ich bin nicht für sie da. Weißt du wie sich das anfühlt? Es tut weh. Es tut verdammt weh.", meinte ich leise und die erste Träne löste sich aus meinem Auge und lief mein Gesicht hinab. Der Wind zog an meiner Kleidung und spielte mit meinem Haar.
"Nein, das wusste ich nicht. Aber wir wissen beide, dass du von der Klippe wegkommen willst, bevor noch etwas unsagbar schlimmes passiert. Wir gehen zurück und vergessen was hier passiert ist, okay?" Er lächelte wunderschön und hielt mir seine Hand entgegen. Ich sah darauf und traf meine Entscheidung.
Tränen liefen unaufhaltsam über meine Wangen und hinterließen eine kalte Spur auf meinem Gesicht. 

Plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung war und realisierte, dass sich von links einer seiner Soldaten angeschlichen hatte. 

Erschreckt trat ich einen Schritt nach hinten. 

Einen verdammten Schritt zu weit. 

Ich verlor das Gleichgewicht und fiel. 

Ein erstickter Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich versuchte mich irgendwo festzuhalten, aber da war nichts. 

"NEIN!", hörte ich Adrien schreien.

Wenn man sein Leben liebt, denkt man nicht viel über den eigenen Tod nach. Die meisten Menschen möchten niemals sterben, das liegt in den Genen. 

Man möchte jeden schönen Moment festhalten und nie wieder loslassen. Man möchte nicht vergessen werden. Aber das schaffen die wenigsten. Wer denkt in zwanzig Jahren noch an mich, wenn ich jetzt sterbe?

Meine Familie wird nie erfahren, was aus mir geworden ist. Vielleicht haben sie mich schon vergessen.
Wie fühlt sich sterben an? Leicht. Sterben ist leicht
Wie Schneeflocken die zu Boden segeln.
Wie das Spiel des Windes mit meinen Haaren.
Leicht wie Sonnenlicht auf der Haut zu spüren.
Leicht, wie lachen.
Leicht, wie atmen...
Leicht, wie sterben...
Über mir sah ich den blauen Himmel. Ein letztes Mal. Ich lächelte. Dann schloss ich die Augen und dachte an gar nichts. Ich fiel einfach.
Und dann tauchte ich ein in eine andere Welt. Eiskaltes Wasser presste mir den letzten Rest Sauerstoff aus den Lungen und trieb mich fort.
Es war vorbei.
Sterben war leicht. Leicht wie ein Schritt. Ein Schritt in die Freiheit.

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now