Beinahe

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Unter mir rauschte der Wasserfall in die Tiefe.
Der Wind riss an meinem Haar und trug einen Teil des Wassers zu mir.
Ich war bereits durchgefrohren bis auf die Knochen.
Meine eisigen Finger würden sich sowieso nicht mehr lange an dem Geländer festhalten können, damit würde der Wind mir meine Arbeit abnehmen.
Mit geschlossenen Augen stand ich da. Auf der falschen Seite des Geländers der Brücke, die über den Fluss führte. Wie oft war ich schon über diese Brücke nach Hause gegangen? In die kleine Wohnung, in der ich mich jedoch immer nur alleine gefühlt hatte.

"Was machst du da?"
Erschrocken wand ich mich nach links. Mitten auf der Brücke stand ein junger Mann. Die Laterne beleuchteten sein Gesicht kaum doch ich erkannte ihn. Er arbeitete in dem Laden für Comicbücher, den ich häufig nach der Arbeit besucht hatte. Ich erinnerte mich sogar an seinen Namen. Raphael. Das wusste ich, weil ich jedes Mal, wenn er mit mir gesprochen hatte, rot angelaufen war und auf sein Namenschild gestarrt hatte.
Jetzt sah ich ihm jedoch offen ins Gesicht.
"Geh weg" flüsterte ich und wand mich wieder dem Abgrund zu.
"Das kannst du vergessen"
Ich konnte hören, dass er näher kahm.
"Ich lasse dich das bestimmt nicht tun."
Ich lachte freudlos auf.
"Das ist ja wohl kaum deine Entscheidung."
Damit löste ich meine eisigen Finger von der Brüstung.
Ich weiß nicht, wie er so schnell näher gekommen war doch zwei Arme legten sich um meine Mitte und hielten mich fest. Noch bevor ich etwas hätte tun können, um mich zu befreien, hatte er mich schon über das Geländer gezogen.
Dann riss ich mich mit letzter Kraft los und sackte auf dem Boden zusammen.
Ich rollte mich auf dem kalten Asphalt zu einer Kugel zusammen und schloss die Augen. Ich hatte keine Kraft mehr. Ein Rascheln brachte mich dazu, meine Augen flatternd zu öffnen. Ich blickte in Raphaels Gesicht. Er hatte sich direkt neben mich gelegt. In seinen Augen glänzten goldene Sprenkler und er sah mich einfach nur an.
"Warum tust du das" fragte ich flüsternd.
Ein Lächeln huschte über seine Züge. "Was für ein schlechter Mensch müsste man denn sein, um so etwas zuzulassen?" Sein Blick wurde sehr ernst.
"So hatte ich mir ein Treffen außerhalb des Ladens eigentlich nicht vorgestellt." Sollte das heißen, dass er wusste, wer ich war?
Wieder hörte ich dieses Rascheln und ich blinzelte und sah an Raphaels Gesicht vorbei. Hinter ihm glaubt ich ein paar schimmernde Schwingen zu erkennen. Sie bewegten sich kaum merklich und der Wind, der auf der Brücke ungehindert pfiff, ließ die Federn rascheln.
Wieder blinzelte ich. Ich hob eine Hand und streckte sie nach den Flügeln aus. Ich rechnete damit, einfach ins Leere zu fassen doch meine Fingerspitzen berührten etwas zartes und warmes.
Raphaels Augen weiteren sich.
"Bist du sicher, dass du ein Mensch bist?" Flüsterte ich.
Wie hypnotisiert strich ich weiter mit den Fingern über das Gefieder. Eine Wärme breitete sich von meinen Fingerspitzen aus in meinen gesamten Körper aus.
Raphael wich vor mir zurück und der Wärmestrohm erlosch. Ich begann zu zittern und im meinen Ohren begann es zu hämmern. Ich konnte noch einen Blick auf Raphaels geschocktes Gesicht werfen, bevor mir schwarz vor Augen wurde.


*Ich habe das Gefühl zu schweben. Meine Haare wehen im Wind und meine Wange berührt etwas warmes.  Dann verschluckt mich wieder eine Schwarze Wolke.*

6 Monate später

Meine Therapeutin blickt mich forschend an währen meine Augen durch das gemütlich eingerichtete Zimmer wandern und Mal hier, mal dort hängen blieben.
Seit 3 Monaten kam ich nun jede Woche einmal hier her und nie veränderte sich irgendetwas. Beruhigend beständig blieb alles an seinem Platz. Vermutlich genau, um dieses beruhigende Gefühl bei den Patienten auszulösen.
Nachdem ich in einem Krankenhaus aufgewacht und dann 3 Monate dort unter strenger Aufsicht verbracht und auf Medikamente eingestellt worden war, waren die Ärzte der Meinung, dass ich wieder im Stande sei, mich in der realen Welt zu versuchen. Zugegeben, seit ich die Medikamente nehme, geht es in meinem Kopf wieder wesentlich ruhiger und klarer zu, doch ein Schock war es trotzdem.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich von der Brücke ins Krankenhaus gekommen bin. Mir wurde nur gesagt, dass ein junger Mann plötzlich mit mir im Arm im Krankenhaus aufgetaucht sei und erzählt hatte, dass er mich davon abgehalten hätte, vom der Falls Bridge zu springen.
Dann war er verschwunden.

"Und?" fragt sie mich sanft. "Wie liefen Ihre ersten Tage bei der Arbeit?"
Ja, wie liefen die ersten Tage eigentlich? Abgesehen davon, dass meine Kollegen mich behandelten, wie ein rohes Ei und ich andauernd ihre Blicke auf mir spürte, erstaunlich gut. Wobei meine Definition von "gut"  wohl auch nicht der, der Meisten anderen Menschen entspricht.
"Zumindest habe ich es hin geschafft." Sage ich also und denke daran, wie ich noch vor ein paar Monaten Tage lang nicht wirklich aus dem Bett gekommen war. Da war die Tatsache, dass ich es sogar aus dem Haus und zur Arbeit geschafft hatte doch wirklich erstaunlich.
Dr. Stone lächelt. "Es ist gut, dass sie ihren eigenen Fortschritt anerkennen aber ich denke, da geht noch mehr. Was lief denn noch gut?"
Typisch. Jetzt soll ich wieder Dinge aufzählen, die für jeden normalen Menschen kein Problem sind und mir dafür selbst auf die Schulter klopfen.
Aber ich tue ihr den gefallen.
"Ich habe nicht auf der Toilette geheult, habe einigermaßen regelmäßig etwas ordentliches gegessen und..." Drei, es müssen immer drei Dinge sein, sonst gibt sie sich nicht zufrieden... "ich hab nicht versucht von einer Brücke zu springen." Beende ich meine Aufzählung.
Meine Therapeutin zieht eine Augenbraue hoch. Ich hasse es, wenn Menschen das können. Vor allem für eine Psychiaterin ist das doch viel zu sehr Klischee oder gibt es auf der Uni ein eigenes Seminar dafür?
Ich gucke mit den Schultern und sie schreibt etwas auf ihr Klemmbrett.
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Draußen wirbeln große Schneeflocken umher und bedecken nach und nach die Dächer der Stadt mit einer weichen weißen Decke. Ein Bild von etwas anderem, was auch schneeweiß und weich war, drängt sich in meine Gedanken, schnell schüttel ich den Kopf und wende mich vom Fenster ab. Ich muss den Gedanken daran los werden. Mein Gehirn hat mir damals Streiche gespielt. Lizzi an Hirn, du bekommt doch jetzt Drogen also funktioniere jetzt doch bitte.
Dr. Stone ist mein Kopfschütteln nicht entgangen, interpretiert es jedoch falsch.
"Es ist keine Schande, sich zu Dingen zu gratulieren, die anderen Menschen leicht fallen. Die meisten würden es nicht als großen Erfolg ansehen, den vergangenen Tag überstanden zu haben, ohne versucht zu haben, von einer Brücke zu springen. Für Sie ist das jedoch ein Fortschritt. Und auch den alltägliche Gang zur Arbeit zu bewältigen kann ein Erfolgserlebnis sein, für das man sich nicht schämen muss."
Ich nicke. Im Grunde weiß ich, dass sie Recht hat. Ich bin wieder in der Lage, mein Leben einigermaßen normal zu leben und im Gegensatz zu dem, wie ich meine Tage noch vor ein paar Monaten verbracht habe, ist es definitiv ein Fortschritt, wieder zur Arbeit zu gehen, meine Freunde zu sehen, einkaufen zu gehen und nicht gleich von der nächsten Brücke springen zu wollen.
"Ein Hoch auf die Antidepressiva."  Ich seufzte.
"Das lässt sich nicht nur auf die Medikamente reduzieren." Sagt sie und schreibt wieder etwas auf. Vermutlich so etwas wie "anhaltender Sarkasmus".
"Sie haben sich da heraus gekämpft, es werden noch einige Schlachten kommen und der Krieg ist noch nicht gewonnen aber zumindest haben sie jetzt einen Vorsprung."
Ich muss lachen. Ihre Metapher ist definitiv zu kriegerisch angehaucht für meinen Geschmack. Ich habe nicht das Gefühl, gut bewaffnet  geschweige den, stark genug für einen Krieg  zu sein. Andererseits habe ich vor 3 Monaten kapituliert und sitze jetzt trotzdem hier. Anders als in herkömmlichen Kriegen hat mein ganz persönlicher Krieg nicht einmal das Menschenleben gefordert, dass sich so bereitwillig geopfert hätte. Welch Ironie.

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⏰ Last updated: Jun 03, 2020 ⏰

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Ein Engel?Where stories live. Discover now